Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.12.2004 Band 39
Der Duft der versunkenen Welt
Marcel Prousts Roman „Eine Liebe Swanns”
Wer sich auf die Lektüre von Marcel Prousts monumentalem Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” einlässt, läuft Gefahr, der Wirklichkeit abhanden zu kommen. Das Hauptthema des Romanzyklus ist die Zeit, die nicht nur vergeht, sondern die vor allem auch zerstört, während die Erinnerung das einmal Erlebte wie einen kostbaren Schatz bewahrt. Dieser Gegensatz von Vergehen und Bewahren wird durch das oft zitierte Erlebnis illustriert, das der Erzähler mit dem Duft eines Gebäckstücks, einer madeleine, verbindet, das ihm, wenn er es in eine Tasse Lindenblütentee eintaucht, die versunkene Welt seiner Jugend wieder ins Gedächtnis ruft. In dieser Erinnerung, die aus dem Duft aufsteigt, findet der Erzähler nicht nur die verlorene Zeit einer fernen Kindheit wieder, sondern er vermag diesen Verlust auch dadurch zu überwinden, dass ihm ein Ausschnitt der Vergangenheit zu einem Teil seiner Gegenwart wird.
Das erhellt, warum sich „Eine Liebe Swanns” ebenso wenig wie die anderen Romane, die zu diesem erzählerischen Mammutwerk aufgeschichtet sind, auf ein in wenigen Sätzen zu skizzierendes Handlungsgerüst reduzieren lässt. Dies zu versuchen wäre, wie André Maurois einmal bemerkte, ebenso absurd, als wollte man das malerische uvre Renoirs damit erklären, dass er vorzugsweise Frauen, Kinder und Blumen gemalt habe. So wie für Renoir nicht seine Sujets kennzeichnend sind, sondern das irisierende Licht, in das er sie taucht, so sind auch die Protagonisten Prousts, heißen sie nun Swann oder Odette, Gilberte oder Bloch, Charlus oder Rachel, lediglich Schemen, die von der Erinnerung, die der Erzähler mit ihnen verbindet, animiert und in ein jeweils unterschiedlich eingefärbtes Licht getaucht werden. Dahinter verbirgt sich die Einsicht des Erzählers, dass das eigene Ich nicht einer Persönlichkeit eingeschrieben ist, die unverändert den Erfahrungen, denen sie in der wirklichen Welt ausgesetzt ist, standzuhalten vermag, sondern dass dieses Ich vom Fluss der Zeit unaufhaltsam aufgelöst, zersetzt oder verändert wird. Die Erinnerung ist deshalb der Königsweg, diese Verlusterfahrung zu überwinden, das eigene Ich wie das Glück seiner zukunftsoffenen Gänze wieder zu rekonstruieren.
Der irrt jedoch, und das ist die weitere Botschaft von Proust, der sich auf der Suche nach dem in der Zeit verlorenen Ich an jene Orte begibt, die er einmal geliebt hat. Diese Orte existieren nämlich nicht in der wirklichen Welt, sondern lediglich in der Zeit und der Erinnerung: Der Mann wird nicht mehr zum Kind oder zum Liebenden vor dem Einbruch seiner Enttäuschung, wenn er an einem Ort steht, mit dem für ihn in der Erinnerung ein bestimmtes Glücksempfinden verknüpft ist, das ihm diesen auratisch verklärte. In „Unterwegs zu Swann” hat Proust diese Erfahrung in den letzten Sätzen festgehalten: „Die Stätten, die wir gekannt haben, sind nicht nur der Welt des Raums zugehörig . . . Die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nur wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und die Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! wie die Jahre!”
Die früheren Ichs jedoch, und das ist die Obsession, die das schriftstellerische Schaffen Prousts inspirierte, gehen nicht völlig verloren, sondern werden in unseren Erinnerungen wieder lebendig.
