Um der Kulturwissenschaft das Verenden im Kulturmanagement zu ersparen, hilft nur ein Rückgang zur eigenen Geschichte. Mit kulturwissenschaftlicher, also nicht ideengeschichtlicher Methode versuchen fünf Kapitel, den zweihundertjährigen Weg von Giambattista Vico wenigstens bis Martin Heidegger nachzugehen. Das heißt auch, die Gründerhelden der Kulturwissenschaft kulturhistorisch zu verorten: als Professoren, Beamte, Kolonisten usw. Das erste Kapitel rekonstruiert, wie Vico die Kulturwissenschaft in Frontstellung gegen die cartesische Mathematik der Natur gründete und schon darum bis Herder, Volney und Hegel auf Geschichtsphilosophie festlegte. Das zweite stellt Schriftsteller wie Flaubert und Kulturwissenschaftler wie Victor Hehn vor, die aus den undenkbaren Resten des Deutschen Idealismus unseren Begriff von Alltagskultur gewonnen haben. Das dritte Kapitel über Nietzsche behandelt die Tragödie eines Denkens, das diese kulturwissenschaftliche Historisierung aller Grundbegriffe zunächst wieder in Philosophie, zuletzt aber in große Politik umzumünzen suchte. Die letzten zwei Kapitel schließlich sind den Folgen gewidmet, die diese Tragödie noch im zwanzigsten Jahrhundert gezeitigt hat. Freuds Psychoanalyse und Frazers Ethnologie stehen dabei für Unternehmen, Nietzsches Traum und Nietzsches Rausch in empirische Kulturwissenschaften zu überführen, Heideggers Denken für das umgekehrte Unternehmen, die große Kulturpolitik als Gigantomachie des Seins selber zu vollenden. Heute glauben wir dagegen zu wissen, daß Kulturen sind, ohne grundlose Gründe zu haben. Das hat dieses Buch möglich, aber auch unvollständig gemacht. Kulturwissenschaften unter Bedingungen von Technologie und Mathematik, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich und Amerika entstanden sind, bleiben einer möglichen Fortsetzung vorbehalten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2001Die Kulturwelt als Wille zur Vorlesung
Über Flachköpfe und andere Bildungsbeflissene: Friedrich Kittler tunkt zur erfrischenden Erklärung der Kulturwissenschaft seinen Sprengkopf ins heilig-nüchterne Wasser
Anmaßung zählt wohl mit zu den Gründen, warum der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler ein Buch schreibt. Was vermeintliche Wissenschaftsgreise jemals über einen der kanonischen Texte zusammentrugen, hat er in seinen Veröffentlichungen seit den achtziger Jahren mit der unerzogenen Leichtigkeit eines Frühbegabten vom Katheder stoßen wollen. Seit seiner Habilitation über "Aufschreibesysteme" (1985) weiß man, daß er die Grundlagen eines Fachs so lange in ein einfallsreich schiefes Licht stellt, bis ihre Konturen verschwimmen. Dann aber ist kein Halten mehr: Die Wissenschaft lernt von neuem das Buchstabieren, Lyrik klappert im Rhythmus der Schreibmaschine, die Transistoren summen prosaisch. Kittler hatte die Steckdose für die Germanistik entdeckt, und vorbei war es mit dem Fackelzug durch Antikensäle. Kaum ein anderer Autor hat so lustvoll düpiert, kaum ein anderer aus positivistischen Kieselsteinen so helle theoretische Funken geschlagen. Die Neuerfindung der Philologie als Medienwissenschaft: Unterhalb des Ganzen war für Kittler nichts zu machen. Dem wissenschaftlichen Interesse am Weltkrieg entsprach sein Versuch, die Fronten des Fachs in Bewegung zu bringen. Einen unmittelbar mehrheitsfähigen Satz zu schreiben, dürfte er immer als Niederlage verstanden haben.
Nun hat dieses Enfant incompatible eine "Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft" veröffentlicht. Auferstanden ist damit die sieche Gattung der Einführung, die in den letzten Jahren zur Arbeitsbeschaffungsmaßnahme des akademischen Mittelbaus verkommen ist. Mit deren Betulichkeit hat Kittlers Buch nichts gemein. Es ist von konsequenter Geradlinigkeit in seinen Vorlieben, kennt keine Rücksichten in der Feinderklärung und darf sich im Bewußtsein seiner Klugheit auch Unverschämtheiten erlauben. Kulturwissenschaft hat mit dieser Berliner Vorlesung Kittlers ein Programm.
