Die Evolution des menschlichen Moralbewusstseins gehört zu den großen Rätseln der Wissenschaft. Es hat die Phantasie von Generationen von Forschern beflügelt, zahlreiche Theorien liegen auf dem Tisch, aber die Frage »Woher kommt die Moral?« ist nach wie vor offen. In Fortschreibung seiner faszinierenden Naturgeschichte des Menschen legt nun Michael Tomasello eine Antwort vor.Gestützt auf jahrzehntelange empirische Forschungen, rekonstruiert er die Entstehung des einzigartigen menschlichen Sinns für Werte und Normen als einen zweistufigen Prozess. Dieser beginnt vor einigen hunderttausend Jahren, als die frühen Menschen gemeinsame Sache machen mussten, um zu überleben; und er endet beim modernen, ultrakooperativen homo sapiens sapiens, der beides besitzt: eine Moralität der zweiten Person, die unseren Umgang mit dem je einzelnen Gegenüber prägt, und eine gruppenbezogene »objektive« Moral, die sagt, was hier bei »uns« als gut oder gerecht gilt.In der Tradition von Mead, Kohlberg und Piaget zeigt Tomasello außerdem, wie sich die individuelle Moralentwicklung in einer bereits normengesättigten Welt vollzieht. Und so ist Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral der derzeit wohl umfassendste Versuch zu verstehen, wie wir das geworden sind, was nur wir sind: genuin moralische Wesen.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Lars Weisbrod hat Michael Tomasellos "Naturgeschichte der menschlichen Moral" zwar durchaus mit Interesse gelesen. Allerdings räumt der Kritiker ein, dass der Verhaltensforscher die üppig zitierten moralphilosophischen Gewährsmänner, von Hume über Rousseau bis zu Strawson, nicht recht einzuordnen weiß und der Leser in Folge häufig verloren zurückbleibt. Und auch wenn Weisbrod hier einige provokante metaethische Fragen, etwa zur Relativität von Werten, entdeckt, muss er gestehen, dass Tomasello beim Versuch, Moral evolutionär zu erklären, ziemlich ins Schlittern gerät.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2016Schimpansen sind und bleiben Egozentriker
Am Anfang war das Fressen, dann kam die Moral. Aber wie genau hat sich das zugetragen? Der Primatenforscher Michael Tomasello unternimmt eine evolutionäre Herleitung.
Die Flüchtlingskrise hat zweierlei gezeigt: Zum einen haben viele Menschen anderen geholfen, die in großer Not zu ihnen kamen. Zum anderen aber hat es im Laufe der Zeit Abgrenzungsbewegungen gegeben, deren Ziel darin bestand, ein "Wir" vor den "Fremden" zu schützen. In seinem neuen Buch geht es dem Anthropologen und Verhaltensforscher Michael Tomasello nicht um politische Fragen der Gegenwart. Und doch kennt das Buch, das zeigen will, wie sich zentrale moralische Kompetenzen des Menschen evolutionär entwickelt haben, sowohl ein selbstloses Mitgefühl als auch eine eher gruppenbezogene Moral, die nach innen bindet, nach außen aber ausschließt.
"Die einzigartige menschliche Variante der Kooperation, die wir als Moral kennen", so Tomasello, "tritt in der Natur in zwei analogen Formen auf. Einerseits kann eine Person Opfer bringen, um einer anderen Person zu helfen . . . Andererseits können miteinander interagierende Personen nach einer Möglichkeit suchen, damit alle einen ausgeglichenen Nutzen haben." Das "alle" im letzten Teil des Zitats meint nun nicht alle Menschen, sondern eben alle, mit denen ich kooperiere, sei es in der Jagd, im Feldbau oder im Unternehmen.
