Von der Lehrerin, die die Schulmisere in Berlin öffentlich machte. Ein schonungsloser Blick in einen Schulalltag, in dem Polizeieinsätze, blutüberströmte Kinder und verängstigte Lehrkräfte normal sind, in dem Gewalt unter Schülern und aggressive Eltern den Lehrern ebenso zusetzen wie tatenlose Politiker und schweigende Vorgesetzte. Ihr Engagement und ihr Mut brachten Doris Unzeitig sogar eine Einladung zu "Stern TV" ein, wo sie schlagartig bundesweite Berühmtheit erlangte. Denn normalerweise reden Lehrer nicht öffentlich über die Misere an Brennpunktschulen. Mal aus Angst vor der Rache der Vorgesetzten, mal aus Karrieregründen schweigen sie lieber. Doris Unzeitig erinnert daran, dass es um unsere Kinder und deren Zukunft geht. Das ist der Grund, warum sie dieses Buch geschrieben hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2019Vom Schulalltag keine Ahnung
Doris Unzeitig zeigt, woran es der Berliner Bildungspolitik fehlt und warum sie als Schulleiterin das Handtuch warf
Ein Schüler einer dritten Klasse soll eine kurze Geschichte aufschreiben. Er gibt ein liniertes Blatt ab, auf dem die Buchstaben nur schwer zu entziffern sind. "Jens und san Farta" steht über dem Text. Er meint seinen Vater. Er will von ihm erzählen und vom Fußballspielen, doch es gelingt dem Schüler nicht, auch nur einen einzigen Satz zu bilden und gerade, lesbare Buchstaben zu schreiben.
Testergebnisse am Ende einer zweiten Klasse zeigen ein ähnliches Bild: "ZNerg" (Zwerg), "Bekarei" (Bäckerei), "Blleter" (Blätter), "kerst" (Kerze) sind nur einige der Schreibweisen, die auch Kinder verwenden, deren Muttersprache Deutsch ist. Alltag an einer Berliner Grundschule.
Ein Schüler steht mitten im Unterricht auf und schlägt andere Kinder auf den Hinterkopf. Ein anderer schreibt über seinen Mitschüler in den sozialen Netzwerken: "Ich töte ihn. Ich schneide ihn auseinander." Ein türkischer Vater sagt zu einer Lehrerin, er habe keinen Respekt vor ihr. Ein Schüler wirft Schulsachen auf den Boden und weigert sich, sie wieder aufzuheben. Als die Erzieherin Konsequenzen ankündigt, brüllt er sie an: "Ich ficke diese Frau, ich ficke ihre Mutter, ich ficke ihren Vater. Diese Hure!" Eine schwangere Lehrerin bekommt von einem Schüler einen Schlag in den Bauch. Eine Mutter, die auf Schwierigkeiten ihres Sohnes angesprochen wird, sagt zu einer Lehrerin: "Sie sind doch krank im Kopf" - und dann: "Ich schlag dich jetzt, du." Ein Mädchen hat vernarbte Schnittwunden am Arm. Als die Schulsozialarbeiterin die Eltern darauf anspricht, weigern diese sich, psychologische Hilfe für ihr Kind in Anspruch zu nehmen.
Von diesen Erlebnissen erzählt Doris Unzeitig in ihrem Buch, das ihre Zeit als Schulleiterin der Spreewald-Grundschule in Berlin-Schöneberg aufarbeitet. 2013 trat die gebürtige Österreicherin ihren Dienst in der berüchtigten Brennpunktschule an. Über die Hälfte der Eltern ist von der Zuzahlung an Lernmitteln befreit, mehr als 95 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund. Wer hier unterrichtet, braucht starke Nerven und besondere pädagogische Fähigkeiten. Unzeitig brachte beides mit - und scheiterte trotzdem.
Als sie aus schulinternen Mitteln einen Wachschutz für die Schule engagierte, geriet sie in die Schlagzeilen. Es sei eine "letzte verzweifelte Reaktion" auf unhaltbare Zustände gewesen, die sich von Jahr zu Jahr verschlimmert hätten, erzählt sie in ihrem Buch. Unbefugte betraten das Schulgelände, Obdachlose nisteten sich auf dem Spielplatz ein, der Schulhof war verdreckt, Schüler und Lehrer wurden von schulfremden Personen belästigt. Sie habe für die Sicherheit der Schule nicht mehr garantieren können.
"Konfliktlotsen" allein, deren Einsatz die Bildungsverwaltung empfiehlt, reichten hier nicht aus. Die Medien schalteten sich ein, die Politik reagierte unwirsch. Die Aufregung über den Wachschutz kann Unzeitig nicht verstehen. Anders als oftmals dargestellt, sei sie nicht die erste Schulleiterin gewesen, die sich gezwungen sah, darauf zurückzugreifen; auch Schulen in Neukölln arbeiteten mit einem privaten Wachschutz, weil die Sicherheit und Ordnung der Schulen nicht mehr anders gewährleistet werden könnten.