Natürlich ist einzuräumen, daß Kritik an solch exponierter Einseitigkeit leicht zu haben ist. Die Vorlesung endet um 1945, unterschlägt also die Wiedergeburt des Fachs aus dem Geist der französischen Theorie. Ohne die strukturale Anthropologie und Foucaults Archivgestöber weist Kittlers eigene, diskursanalytische Vorgeschichte eine Lücke auf. Deshalb hat er eine Fortsetzung versprochen, die der Leser - schon aus Eigennutz - ihm nicht erlassen sollte. Auch das Fehlen eigentlich unverzichtbarer Namen wäre Anlaß zu kopfschüttelnder Bedenklichkeit: Kein Kapitel über Walter Benjamin, der zwischen Gaslicht und Einkaufspassage das neunzehnte Jahrhundert doch erst erfunden hat! Und vor allem nicht einmal eine Fußnote über Aby Warburg und seine Schule, mit der die Antike plötzlich aus dem modernen Alltag aufschien und das bewegte Beiwerk bis auf Reklameschilder gelangte.
Kittlers Nachlässigkeit gegenüber diesen Berühmtheiten hat System: Kleine Namen vergessen nur kleine Leute. Und manche Autorität darf nur deshalb namentlich im Buch auftauchen, damit an ihr die Kunst der Beleidigung geübt wird: John Locke? Ein "Flachkopf". Adorno? Der "dümmste" aller Heidegger-Kritiker. Und gar Rousseau? Der "dümmste, paranoischste und folglich politisch folgenreichste aller Aufklärer". Man muß solche Ungerechtigkeiten als Stilprinzip erkennen, um die Lektüre nicht voreilig abzubrechen. Erst dann erkennt man den strengen Plan, mit dem Kittler eine Geschichtsphilosophie der Kulturwissenschaft zeichnet, die in der Medienkunde zu sich selbst kommt. Die Moderne nimmt auf Kittlers Lehrstuhl Platz. Das ist anmaßend, anregend und immer mit überraschenden Gründen belegt. Die Grobheit ist dosiert, um mit ihrer Hilfe das schwankende Fach zu festigen. Seine Maßlosigkeit gründet in der Selbstdisziplin. Wer derart in heilige Wut verfallen kann, hat zumindest etwas zu sagen.
Die zwölf Vorlesungen - vorbildlich für die Lehre durchgearbeitet - schreiten im dialektischen Dreischritt voran. Den Anfang macht Vico mit dem "Paukenschlag der Verkündigung" einer "Scienza Nuova" (1744), der bis in Hegels Todesjahr 1831 nachhallt. Ihre Präambel ist Vicos Behauptung, der Mensch könne nur erkennen, was er selbst geschaffen habe. In Frontstellung gegen Descartes' geometrisches Subjekt ist dieser Satz entstanden, doch bleibt er dem Gegner gerade in seiner Umkehrung verpflichtet. Denn den Abschied, den Vico der göttlichen und also unerkennbaren Natur erteilt, ist nicht durchzuhalten: Kulturwissenschaft muß als "Reflexionswissenschaft" auch ein durchdachtes Verhältnis zur Natur einnehmen. Dies holt Herder nach, der mit der mangelhaften Instinktbestimmung des Menschen eine ganzheitliche Anthropologie begründet: Wer hilflos und nackt auf die Welt kommt, muß sich für Herder bis ins Grab strebend bemühen. Der Bildungsauftrag schwört die vereinzelten Zweibeiner zur einen Menschheit zusammen: Damit "wird die Kulturwissenschaft Kulturgeschichte".