Kooperation ist neben Selektion und Anpassung der Schlüsselbegriff der "hypothetischen" Geschichte, die Tomasello erzählt. Die Moral entsteht in Zusammenhängen, in denen Individuen miteinander kooperieren müssen, weil sie anders nicht an Nahrungsmittel kommen oder Unterkünfte bauen können. Schon für Primaten gilt, dass sie in konkreten Handlungszusammenhängen, etwa einer Jagd, lokale Gemeinschaften bilden, die nur funktionieren können, wenn alle mehr oder weniger an einem Strang ziehen und dafür auch bereit sind, eigene Bedürfnisse zurückzustellen.
Anders als andere Primatenforscher geht Tomasello aber nicht davon aus, dass Primaten echte gemeinsame Intentionalität kennen; sie können in einer Gruppe gemeinsam jagen, aber wenn die Beute erlegt ist, hätte im Prinzip jeder gerne die Beute für sich allein, das Ziel der Jagd war also nicht wirklich ein gemeinsames. So bleiben in Tomasellos Perspektive Schimpansen und Bonobos egozentrische Tiere, die in einer konkurrenzorientierten Umwelt leben und nur dann kooperieren, wenn es aus Konkurrenzgründen nötig ist. Mitgefühl entwickeln sie nur gegenüber Verwandten und "Freunden", nicht aber gegenüber fremden Tieren.
Eine Überwindung der rein egozentrischen Perspektive sieht Tomasello erst auf der Stufe früher Menschen gegeben, die aus Gründen gewandelter Lebensbedingungen genötigt waren, in kleinen Gruppen Ziele gemeinsam zu erreichen. Hier entwickelten sich arbeitsteilige Abhängigkeiten, deren letzter Zweck immer noch strategisch war, in denen aber immerhin ein Bewusstsein der Angewiesenheit auf andere entstehen konnte, das zu reziproken Verpflichtungsgefühlen führte.
Weil man den anderen als Kollaborationspartner brauchte, musst man um sein Wohlergehen besorgt sein und entwickelte geteilte normative Standards, die, darauf weist Tomasello immer wieder hin, die Form einer Vertragsmoral annahmen und sich damit nur auf die erstreckten, mit denen man tatsächlich kooperierte. Aber immerhin, der "kooperative Samen", der langfristig moralische Früchte tragen sollte, war gesät, eine "zweitpersonale Moral" konnte entstehen, die auf gegenseitigem Respekt beruhte und Vertragsbruch mit moralischen Sanktionen belegte.
Die nächste Stufe der moralischen Evolution war erreicht, als sich die kooperierenden Gruppen quantitativ vergrößerten und schließlich umfassendere Kulturen entstanden, die als Kollektive normative Regelungen brauchten. Um ein Gespür für Zeiträume zu bekommen: Tomasello lässt diese Phase vor etwa 100 000 Jahren beginnen, und, wenn man ihn richtig deutet, hält sie bis heute an und bringt das hervor, was er den "modernen" Menschen nennt. In großen kulturellen Gruppen kennt man zwar die meisten anderen nicht mehr, aber wenn man sie als Mitglieder der eigenen Kultur identifiziert, dann kann man davon ausgehen, dass sie wissen, was sich in dieser Kultur gehört und was nicht, was "objektiv" richtig ist und was nicht. Ein Sinn für Recht, Gerechtigkeit, Pflicht und Schuld entsteht, Loyalität der Gruppe gegenüber gehört nun zu den wichtigsten Elementen der moralischen Identität.
Obgleich Tomasello seine Überlegungen mit zahlreichen philosophischen Überlegungen stützt, enthalten sie doch einige philosophische Provokationen und eine Menge ungelöster Spannungen. So bedeutet "moderne" Moral für die meisten Philosophen - zumindest wenn sie unter dem Einfluss Kants stehen, was für einige der von Tomasello zitierten Autoren gilt - natürlich nicht Gruppenmoral, sondern eine universale Moral, die für alle gilt, unabhängig von spezifischen Zugehörigkeiten.
