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Produktdetails
  • Kulturstudien, Sonderbde. 20
  • Verlag: Böhlau Wien
  • Artikelnr. des Verlages: 660325
  • 1996.
  • Seitenzahl: 399
  • Deutsch
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 1302g
  • ISBN-13: 9783205985327
  • ISBN-10: 320598532X
  • Artikelnr.: 06555464
Autorenporträt
Gudrun M. König ist Professorin am Institut für Kunst und Materielle Kultur der Universität Dortmund.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.1996

Endlich entflohn des Zimmers Gefängnis
Auf dem Bürgersteig: Gudrun M. König wandert durch die Kulturgeschichte des Spaziergangs

"Spazierengehen können nur Stadtleute", behauptet eine Redensart und resümiert damit vortrefflich den Unterschied zwischen Fußreisen, Markt- und Botengängen, überhaupt dem ständig notwendigen, zielgerichteten Gehen unterer Schichten in Stadt und Land, zum zweckfreien Lustwandeln der Bürger. Um wie sie die Natur romantisch genießen zu können, muß man von ihr distanziert sein. Und man braucht Muße. Die hatte zwar die Aristokratie noch weit mehr, aber ein rigides Standesdenken zwang den Adel in Kutschen und gestattete ihm nur Spazierfahrten oder Ausritte, wenn man vom gezierten Promenieren in geometrischen Parks absieht.

So erweist sich wieder einmal eine scheinbar so "natürliche" Sache wie der Spaziergang, den wir uns gern alterslos vorstellen, als kulturelle Errungenschaft, die sich erst im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert herausbildete. Gudrun M. König sichert die "Spuren einer bürgerlichen Praktik von 1780 bis 1850" - so der Untertitel ihrer "Kulturgeschichte des Spazierganges" - mit Hilfe unterschiedlichster Quellen wie Memoiren, Tagebücher, Briefe, Reiseführer und topographische Beschreibungen, lokale Pressenotizen, amtliche Bekanntmachungen, medizinische Ratgeber und Anstandsbücher, zu denen aktenkundige Protokollübertretungen in Parks und - nicht zuletzt - die Staffagefiguren zeitgenössischer Veduten kommen, von denen sie ein halbes Hundert genauer unter die Lupe nimmt. Sie ergänzen und korrigieren die Wortquellen.

Empfindsame Einzelgeher und literarisch imaginierte Spaziergänger, die sich - "endlich entflohn des Zimmers Gefängnis" - am neu entdeckten Freizeitvergnügen berauschen, interessieren sie nur am Rande. Thema der Tübinger Kulturwissenschaftlerin sind nämlich Genese und Ausübung des alltäglichen, geselligen Spaziergangs selbstbewußter Bürger, die zu Fuß gehen, obschon sie sich Pferd oder Kutsche leisten könnten, um die Gleichheit ihres Standes zu demonstrieren und sich vom Adel abzuheben.

Voraussetzung für die neue Liebe zum Gehen war ein gewandeltes Verhältnis zur Natur, die im Gefolge Rousseauscher Ideen nicht mehr als bedrohlich, sondern als bewundernswert empfunden wurde. Überall in Europa entstanden im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert Gärten im englischen Stil, die der neuen Sehnsucht eine Naturkulisse von geordnetem Wildwuchs boten. Philosophische Parks wie derjenige des Marquis René de Girardin in Ermenonville, in dem Rousseau sein erstes Grab fand, sollten die Eindrücke der Landschaft durch Inschriften sublimieren. Rousseau hat dort 1778 der "Träumerei" einen Altar gewidmet.

Ein Nachglanz dieser Ideen, wenn auch ins Äußerliche gewendet, war noch in den schattigen Alleen und Spazierwegen mit Ruhebänken und lieblichen Aussichten zu spüren, die um viele Städte gelegt wurden. Allerorten mußten um 1800 überaltete Wallanlagen und verfallene Stadtmauern begrünten Promenaden weichen. Trockene und leicht begehbare Wege waren damals eine Seltenheit in den engen, schmutzigen Städten, die ohne Gehsteige, Kanalisation und Müllbeseitigung zum Albtraum werden konnten. Um so stolzer war man auf die manchmal - etwa in Ulm - durch Bürgerspenden finanzierten Spazierwege.

Zum Naturkult und der Hygienisierung der Stadt kam eine Gesundheitsprophylaxe, die Bewegung in frischer Luft propagierte. Vor allem in Badeorten gehörten die täglichen Spaziergänge bald zum unverzichtbaren Programm. Ein weiterer Grund für den Erfolg des Zufußgehens ohne Notwendigkeit war die sich herausbildende Abgrenzung von Arbeit und Freizeit, zumindest in der Oberschicht. Der Spaziergang wird von dieser privilegierten Minderheit als Rekreation akzeptiert und bietet dazu den Vorteil öffentlicher Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung der neuen Bürgerkultur. Selbst die Jugend nimmt an dem Vergnügen teil, schafft es doch Gelegenheit, das andere Geschlecht zu inspizieren, ja vielleicht verstohlen zarte Bande zu knüpfen.

Gudrun M. König überprüft diese allgemeinen Gegebenheiten im einzelnen an vier württembergischen Stadttypen: an der Residenz Stuttgart, der Universität Tübingen, der Reichsstadt Ulm und dem Kurort Wildbad. So kann sie ein sehr detailgenaues Bild der Spaziergänge zeichnen: von der sozialen und geschlechtsspezifischen Zugehörigkeit (eine Dame allein ist allenfalls im Badeort toleriert) bis zur Art des Begrüßens (das leidige Hutziehen der Herren) und zu den modischen Accessoires dieses Sports: Stöcke, Sonnenschirme, Galoschen und, als Alibi für die Aushäusigkeit des schönen Geschlechts, der Beutel mit der Handarbeit. Im Laufe der Jahre wird der Spaziergang von unterbürgerlichen Schichten wenigstens für den freien Sonntag übernommen. Die reizenden Landschaftsbilder, die Aussichten und Naturstimmungen treten mehr und mehr hinter das Ziel der Ausflugslokale, die sich munter vermehren, zurück. Zu einer Ständemischung kommt es allerdings kaum, jede Schicht frequentiert stillschweigend eigene Gaststätten.

Besonders aufschlußreich sind die immer wieder aufflammenden Streitigkeiten, wenn der Naturgenuß durch Arbeitsspuren beeinträchtigt erscheint, ob das nun die trocknende Wäsche und ausgelegte Betten in Ulm sind oder die Kartoffeläcker, die das Mißfallen der Tübinger Professoren erregen, ganz zu schweigen von der Jauche, die um 1840 immer häufiger zum olfaktorischen Ärgernis wird.

Gerade die Nahsicht, die Württemberg zum Exempel erhebt, erlaubt einen lebendigen Blick auf Entstehung und Entwicklung eines gesellschaftlichen Rituals, das in der zweiten Jahrhunderthälfte nach und nach seine Funktionen verliert und zwischen beiden Weltkriegen als lästige Sonntagsqual versickert. Gudrun M. Königs kluge Analyse des reichen Materials, das sie höchst anschaulich darzustellen weiß, bietet die Verläßlichkeit einer gelungenen Dissertation, so daß man eine gewisse Redundanz, die solche akademischen Arbeiten kennzeichnet, gern in Kauf nimmt. SIGRID METKEN

Gudrun M. König: "Eine Kulturgeschichte des Spazierganges". Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780 bis 1850.Böhlau Verlag, Wien 1996. 391 S., Abb., geb., 68,- Mark.

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