Mit anderen Worten: Kulturgeschichte bezeichnet nur eine skrupulösere Spielart der Geschichtsphilosophie, und Kittler ist ihr kundiger Prophet, Vollstrecker und Weltgeistbeauftragter. Wer derart die maschinengetriebene Vernunft zum Geschichtshorizont fahren sieht, für den ist die Nachbarschaft mit dem Dozenten Hegel an der Berliner Universität kein Zufall. Gleich nebenan, so erfährt der in die Vorlesung hineingezogene Leser, habe der "größte Kulturwissenschaftler unserer Universität" in Hörsaal 6 sein System für Stein errichtet, hier habe die Weltgeschichte ihre endgültige Romanform gefunden, Gipfel und Ende zugleich. Kittlers Ironie ist dabei nur eine Spielart der vorbehaltlosen Verehrung wie der Ernsthaftigkeit. Ihm gelingt es auf durchweg beeindruckende Weise, Hegels idealistische Denkoperatoren mit seinen eigenen Steckenpferden - etwa dem preußischen Beamten als examensbeständiger Vernunft - zu kreuzen. Deshalb ist Hegels nahezu zeitgleiches Sterben mit dem anderen Klassiker Goethe ein Anlaß zur Trauer, den die Nachgeborenen zu spüren bekommen. Unerbittlich ist Kittler in seiner Geringschätzung des neunzehnten Jahrhunderts. Was auf Hegel kulturwissenschaftlich folgt, ist wert, daß es in der Nacherzählung noch einmal zugrunde geht.
Kittlers Brandzeichen für diese zweite Periode der Kulturwissenschaft ist der Backofen: Ihn habe, so klagt er beredt, dieses von allem spekulativen Geist verlassene Jahrhundert so aufmerksam erforscht wie das vorhergehende die Vernunft. Alles, was Kittler an der Inventarisierung von Haushaltsgegenständen nicht mag, steckt er dorthinein. Mit schnellen, also verächtlichen Schritten durcheilt er die "empirische Altmüllsammlung", die nach Hegels Tod aus den Archiven theorielos zusammengetragen wurde: Wilhelm Heinrich Riehl habe sich melancholisch in der Rekonstruktion des "Ganzen Hauses" verloren, Jacob Burckhardt biedermeierlich den Krieg vom Schweizer Boden ferngehalten, Victor Hehn sentimentalisch seine Nutzpflanzen gezüchtet. Sie alle sind in Kittlers Augen ideenverlassene Kinder des großen Hegel, der die Hand von ihnen abgezogen hat. Warum und zu welchem Ende man Kulturwissenschaft studiert, hat dann erst wieder ein dynamitgewordener Denker erklärt.
Mit Nietzsche tritt die Kulturwissenschaft in ihre dritte Phase ein: Aus dem interesselosen Sammeln wird machtbewußte Kulturpolitik. Interpretationen arbeiten geschichtsmächtig, die "chaotische Datenmenge" der Archivare wird zu einer "Kulturwissenschaft des Ereignisses" hochgerüstet. Hier zieht der dionysische Rausch ins Denken ein, der auf den Leser epidemisch übergreifen will. Erst wo der Rausch sublimiert werden kann - von der Form des Denkens also zu ihrem Gegenstand wird -, bleibt er für die Wissenschaft anschlußfähig. Dies gelingt Freuds Psychoanalyse. Mit ihrer Coucharbeit anästhetisiert sie die Hypermotorik des Patienten, drückt ihn ins Kissen und erklärt den Traum zur einzig erlaubten Weise der Wunscherfüllung. Doch Freud wie Kittler haben am "Geplapper des Gesindels" nicht genug. Eine Zivilisationstheorie muß hinzukommen, mit der die Psychoanalyse wieder Zutritt zu den großen Denkgebäuden erhält. Dafür habe Freud, so Kittler, ethnologische Märchenerzähler wie James George Frazer durchforstet, bis die Urhorde für ihn Gestalt gewinnt. Der Rest ist "Mythenkontamination".
Ein Kittlersches Buch wäre unvollständig, wenn es am Ende nicht technikbegeistert die Ankunft des "Prothesengotts" (Freud) beschwören könnte. Das letzte Kapitel endet mit einer "bedingungslosen Liebeserklärung" an Person und Philosophie Heideggers. Hier erst findet Kittler das Sein auf eine Weise historisiert, in der große Theorie und kleine Apparate zusammenkommen. Sei es, daß Heideggers Schrift "Sein und Zeit" (1927) die neue Artilleriebewegung des Ersten Weltkriegs aufgreift oder erst der Rundfunk das Dasein entbirgt: Kittler gräbt sich so lange in Heideggers Denkbewegung ein, bis er sein erlösendes Ende gefunden hat: "Ontologie, könnte man zu sagen wagen, fällt schlußendlich mit Kulturwissenschaft zusammen." Mehr ist nicht zu verlangen.