Tatsächlich spricht Tomasello an manchen Punkten auch von einer "natürlichen Moral", die allen Menschen eigen ist und sie zu Mitgefühl allen anderen Menschen gegenüber anhält, aber er scheint davon auszugehen, dass die "Diktate" dieser natürlichen Moral stets kulturell gebrochen werden und somit nie rein auftreten. So heißt es vom Regime der Apartheid, es habe eine "kreative Buchführung mit Bezug darauf, wer zur moralischen Gemeinschaft" gehört, betrieben, die im Augenblick der Aufhebung der Apartheid gleichsam durchschaut wurde, als hätte eine von Rassismus getriebene Gruppe einen Fehler erkannt: "Hoppla, die gehören ja doch zu uns!" Das ist nicht nur soziologisch und politisch naiv, es passt auch nicht zu Tomasellos Konstruktion der modernen Moral, die nun einmal eine Gruppenmoral ist, also die einen eingrenzt und die anderen ausgrenzt, und die in evolutionstheoretischer Perspektive das Überleben all derer sichern soll, die zur jeweiligen Kultur gehören. Richard Rorty hätte diese Moral "ethnozentrisch" genannt, kosmopolitische Züge hat sie nicht. So bleibt die "natürliche" Moral eigentümlich in der Luft hängen und findet keinen wirklichen Ort in Tomasellos Erzählung.
Dieses Problem hängt vielleicht auch mit Tomasellos Bevorzugung vertragstheoretischer Motive zusammen. Die moderne Moral ist letztlich eine, in der alle einen Nutzen von allgemeiner Kooperationsbereitschaft haben. Die "prosoziale Emotion des Mitgefühls" kommt vor, spielt auch eine undeutliche Rolle im Begriff der natürlichen Moral, aber sie bleibt reserviert für den Bereich familialer Ethik, wo etwa Eltern schon immer ein natürliches Mitgefühl zu ihren Kindern entwickeln. Als Basis für die kognitiv anspruchsvollen Formen einer Gerechtigkeitsmoral kann das Mitgefühl nicht dienen, deswegen spielen etwa feministisch inspirierte Formen der Fürsorgeethik in Tomasellos Rekonstruktion der Moralevolution keine Rolle.
Das muss kein Einwand sein, aber erlaubt einen Hinweis darauf, dass der Gedanke, den Ursprung "der" Moral in verschiedenen Formen überlebenssichernder Kooperation zu sehen, nur bestimmte Moralphilosophien für evolutionär tragfähig hält, andere dagegen nicht. Man kann es auch so sagen: In Tomasellos Perspektive muss die Moral etwas leisten, wenn sie wertvoll sein soll, sie muss nämlich das kollektive Überleben kultureller Gruppierungen sichern. Aber selbst manche der von Tomasello herangezogenen moralphilosophischen Autoren würden sich weigern, den Kern der Moral evolutionstheoretisch derart auszudeuten.
Nicht der Nutzen der Moral steht im Mittelpunkt dieser Modelle, sondern der Gedanke, dass die Moral Verhaltensweisen von uns verlangt, die unabhängig vom Nutzen moralisch geboten oder schlicht anständig sind. Ob diese Verhaltensweisen einen evolutionären Nutzen haben, ist eine andere Frage.
MARTIN HARTMANN
Michael Tomasello: "Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral".
Aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
282 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Am Anfang war das Fressen, dann kam die Moral. Aber wie genau hat sich das zugetragen? Der Primatenforscher Michael Tomasello unternimmt eine evolutionäre Herleitung.
Die Flüchtlingskrise hat zweierlei gezeigt: Zum einen haben viele Menschen anderen geholfen, die in großer Not zu ihnen kamen. Zum anderen aber hat es im Laufe der Zeit Abgrenzungsbewegungen gegeben, deren Ziel darin bestand, ein "Wir" vor den "Fremden" zu schützen. In seinem neuen Buch geht es dem Anthropologen und Verhaltensforscher Michael Tomasello nicht um politische Fragen der Gegenwart. Und doch kennt das Buch, das zeigen will, wie sich zentrale moralische Kompetenzen des Menschen evolutionär entwickelt haben, sowohl ein selbstloses Mitgefühl als auch eine eher gruppenbezogene Moral, die nach innen bindet, nach außen aber ausschließt.
