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Eine Neuinterpretation des intellektuellen Weges von Walter Benjamin.Jahrzehntelang sind Walter Benjamins Texte unter dem Aspekt des Gegensatzes zwischen materialistischem und jüdischem Denken diskutiert worden. Dabei wurde die einzige Sphäre, die ihm tatsächlich lebenslang gegenwärtig war, in der er »ganz zu Hause« war, beiseite geschoben - jene ästhetische, politische, kunst-religiöse Welt, die den Jahren vor und nach dem europäischen Zusammenbruch von 1914-1918 ihre Prägung gab und die mit den Namen Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt verbunden wird. Wie kritisch…mehr

Produktbeschreibung
Eine Neuinterpretation des intellektuellen Weges von Walter Benjamin.Jahrzehntelang sind Walter Benjamins Texte unter dem Aspekt des Gegensatzes zwischen materialistischem und jüdischem Denken diskutiert worden. Dabei wurde die einzige Sphäre, die ihm tatsächlich lebenslang gegenwärtig war, in der er »ganz zu Hause« war, beiseite geschoben - jene ästhetische, politische, kunst-religiöse Welt, die den Jahren vor und nach dem europäischen Zusammenbruch von 1914-1918 ihre Prägung gab und die mit den Namen Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt verbunden wird. Wie kritisch Benjamin dieser Welt in wechselnden Lebensphasen auch gegenüberstand, sie war und blieb der verborgene Maßstab seines Denkens. Borchardt (1877-1945) und Benjamin (1892-1940) haben einander nicht gekannt, einander nicht geschrieben, und während der Weimarer Republik gehörten sie zu vollkommen unterschiedlichen, ja gegnerischen Lagern in Politik und Literatur. Von Benjamins Hand stammt eine der härtesten Verurteilungen Borchardts: »Er hat statt des Herzens eine Kugel im Leibe.« Was dieses Urteil aber eigentlich bedeutet, und wodurch es hervorgerufen wurde, das blieb im Dunkel. Und doch kann auch diese versäumte Beziehung sprechend werden, geht man nur allen ihren Spuren nach.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Wolfgang Matz, geb. 1955, lebte von 1987 bis 1995 in Poitiers (Frankreich), wo er am Institut für deutsche Sprache und Literatur lehrte und als Literaturübersetzer tätig war; von 1995 bis 2020 arbeitete er als Verlagslektor in München. Als Übersetzer französischer Prosa und Lyrik wurde er mit dem Paul Celan- und dem Petrarca-Preis ausgezeichnet.Veröffentlichungen u. a.: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter: Die Entdeckung der modernen Literatur (2021); Frankreich gegen Frankreich. Die Schriftsteller zwischen Literatur und Ideologie (2017); Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge (2016); Die Kunst des Ehebruchs. Emma, Anna, Effi und ihre Männer (2014); Eine Kugel im Leibe. Walter Benjamin und Rudolf Borchardt: Judentum und deutsche Poesie (2011).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2011

Für das Amt des wegweisenden Dichters war kein Kandidat mehr tauglich
Zwischen Walter Benjamin und Rudolf Borchardt und immer mit Blick auf Stefan George: Wolfgang Matz zeigt, wie musterhafte intellektuelle Biographik aussieht

Als vor drei Jahren Ulrich Raulffs Studie zum Nachleben Stefan Georges erschien, fühlten wir uns über weite Strecken wie im Gruselkabinett. Wenn die manischen Enthusiasten, die da aus dem Dunkel des Vergessens heraufgeführt wurden, tatsächlich Georges gespenstische Nachhut waren, konnte man nur drei Kreuze schlagen. Ein bisschen unwohl fühlte man sich zwar schon bei dem Gedanken, dass die Erben der steilsten aller deutschen Dichterphantasien ausgerechnet jene griechenbegeisterten Bildungsreformer sein sollten, deren pädagogische Bemühungen direkt in die Dachkammern der Odenwaldschule führten. Aber da Raulff der Frage, wie sich Nachfolge eigentlich legitimiert, beharrlich aus dem Weg ging und sich auch auf eine Diskussion des Begriffs Wirkungsgeschichte nicht einließ, waren methodische Einwände von vornherein fehl am Platz.