Kittlers Buch - und das macht seine Lektüre zu einem lohnenden Abenteuer - ist von rauschhafter Nüchternheit. Hier arbeitet ein Philologe mit kontrollierter Besessenheit an seinem Auftrag, "heilige Texte ihrer Geschichte zurückzugeben". Bei soviel Unternehmungslust landet mancher Sprung im Schützengraben - doch die Gelenke sind durch alteuropäische Begriffsgymnastik vorbereitet: Das Genialische lebt hier nicht aus zweiter Hand. Seine Aversion gegen die Cultural Studies als einer akademischen Bankrotterklärung macht das Kittlersche Verständnis von Kulturwissenschaft zu einem aufregenden Konservativismus. "German Geistesgeschichte" - so der Titel einer Kittlerschen Vorlesung 1981 in den Vereinigten Staaten - bietet noch Entdeckungen. Die Philologie ist noch nicht am Ende.
THOMAS WIRTZ
Friedrich Kittler: "Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft". Wilhelm Fink Verlag, München 2000. 260 S., br., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Über Flachköpfe und andere Bildungsbeflissene: Friedrich Kittler tunkt zur erfrischenden Erklärung der Kulturwissenschaft seinen Sprengkopf ins heilig-nüchterne Wasser
Anmaßung zählt wohl mit zu den Gründen, warum der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler ein Buch schreibt. Was vermeintliche Wissenschaftsgreise jemals über einen der kanonischen Texte zusammentrugen, hat er in seinen Veröffentlichungen seit den achtziger Jahren mit der unerzogenen Leichtigkeit eines Frühbegabten vom Katheder stoßen wollen. Seit seiner Habilitation über "Aufschreibesysteme" (1985) weiß man, daß er die Grundlagen eines Fachs so lange in ein einfallsreich schiefes Licht stellt, bis ihre Konturen verschwimmen. Dann aber ist kein Halten mehr: Die Wissenschaft lernt von neuem das Buchstabieren, Lyrik klappert im Rhythmus der Schreibmaschine, die Transistoren summen prosaisch. Kittler hatte die Steckdose für die Germanistik entdeckt, und vorbei war es mit dem Fackelzug durch Antikensäle. Kaum ein anderer Autor hat so lustvoll düpiert, kaum ein anderer aus positivistischen Kieselsteinen so helle theoretische Funken geschlagen. Die Neuerfindung der Philologie als Medienwissenschaft: Unterhalb des Ganzen war für Kittler nichts zu machen. Dem wissenschaftlichen Interesse am Weltkrieg entsprach sein Versuch, die Fronten des Fachs in Bewegung zu bringen. Einen unmittelbar mehrheitsfähigen Satz zu schreiben, dürfte er immer als Niederlage verstanden haben.
Nun hat dieses Enfant incompatible eine "Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft" veröffentlicht. Auferstanden ist damit die sieche Gattung der Einführung, die in den letzten Jahren zur Arbeitsbeschaffungsmaßnahme des akademischen Mittelbaus verkommen ist. Mit deren Betulichkeit hat Kittlers Buch nichts gemein. Es ist von konsequenter Geradlinigkeit in seinen Vorlieben, kennt keine Rücksichten in der Feinderklärung und darf sich im Bewußtsein seiner Klugheit auch Unverschämtheiten erlauben. Kulturwissenschaft hat mit dieser Berliner Vorlesung Kittlers ein Programm.
Natürlich ist einzuräumen, daß Kritik an solch exponierter Einseitigkeit leicht zu haben ist. Die Vorlesung endet um 1945, unterschlägt also die Wiedergeburt des Fachs aus dem Geist der französischen Theorie. Ohne die strukturale Anthropologie und Foucaults Archivgestöber weist Kittlers eigene, diskursanalytische Vorgeschichte eine Lücke auf. Deshalb hat er eine Fortsetzung versprochen, die der Leser - schon aus Eigennutz - ihm nicht erlassen sollte. Auch das Fehlen eigentlich unverzichtbarer Namen wäre Anlaß zu kopfschüttelnder Bedenklichkeit: Kein Kapitel über Walter Benjamin, der zwischen Gaslicht und Einkaufspassage das neunzehnte Jahrhundert doch erst erfunden hat! Und vor allem nicht einmal eine Fußnote über Aby Warburg und seine Schule, mit der die Antike plötzlich aus dem modernen Alltag aufschien und das bewegte Beiwerk bis auf Reklameschilder gelangte.