Doch der Berliner Bildungsverwaltung war Unzeitig ein Dorn im Auge. Detailliert schildert sie die Abläufe zu diesem Fall, zitiert aus Briefen und E-Mails, die großes Unverständnis und Unkenntnis der Politik gegenüber den Erfordernissen des Schulalltags demonstrieren. Nach fünf Jahren gab Unzeitig schließlich auf, quittierte ihren Dienst und ging zurück in die österreichische Provinz. Um ihren Verbleib habe sich niemand bemüht - und das, obwohl die Stadt nahezu täglich über den eklatanten Mangel an Lehrern stöhnt.
Die Berliner Bildungspolitik schmückt sich derweil gern mit Etiketten, die auf dem langen Weg der absoluten Gleichberechtigung Besserung geloben: diskriminierungsfrei, integrativ, inklusiv. Wie wenig solche Etiketten in der Praxis taugen, veranschaulicht dieser Erfahrungsbericht. Unzeitig entlarvt die "Mär vom friedlichen Miteinander der Kulturen", das nicht funktionieren könne, wenn ihr tagtäglich arabische Väter begegneten, die sie nicht ernst nähmen und eine erfolgreiche Schulausbildung ihrer Kinder verhinderten. Nicht ein "Integrationslotse" sei hier gefragt, sondern mehr Autorität. Nicht Quereinsteiger könnten diese Aufgabe übernehmen, sondern nur ausgebildete Pädagogen, die über praktische Erfahrungen verfügen.
Unzeitig ist in ihren Forderungen laut, in ihrem Buch neigt sie mitunter dazu, ihre Person zu überhöhen, was durch den reißerischen Titel nicht unbedingt besser wird: "Eine Lehrerin sieht Rot. Mini-Machos, Kultur-Clash, Gewalt in der Schule und das Versagen der Politik." Und trotzdem spricht aus ihrem Text nicht vor allem - was ihr immer wieder vorgeworfen wird - Sensationslust, sondern das Engagement einer Lehrerin, die mit ihren ausgewiesenen pädagogischen Fähigkeiten bei der Bildungsverwaltung auf Granit beißt.
Berlin ringt um mehr Lehrer, es mangelt an Schulplätzen und intakten Schulgebäuden, die Leistungsbilanz der Schüler fällt regelmäßig katastrophal aus. Man sollte meinen, die Bildungsverwaltung könne sich ein solches Gezeter, das Unzeitig hier dokumentiert, nicht leisten. Doch ihr Buch ist nur ein Dokument von vielen, die das Versagen der Berliner Schulpolitik abbilden. Zur selbstkritischen Lektüre sei es jedem Verantwortlichen der derzeitigen Bildungslandschaft empfohlen.
HANNAH BETHKE
Doris Unzeitig: "Eine Lehrerin sieht Rot".
Mini-Machos, Kultur-Clash, Gewalt in der Schule und das Versagen der Politik.
Plassen Verlag, Kulmbach 2019. 250 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Doris Unzeitig zeigt, woran es der Berliner Bildungspolitik fehlt und warum sie als Schulleiterin das Handtuch warf
Ein Schüler einer dritten Klasse soll eine kurze Geschichte aufschreiben. Er gibt ein liniertes Blatt ab, auf dem die Buchstaben nur schwer zu entziffern sind. "Jens und san Farta" steht über dem Text. Er meint seinen Vater. Er will von ihm erzählen und vom Fußballspielen, doch es gelingt dem Schüler nicht, auch nur einen einzigen Satz zu bilden und gerade, lesbare Buchstaben zu schreiben.
Testergebnisse am Ende einer zweiten Klasse zeigen ein ähnliches Bild: "ZNerg" (Zwerg), "Bekarei" (Bäckerei), "Blleter" (Blätter), "kerst" (Kerze) sind nur einige der Schreibweisen, die auch Kinder verwenden, deren Muttersprache Deutsch ist. Alltag an einer Berliner Grundschule.
Ein Schüler steht mitten im Unterricht auf und schlägt andere Kinder auf den Hinterkopf. Ein anderer schreibt über seinen Mitschüler in den sozialen Netzwerken: "Ich töte ihn. Ich schneide ihn auseinander." Ein türkischer Vater sagt zu einer Lehrerin, er habe keinen Respekt vor ihr. Ein Schüler wirft Schulsachen auf den Boden und weigert sich, sie wieder aufzuheben. Als die Erzieherin Konsequenzen ankündigt, brüllt er sie an: "Ich ficke diese Frau, ich ficke ihre Mutter, ich ficke ihren Vater. Diese Hure!" Eine schwangere Lehrerin bekommt von einem Schüler einen Schlag in den Bauch. Eine Mutter, die auf Schwierigkeiten ihres Sohnes angesprochen wird, sagt zu einer Lehrerin: "Sie sind doch krank im Kopf" - und dann: "Ich schlag dich jetzt, du." Ein Mädchen hat vernarbte Schnittwunden am Arm. Als die Schulsozialarbeiterin die Eltern darauf anspricht, weigern diese sich, psychologische Hilfe für ihr Kind in Anspruch zu nehmen.