Einen ganz anderen Weg Georgescher Rezeption beschreitet jetzt Wolfgang Matz. Strenggenommen ist "Eine Kugel im Leibe" zwar kein Buch über George, ja, George kommt nicht einmal im Untertitel vor, aber "der Name Stefan George grundiert als basso continuo alle in Rede stehenden Dokumente" dieser so schmalen wie aufregenden Studie. In ihrem Mittelpunkt steht Walter Benjamin. Mit seiner radikalen Neuinterpretation der geistigen Koordinaten dieses Denkers führt Matz mustergültig vor, was eine "intellektuelle Biographie" zu leisten vermag, wenn ein Autor sich auf das Wagnis einlässt, vom Hauptweg abzuweichen und ein wenig durchs Unterholz zu streifen.

Die dramatis personae neben Benjamin sind: Gerhard Scholem, Werner Kraft, Rudolf Borchardt und Hugo von Hofmannsthal. Am Anfang steht der gemeinsame Kampf von Scholem und Benjamin um den jungen Werner Kraft, den sie im Juli 1915 in Berlin kennen lernten. Als der neunzehnjährige Kraft wenig später zum Sanitätsdienst eingezogen wurde, geriet er in eine tiefe Krise und wandte sich hilfesuchend an Rudolf Borchardt, den er nicht nur für den größten deutschen Dichter hielt, sondern auch für den Einzigen, der ihm den Sinn des Krieges erklären konnte. Borchardt warf sich in Pose und formulierte ein paar platte Durchhalteparolen. Benjamin und Scholem waren entsetzt: Borchardt habe "statt des Herzens eine Kugel im Leibe".

Für Benjamin lag hier nicht einfach nur menschliches Versagen vor. Er konstatierte vielmehr eine "objektive Verlogenheit", die darauf zurückzuführen sei, dass Borchardt einen Rang beanspruche, der ihm nicht zukomme. Sein ganzes Werk erweise sich als der Versuch, so etwas wie den öffentlich bestellten Verwalter des deutschen "Geist- und Sprachguts" zu geben. Dieses Amt aber könne vorläufig nicht besetzt werden, und deshalb sei alles an Borchardt Lüge. "Er hat sich auf einen Turm von Lüge gestellt, um von der verlogenen Menge seiner Zeit gesehn zu werden."

Der Einzige, dem Benjamin zugetraut hätte, den Deutschen wieder "einen Typus hinzustellen, den sie nicht haben, noch nicht haben können", wäre Stefan George gewesen. Aber seit dieser sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges zum Propheten seiner selbst ausgerufen und damit den gleichen Fehler begangen hatte wie Borchardt, nämlich sich der Geschichte als eines Organs zur Durchsetzung der eigenen Interessen zu bedienen, kam er in Benjamins Augen als Kandidat für das Amt des Dichters als Führer nicht mehr in Frage.

Während es George immer stärker ins Politische trieb, bezog Benjamin eine Position, "die man als Radikalisierung derjenigen bezeichnen kann, die George geräumt hatte". Auch für ihn wurde George jetzt "historisch". Aber anders als Borchardt, der dies bereits 1909 dekretiert und sich dabei geschickt als potentieller Nachfolger gleich selber ins Spiel gebracht hatte, dachte Benjamin nicht daran, George zu entsorgen, der ihm in ästhetischer wie ethischer Hinsicht auch weiterhin Maßstab blieb. Alles, was dem Dichter aus Sicht Benjamins fehlte, war ein ihm adäquater Kritiker, und in Benjamins Selbstverständnis kam dafür kein anderer in Betracht als er selbst.