"Die einzigartige menschliche Variante der Kooperation, die wir als Moral kennen", so Tomasello, "tritt in der Natur in zwei analogen Formen auf. Einerseits kann eine Person Opfer bringen, um einer anderen Person zu helfen . . . Andererseits können miteinander interagierende Personen nach einer Möglichkeit suchen, damit alle einen ausgeglichenen Nutzen haben." Das "alle" im letzten Teil des Zitats meint nun nicht alle Menschen, sondern eben alle, mit denen ich kooperiere, sei es in der Jagd, im Feldbau oder im Unternehmen.
Kooperation ist neben Selektion und Anpassung der Schlüsselbegriff der "hypothetischen" Geschichte, die Tomasello erzählt. Die Moral entsteht in Zusammenhängen, in denen Individuen miteinander kooperieren müssen, weil sie anders nicht an Nahrungsmittel kommen oder Unterkünfte bauen können. Schon für Primaten gilt, dass sie in konkreten Handlungszusammenhängen, etwa einer Jagd, lokale Gemeinschaften bilden, die nur funktionieren können, wenn alle mehr oder weniger an einem Strang ziehen und dafür auch bereit sind, eigene Bedürfnisse zurückzustellen.
Anders als andere Primatenforscher geht Tomasello aber nicht davon aus, dass Primaten echte gemeinsame Intentionalität kennen; sie können in einer Gruppe gemeinsam jagen, aber wenn die Beute erlegt ist, hätte im Prinzip jeder gerne die Beute für sich allein, das Ziel der Jagd war also nicht wirklich ein gemeinsames. So bleiben in Tomasellos Perspektive Schimpansen und Bonobos egozentrische Tiere, die in einer konkurrenzorientierten Umwelt leben und nur dann kooperieren, wenn es aus Konkurrenzgründen nötig ist. Mitgefühl entwickeln sie nur gegenüber Verwandten und "Freunden", nicht aber gegenüber fremden Tieren.
Eine Überwindung der rein egozentrischen Perspektive sieht Tomasello erst auf der Stufe früher Menschen gegeben, die aus Gründen gewandelter Lebensbedingungen genötigt waren, in kleinen Gruppen Ziele gemeinsam zu erreichen. Hier entwickelten sich arbeitsteilige Abhängigkeiten, deren letzter Zweck immer noch strategisch war, in denen aber immerhin ein Bewusstsein der Angewiesenheit auf andere entstehen konnte, das zu reziproken Verpflichtungsgefühlen führte.
Weil man den anderen als Kollaborationspartner brauchte, musst man um sein Wohlergehen besorgt sein und entwickelte geteilte normative Standards, die, darauf weist Tomasello immer wieder hin, die Form einer Vertragsmoral annahmen und sich damit nur auf die erstreckten, mit denen man tatsächlich kooperierte. Aber immerhin, der "kooperative Samen", der langfristig moralische Früchte tragen sollte, war gesät, eine "zweitpersonale Moral" konnte entstehen, die auf gegenseitigem Respekt beruhte und Vertragsbruch mit moralischen Sanktionen belegte.
Die nächste Stufe der moralischen Evolution war erreicht, als sich die kooperierenden Gruppen quantitativ vergrößerten und schließlich umfassendere Kulturen entstanden, die als Kollektive normative Regelungen brauchten. Um ein Gespür für Zeiträume zu bekommen: Tomasello lässt diese Phase vor etwa 100 000 Jahren beginnen, und, wenn man ihn richtig deutet, hält sie bis heute an und bringt das hervor, was er den "modernen" Menschen nennt. In großen kulturellen Gruppen kennt man zwar die meisten anderen nicht mehr, aber wenn man sie als Mitglieder der eigenen Kultur identifiziert, dann kann man davon ausgehen, dass sie wissen, was sich in dieser Kultur gehört und was nicht, was "objektiv" richtig ist und was nicht. Ein Sinn für Recht, Gerechtigkeit, Pflicht und Schuld entsteht, Loyalität der Gruppe gegenüber gehört nun zu den wichtigsten Elementen der moralischen Identität.