JOHANNES WILLMS
Marcel Proust
Foto: Suhrkamp Verlag
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Der Duft der versunkenen Welt
Marcel Prousts Roman „Eine Liebe Swanns”
Wer sich auf die Lektüre von Marcel Prousts monumentalem Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” einlässt, läuft Gefahr, der Wirklichkeit abhanden zu kommen. Das Hauptthema des Romanzyklus ist die Zeit, die nicht nur vergeht, sondern die vor allem auch zerstört, während die Erinnerung das einmal Erlebte wie einen kostbaren Schatz bewahrt. Dieser Gegensatz von Vergehen und Bewahren wird durch das oft zitierte Erlebnis illustriert, das der Erzähler mit dem Duft eines Gebäckstücks, einer madeleine, verbindet, das ihm, wenn er es in eine Tasse Lindenblütentee eintaucht, die versunkene Welt seiner Jugend wieder ins Gedächtnis ruft. In dieser Erinnerung, die aus dem Duft aufsteigt, findet der Erzähler nicht nur die verlorene Zeit einer fernen Kindheit wieder, sondern er vermag diesen Verlust auch dadurch zu überwinden, dass ihm ein Ausschnitt der Vergangenheit zu einem Teil seiner Gegenwart wird.
Das erhellt, warum sich „Eine Liebe Swanns” ebenso wenig wie die anderen Romane, die zu diesem erzählerischen Mammutwerk aufgeschichtet sind, auf ein in wenigen Sätzen zu skizzierendes Handlungsgerüst reduzieren lässt. Dies zu versuchen wäre, wie André Maurois einmal bemerkte, ebenso absurd, als wollte man das malerische uvre Renoirs damit erklären, dass er vorzugsweise Frauen, Kinder und Blumen gemalt habe. So wie für Renoir nicht seine Sujets kennzeichnend sind, sondern das irisierende Licht, in das er sie taucht, so sind auch die Protagonisten Prousts, heißen sie nun Swann oder Odette, Gilberte oder Bloch, Charlus oder Rachel, lediglich Schemen, die von der Erinnerung, die der Erzähler mit ihnen verbindet, animiert und in ein jeweils unterschiedlich eingefärbtes Licht getaucht werden. Dahinter verbirgt sich die Einsicht des Erzählers, dass das eigene Ich nicht einer Persönlichkeit eingeschrieben ist, die unverändert den Erfahrungen, denen sie in der wirklichen Welt ausgesetzt ist, standzuhalten vermag, sondern dass dieses Ich vom Fluss der Zeit unaufhaltsam aufgelöst, zersetzt oder verändert wird. Die Erinnerung ist deshalb der Königsweg, diese Verlusterfahrung zu überwinden, das eigene Ich wie das Glück seiner zukunftsoffenen Gänze wieder zu rekonstruieren.
Der irrt jedoch, und das ist die weitere Botschaft von Proust, der sich auf der Suche nach dem in der Zeit verlorenen Ich an jene Orte begibt, die er einmal geliebt hat. Diese Orte existieren nämlich nicht in der wirklichen Welt, sondern lediglich in der Zeit und der Erinnerung: Der Mann wird nicht mehr zum Kind oder zum Liebenden vor dem Einbruch seiner Enttäuschung, wenn er an einem Ort steht, mit dem für ihn in der Erinnerung ein bestimmtes Glücksempfinden verknüpft ist, das ihm diesen auratisch verklärte. In „Unterwegs zu Swann” hat Proust diese Erfahrung in den letzten Sätzen festgehalten: „Die Stätten, die wir gekannt haben, sind nicht nur der Welt des Raums zugehörig . . . Die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nur wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und die Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! wie die Jahre!”
Die früheren Ichs jedoch, und das ist die Obsession, die das schriftstellerische Schaffen Prousts inspirierte, gehen nicht völlig verloren, sondern werden in unseren Erinnerungen wieder lebendig.
JOHANNES WILLMS
Marcel Proust
Foto: Suhrkamp Verlag
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