Noch im Mai 1940 machte Benjamin in einem langen Brief an Adorno unmissverständlich klar, dass er, Benjamin, sich in der Welt Georges "ganz zu Hause fühle" und es deshalb dem Freund nicht durchgehen lassen könne, dass der in seinem an sich begrüßenswerten Essay zur "Rettung" Georges die für diesen Dichter so zentrale Kategorie der Haltung als bloße "Schau" denunziert habe. Auf Haltung stoße man nämlich immer da, "wo die essentielle Einsamkeit eines Menschen in unser Blickfeld rückt". Geschrieben wenige Monate vor seinem Freitod an der französisch-spanischen Grenze, kulminiert in diesem Satz eine lebenslange Überidentifikation Benjamins mit der Gestalt Georges, die in der unerbittlichen Kritik an den ideologischen Verirrungen der George-Schule nur ihre letzte Bestätigung fand.

Als 1924/25 in Hofmannsthals "Neuen Deutschen Beiträgen" Benjamins Wahlverwandtschaften-Aufsatz erschien, trieb die Auseinandersetzung ihrem vorläufigen Höhepunkt zu. Benjamin hoffte, dass die Georgeaner die Zerstörung ihres Goethe-Bildes in der Zeitschrift des Erzrivalen nicht kampflos würden hinnehmen können. Hofmannsthal wiederum, der 1902 von Borchardt in eine strapaziöse Zweckgemeinschaft gelockt worden war, deren erklärtes Ziel die Zurückdrängung des bewunderten Vorbildes hätte sein sollen, dürfte nicht nur der Angriff auf die George-Schule heimliches Vergnügen bereitet haben, sondern auch Benjamins subtil versteckte Kritik an Borchardt. Wer den entscheidenden Satz gegen ihn im Manuskript strich, der Autor in einem Akt von Selbstzensur oder der Herausgeber mit Rücksicht auf den Kampfgefährten, muss offenbleiben.

Am Ende blieb Borchardt das Zerrbild, der geniale Imitator Georges. Die Auseinandersetzung mit ihm war für Benjamin in erster Linie eine Selbstvergewisserung über seine eigene Kunstreligion, deren Muster durch George vorgegeben war. Was Borchardts Charakter anging, war der Fall ohnehin klar. Auch in diesem Punkt hätte Benjamin schnell Übereinkunft mit George erzielt, der noch 1931 äußerte, Borchardt sei so schmierig, dass er, würde man ihn an die Wand klatschen, nicht einmal kleben bliebe. Hannah Arendt hat es nach dem Krieg in einem Brief an Scholem etwas vornehmer ausgedrückt, indem sie riet, die Finger von Borchardt zu lassen. "Der Bursche ist einfach zu pathologisch, um für irgend etwas repräsentativ zu sein." Wolfgang Matz ist es zu verdanken, dass der pseudorepräsentative Bursche, an die Wand gepinnt von Walter Benjamin, jetzt wenigstens kleben bleibt.

THOMAS KARLAUF

Wolfgang Matz: "Eine Kugel im Leibe". Walter Benjamin und Rudolf Borchardt. Judentum und deutsche Poesie.

Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 170 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Vornehmste Aufgabe eines Philologen, eine jüdische Intellektuellen-Existenz zu rekonstruieren, meint Heinz Schlaffer. Bei Wolfgang Matz kommt für ihn erfreulicherweise hinzu, dass der Autor zwar einzelne Aussagen zu Themen, zu sprechenden Bildern zu präzisieren vermag, die weder Walter Benjamin noch Rudolf Borchardt so vor Augen gestanden haben mögen, es aber nicht darauf anlegt, zu entlarven und zu verurteilen. Schlaffer erkennt so die sternische Verbindung, die tiefe Verwandtschaft der beiden Zeitgenossen, die sich doch nie begegnet sind.

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