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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2013

Nikolaj Stepanovic

Es ist die bedrückende Geschichte von Nikolaj Stepanovic. Er wartet auf den Tod. Doch wie immer bleibt beim Arzt Tschechow das Grausame subkutan, von, wie Thomas Mann notierte, "stiller, trauriger Merkwürdigkeit". Hatte der Autor selbst nicht als letztes Wort nur mit verhaltenem Atem "Ich sterbe" hervorstoßen können? Er flüsterte diesen letzten Satz in Badenweiler auf dem Totenbett auf Deutsch, um die unrevidierbare Diagnostik des Endes in eine andere Sprache zu verdrängen. Hasserfüllter, letaler lässt sich eine Fremdsprache nicht verwenden.

Eine derartige Kälte und Objektivierung der Beobachtung passt zum Metier des Medizinprofessors Stepanovic, der plötzlich von der Beschäftigung mit Präparaten im Hörsaal zum gnadenlosen Registrieren des eigenen Verfalls, der Beschreibung eigener Hässlichkeit übergehen muss. Es ist eine schlimme Bilanz, zu der ihn das Nachdenken über das erlöschende Leben bringt. Die ganze Karriere, die Anerkennung, die ihm zuteilwurde, fallen ab, bedeuten nichts mehr. Er entdeckt um sich, im Zusammensein mit seiner Frau, der Tochter Lisa und ihrem heuchlerischen Verehrer Gnekker, nur noch Kulisse und Maskerade. Die Unfähigkeit, noch etwas wie Nähe oder Liebe zu spüren, führt zum Selbstekel und schließlich zur Entdeckung, dass er umsonst gelebt hat.

Wo lassen sich Isolation, konkrete Sehnsucht und Lebenshunger besser und schmerzlicher erleben als bei Tschechow? Zwischen all dem Hass, den der alte Mann mit einem Schlag in sich aufsteigen spürt und der ihm, im Umgang mit Frau und Tochter, entgegenschlägt, steht die wunderbare, nicht aussprechbare und nicht ausgesprochene Liebe zur Ziehtochter Katja. Jede Zeile vibriert von einem unmöglichen Glück. Es gibt neben Goethes "Marienbader Elegie" nicht viele andere Texte, die auf derart verzweifelte Weise eine unerfüllbare, nicht vermittelbare Zärtlichkeit beschreiben - eine Zärtlichkeit, zu der nur ein alter Mensch, der sich mit der Irrealität seiner Sehnsucht abgefunden, sich in sie zurückgezogen hat, überhaupt fähig zu sein scheint.

Und die Entfremdung, die unerhört harte Zurückweisung Nikolajs gegenüber der Hilfe suchenden Katja, auf den letzten Seiten des Buches, aus denen jeder Trost verbannt ist, verstärkt noch die Luzidität angesichts des kommenden Todes. Die Rettung, die Katja von dem väterlichen Freund zu erwarten berechtigt scheint, verschwindet hinter der Gefühllosigkeit und dem Aussetzen einer Empathie, die den Leser erschauern lässt. Eine "langweilige Geschichte" heißt die Erzählung, weil sie generell, überall stattfinden wird. Und es ist dieses Abtöten, Abkochen des Individuellen, das Tschechows großen Texten immer wieder jede Larmoyanz entzieht.

WERNER SPIES

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