Kittlers Nachlässigkeit gegenüber diesen Berühmtheiten hat System: Kleine Namen vergessen nur kleine Leute. Und manche Autorität darf nur deshalb namentlich im Buch auftauchen, damit an ihr die Kunst der Beleidigung geübt wird: John Locke? Ein "Flachkopf". Adorno? Der "dümmste" aller Heidegger-Kritiker. Und gar Rousseau? Der "dümmste, paranoischste und folglich politisch folgenreichste aller Aufklärer". Man muß solche Ungerechtigkeiten als Stilprinzip erkennen, um die Lektüre nicht voreilig abzubrechen. Erst dann erkennt man den strengen Plan, mit dem Kittler eine Geschichtsphilosophie der Kulturwissenschaft zeichnet, die in der Medienkunde zu sich selbst kommt. Die Moderne nimmt auf Kittlers Lehrstuhl Platz. Das ist anmaßend, anregend und immer mit überraschenden Gründen belegt. Die Grobheit ist dosiert, um mit ihrer Hilfe das schwankende Fach zu festigen. Seine Maßlosigkeit gründet in der Selbstdisziplin. Wer derart in heilige Wut verfallen kann, hat zumindest etwas zu sagen.
Die zwölf Vorlesungen - vorbildlich für die Lehre durchgearbeitet - schreiten im dialektischen Dreischritt voran. Den Anfang macht Vico mit dem "Paukenschlag der Verkündigung" einer "Scienza Nuova" (1744), der bis in Hegels Todesjahr 1831 nachhallt. Ihre Präambel ist Vicos Behauptung, der Mensch könne nur erkennen, was er selbst geschaffen habe. In Frontstellung gegen Descartes' geometrisches Subjekt ist dieser Satz entstanden, doch bleibt er dem Gegner gerade in seiner Umkehrung verpflichtet. Denn den Abschied, den Vico der göttlichen und also unerkennbaren Natur erteilt, ist nicht durchzuhalten: Kulturwissenschaft muß als "Reflexionswissenschaft" auch ein durchdachtes Verhältnis zur Natur einnehmen. Dies holt Herder nach, der mit der mangelhaften Instinktbestimmung des Menschen eine ganzheitliche Anthropologie begründet: Wer hilflos und nackt auf die Welt kommt, muß sich für Herder bis ins Grab strebend bemühen. Der Bildungsauftrag schwört die vereinzelten Zweibeiner zur einen Menschheit zusammen: Damit "wird die Kulturwissenschaft Kulturgeschichte".
Mit anderen Worten: Kulturgeschichte bezeichnet nur eine skrupulösere Spielart der Geschichtsphilosophie, und Kittler ist ihr kundiger Prophet, Vollstrecker und Weltgeistbeauftragter. Wer derart die maschinengetriebene Vernunft zum Geschichtshorizont fahren sieht, für den ist die Nachbarschaft mit dem Dozenten Hegel an der Berliner Universität kein Zufall. Gleich nebenan, so erfährt der in die Vorlesung hineingezogene Leser, habe der "größte Kulturwissenschaftler unserer Universität" in Hörsaal 6 sein System für Stein errichtet, hier habe die Weltgeschichte ihre endgültige Romanform gefunden, Gipfel und Ende zugleich. Kittlers Ironie ist dabei nur eine Spielart der vorbehaltlosen Verehrung wie der Ernsthaftigkeit. Ihm gelingt es auf durchweg beeindruckende Weise, Hegels idealistische Denkoperatoren mit seinen eigenen Steckenpferden - etwa dem preußischen Beamten als examensbeständiger Vernunft - zu kreuzen. Deshalb ist Hegels nahezu zeitgleiches Sterben mit dem anderen Klassiker Goethe ein Anlaß zur Trauer, den die Nachgeborenen zu spüren bekommen. Unerbittlich ist Kittler in seiner Geringschätzung des neunzehnten Jahrhunderts. Was auf Hegel kulturwissenschaftlich folgt, ist wert, daß es in der Nacherzählung noch einmal zugrunde geht.