Von diesen Erlebnissen erzählt Doris Unzeitig in ihrem Buch, das ihre Zeit als Schulleiterin der Spreewald-Grundschule in Berlin-Schöneberg aufarbeitet. 2013 trat die gebürtige Österreicherin ihren Dienst in der berüchtigten Brennpunktschule an. Über die Hälfte der Eltern ist von der Zuzahlung an Lernmitteln befreit, mehr als 95 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund. Wer hier unterrichtet, braucht starke Nerven und besondere pädagogische Fähigkeiten. Unzeitig brachte beides mit - und scheiterte trotzdem.
Als sie aus schulinternen Mitteln einen Wachschutz für die Schule engagierte, geriet sie in die Schlagzeilen. Es sei eine "letzte verzweifelte Reaktion" auf unhaltbare Zustände gewesen, die sich von Jahr zu Jahr verschlimmert hätten, erzählt sie in ihrem Buch. Unbefugte betraten das Schulgelände, Obdachlose nisteten sich auf dem Spielplatz ein, der Schulhof war verdreckt, Schüler und Lehrer wurden von schulfremden Personen belästigt. Sie habe für die Sicherheit der Schule nicht mehr garantieren können.
"Konfliktlotsen" allein, deren Einsatz die Bildungsverwaltung empfiehlt, reichten hier nicht aus. Die Medien schalteten sich ein, die Politik reagierte unwirsch. Die Aufregung über den Wachschutz kann Unzeitig nicht verstehen. Anders als oftmals dargestellt, sei sie nicht die erste Schulleiterin gewesen, die sich gezwungen sah, darauf zurückzugreifen; auch Schulen in Neukölln arbeiteten mit einem privaten Wachschutz, weil die Sicherheit und Ordnung der Schulen nicht mehr anders gewährleistet werden könnten.
Doch der Berliner Bildungsverwaltung war Unzeitig ein Dorn im Auge. Detailliert schildert sie die Abläufe zu diesem Fall, zitiert aus Briefen und E-Mails, die großes Unverständnis und Unkenntnis der Politik gegenüber den Erfordernissen des Schulalltags demonstrieren. Nach fünf Jahren gab Unzeitig schließlich auf, quittierte ihren Dienst und ging zurück in die österreichische Provinz. Um ihren Verbleib habe sich niemand bemüht - und das, obwohl die Stadt nahezu täglich über den eklatanten Mangel an Lehrern stöhnt.
Die Berliner Bildungspolitik schmückt sich derweil gern mit Etiketten, die auf dem langen Weg der absoluten Gleichberechtigung Besserung geloben: diskriminierungsfrei, integrativ, inklusiv. Wie wenig solche Etiketten in der Praxis taugen, veranschaulicht dieser Erfahrungsbericht. Unzeitig entlarvt die "Mär vom friedlichen Miteinander der Kulturen", das nicht funktionieren könne, wenn ihr tagtäglich arabische Väter begegneten, die sie nicht ernst nähmen und eine erfolgreiche Schulausbildung ihrer Kinder verhinderten. Nicht ein "Integrationslotse" sei hier gefragt, sondern mehr Autorität. Nicht Quereinsteiger könnten diese Aufgabe übernehmen, sondern nur ausgebildete Pädagogen, die über praktische Erfahrungen verfügen.
Unzeitig ist in ihren Forderungen laut, in ihrem Buch neigt sie mitunter dazu, ihre Person zu überhöhen, was durch den reißerischen Titel nicht unbedingt besser wird: "Eine Lehrerin sieht Rot. Mini-Machos, Kultur-Clash, Gewalt in der Schule und das Versagen der Politik." Und trotzdem spricht aus ihrem Text nicht vor allem - was ihr immer wieder vorgeworfen wird - Sensationslust, sondern das Engagement einer Lehrerin, die mit ihren ausgewiesenen pädagogischen Fähigkeiten bei der Bildungsverwaltung auf Granit beißt.
Berlin ringt um mehr Lehrer, es mangelt an Schulplätzen und intakten Schulgebäuden, die Leistungsbilanz der Schüler fällt regelmäßig katastrophal aus. Man sollte meinen, die Bildungsverwaltung könne sich ein solches Gezeter, das Unzeitig hier dokumentiert, nicht leisten. Doch ihr Buch ist nur ein Dokument von vielen, die das Versagen der Berliner Schulpolitik abbilden. Zur selbstkritischen Lektüre sei es jedem Verantwortlichen der derzeitigen Bildungslandschaft empfohlen.
HANNAH BETHKE
Doris Unzeitig: "Eine Lehrerin sieht Rot".
Mini-Machos, Kultur-Clash, Gewalt in der Schule und das Versagen der Politik.
Plassen Verlag, Kulmbach 2019. 250 S., geb., 19,99 [Euro].
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