Kittlers Brandzeichen für diese zweite Periode der Kulturwissenschaft ist der Backofen: Ihn habe, so klagt er beredt, dieses von allem spekulativen Geist verlassene Jahrhundert so aufmerksam erforscht wie das vorhergehende die Vernunft. Alles, was Kittler an der Inventarisierung von Haushaltsgegenständen nicht mag, steckt er dorthinein. Mit schnellen, also verächtlichen Schritten durcheilt er die "empirische Altmüllsammlung", die nach Hegels Tod aus den Archiven theorielos zusammengetragen wurde: Wilhelm Heinrich Riehl habe sich melancholisch in der Rekonstruktion des "Ganzen Hauses" verloren, Jacob Burckhardt biedermeierlich den Krieg vom Schweizer Boden ferngehalten, Victor Hehn sentimentalisch seine Nutzpflanzen gezüchtet. Sie alle sind in Kittlers Augen ideenverlassene Kinder des großen Hegel, der die Hand von ihnen abgezogen hat. Warum und zu welchem Ende man Kulturwissenschaft studiert, hat dann erst wieder ein dynamitgewordener Denker erklärt.
Mit Nietzsche tritt die Kulturwissenschaft in ihre dritte Phase ein: Aus dem interesselosen Sammeln wird machtbewußte Kulturpolitik. Interpretationen arbeiten geschichtsmächtig, die "chaotische Datenmenge" der Archivare wird zu einer "Kulturwissenschaft des Ereignisses" hochgerüstet. Hier zieht der dionysische Rausch ins Denken ein, der auf den Leser epidemisch übergreifen will. Erst wo der Rausch sublimiert werden kann - von der Form des Denkens also zu ihrem Gegenstand wird -, bleibt er für die Wissenschaft anschlußfähig. Dies gelingt Freuds Psychoanalyse. Mit ihrer Coucharbeit anästhetisiert sie die Hypermotorik des Patienten, drückt ihn ins Kissen und erklärt den Traum zur einzig erlaubten Weise der Wunscherfüllung. Doch Freud wie Kittler haben am "Geplapper des Gesindels" nicht genug. Eine Zivilisationstheorie muß hinzukommen, mit der die Psychoanalyse wieder Zutritt zu den großen Denkgebäuden erhält. Dafür habe Freud, so Kittler, ethnologische Märchenerzähler wie James George Frazer durchforstet, bis die Urhorde für ihn Gestalt gewinnt. Der Rest ist "Mythenkontamination".
Ein Kittlersches Buch wäre unvollständig, wenn es am Ende nicht technikbegeistert die Ankunft des "Prothesengotts" (Freud) beschwören könnte. Das letzte Kapitel endet mit einer "bedingungslosen Liebeserklärung" an Person und Philosophie Heideggers. Hier erst findet Kittler das Sein auf eine Weise historisiert, in der große Theorie und kleine Apparate zusammenkommen. Sei es, daß Heideggers Schrift "Sein und Zeit" (1927) die neue Artilleriebewegung des Ersten Weltkriegs aufgreift oder erst der Rundfunk das Dasein entbirgt: Kittler gräbt sich so lange in Heideggers Denkbewegung ein, bis er sein erlösendes Ende gefunden hat: "Ontologie, könnte man zu sagen wagen, fällt schlußendlich mit Kulturwissenschaft zusammen." Mehr ist nicht zu verlangen.
Kittlers Buch - und das macht seine Lektüre zu einem lohnenden Abenteuer - ist von rauschhafter Nüchternheit. Hier arbeitet ein Philologe mit kontrollierter Besessenheit an seinem Auftrag, "heilige Texte ihrer Geschichte zurückzugeben". Bei soviel Unternehmungslust landet mancher Sprung im Schützengraben - doch die Gelenke sind durch alteuropäische Begriffsgymnastik vorbereitet: Das Genialische lebt hier nicht aus zweiter Hand. Seine Aversion gegen die Cultural Studies als einer akademischen Bankrotterklärung macht das Kittlersche Verständnis von Kulturwissenschaft zu einem aufregenden Konservativismus. "German Geistesgeschichte" - so der Titel einer Kittlerschen Vorlesung 1981 in den Vereinigten Staaten - bietet noch Entdeckungen. Die Philologie ist noch nicht am Ende.
THOMAS WIRTZ
Friedrich Kittler: "Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft". Wilhelm Fink Verlag, München 2000. 260 S., br., 38,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Nicht erst beim Inhalt beginnt der Streit um die sich in den letzten Jahren immer stärker institutionalisierenden Kulturwissenschaft(en). Bereits im grammatischen Numerus des Begriffs stecken unterschiedliche Konzepte. Für eher harmlos erklärt Uwe Justus Wenzel in seiner Parallelrezension zweier neuer Bände zum Thema die Anhänger des Plural, ihnen geht es, meint er, um "einen Denkhabitus der Offenheit, Elastizität und Lebensweltnähe" ohne revolutionäre Absichten.
1) Böhme, Matussek, Müller "Orientierung Kulturwissenschaft"
Die Vertreter des Kulturwissenschafts-Singulars - eine "kleine und radikale Minderheit" - hingegen wollen, wenigstens, "mehr": Was genau dieses "mehr" ist, hat Wenzel in der "Orientierung Kulturwissenschaft", die bei allem Singular gleich mit drei Autoren daherkommt, dann aber nicht erfahren. Vorgeführt wird, ganz im Gegenteil, das "überaus heterogene Spektrum" der unter dem Dach der Kulturwissenschaft zusammengeführten Disziplinen, Theorien und Methoden. Der nebulöse Hinweis auf ein fächerverbindend vorausgesetztes "historisches Apriori" hilft da jedenfalls, so wenigstens Wenzel, kein bisschen weiter.
2) Kittler "Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft"
Bei Friedrich Kittler dagegen verdankt sich der Singular- und da mischen sich beim Rezensenten Bewunderung und Vorwurf - dem Mut zum Reduktionismus. Hinein tue Kittler in die Kulturwissenschaft einen Kanon von Vico über Hegel und Heidegger bis Turing, mische alles mit ironischen und sarkastischen Randglossen auf - und heraus komme immer wieder kittlertypische Reduktion der Kultur auf Medientechnologie. Gerade der späte Heidegger, der die Technik zum Signum (oder eher: zur Determinationsmacht) unserer Zeit erklärt, kommt da zum Beispiel mehr als gelegen. Eher am Rande weist der Rezensent übrigens darauf hin, dass es ihm nicht um eine Würdigung der von Kittler entworfenen Kulturgeschichte geht, sondern nur um seine Stellungnahme zur Kulturwissenschaft.
© Perlentaucher Medien GmbH
1) Böhme, Matussek, Müller "Orientierung Kulturwissenschaft"
Die Vertreter des Kulturwissenschafts-Singulars - eine "kleine und radikale Minderheit" - hingegen wollen, wenigstens, "mehr": Was genau dieses "mehr" ist, hat Wenzel in der "Orientierung Kulturwissenschaft", die bei allem Singular gleich mit drei Autoren daherkommt, dann aber nicht erfahren. Vorgeführt wird, ganz im Gegenteil, das "überaus heterogene Spektrum" der unter dem Dach der Kulturwissenschaft zusammengeführten Disziplinen, Theorien und Methoden. Der nebulöse Hinweis auf ein fächerverbindend vorausgesetztes "historisches Apriori" hilft da jedenfalls, so wenigstens Wenzel, kein bisschen weiter.
2) Kittler "Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft"
Bei Friedrich Kittler dagegen verdankt sich der Singular- und da mischen sich beim Rezensenten Bewunderung und Vorwurf - dem Mut zum Reduktionismus. Hinein tue Kittler in die Kulturwissenschaft einen Kanon von Vico über Hegel und Heidegger bis Turing, mische alles mit ironischen und sarkastischen Randglossen auf - und heraus komme immer wieder kittlertypische Reduktion der Kultur auf Medientechnologie. Gerade der späte Heidegger, der die Technik zum Signum (oder eher: zur Determinationsmacht) unserer Zeit erklärt, kommt da zum Beispiel mehr als gelegen. Eher am Rande weist der Rezensent übrigens darauf hin, dass es ihm nicht um eine Würdigung der von Kittler entworfenen Kulturgeschichte geht, sondern nur um seine Stellungnahme zur Kulturwissenschaft.
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