Obgleich Tomasello seine Überlegungen mit zahlreichen philosophischen Überlegungen stützt, enthalten sie doch einige philosophische Provokationen und eine Menge ungelöster Spannungen. So bedeutet "moderne" Moral für die meisten Philosophen - zumindest wenn sie unter dem Einfluss Kants stehen, was für einige der von Tomasello zitierten Autoren gilt - natürlich nicht Gruppenmoral, sondern eine universale Moral, die für alle gilt, unabhängig von spezifischen Zugehörigkeiten.
Tatsächlich spricht Tomasello an manchen Punkten auch von einer "natürlichen Moral", die allen Menschen eigen ist und sie zu Mitgefühl allen anderen Menschen gegenüber anhält, aber er scheint davon auszugehen, dass die "Diktate" dieser natürlichen Moral stets kulturell gebrochen werden und somit nie rein auftreten. So heißt es vom Regime der Apartheid, es habe eine "kreative Buchführung mit Bezug darauf, wer zur moralischen Gemeinschaft" gehört, betrieben, die im Augenblick der Aufhebung der Apartheid gleichsam durchschaut wurde, als hätte eine von Rassismus getriebene Gruppe einen Fehler erkannt: "Hoppla, die gehören ja doch zu uns!" Das ist nicht nur soziologisch und politisch naiv, es passt auch nicht zu Tomasellos Konstruktion der modernen Moral, die nun einmal eine Gruppenmoral ist, also die einen eingrenzt und die anderen ausgrenzt, und die in evolutionstheoretischer Perspektive das Überleben all derer sichern soll, die zur jeweiligen Kultur gehören. Richard Rorty hätte diese Moral "ethnozentrisch" genannt, kosmopolitische Züge hat sie nicht. So bleibt die "natürliche" Moral eigentümlich in der Luft hängen und findet keinen wirklichen Ort in Tomasellos Erzählung.
Dieses Problem hängt vielleicht auch mit Tomasellos Bevorzugung vertragstheoretischer Motive zusammen. Die moderne Moral ist letztlich eine, in der alle einen Nutzen von allgemeiner Kooperationsbereitschaft haben. Die "prosoziale Emotion des Mitgefühls" kommt vor, spielt auch eine undeutliche Rolle im Begriff der natürlichen Moral, aber sie bleibt reserviert für den Bereich familialer Ethik, wo etwa Eltern schon immer ein natürliches Mitgefühl zu ihren Kindern entwickeln. Als Basis für die kognitiv anspruchsvollen Formen einer Gerechtigkeitsmoral kann das Mitgefühl nicht dienen, deswegen spielen etwa feministisch inspirierte Formen der Fürsorgeethik in Tomasellos Rekonstruktion der Moralevolution keine Rolle.
Das muss kein Einwand sein, aber erlaubt einen Hinweis darauf, dass der Gedanke, den Ursprung "der" Moral in verschiedenen Formen überlebenssichernder Kooperation zu sehen, nur bestimmte Moralphilosophien für evolutionär tragfähig hält, andere dagegen nicht. Man kann es auch so sagen: In Tomasellos Perspektive muss die Moral etwas leisten, wenn sie wertvoll sein soll, sie muss nämlich das kollektive Überleben kultureller Gruppierungen sichern. Aber selbst manche der von Tomasello herangezogenen moralphilosophischen Autoren würden sich weigern, den Kern der Moral evolutionstheoretisch derart auszudeuten.
Nicht der Nutzen der Moral steht im Mittelpunkt dieser Modelle, sondern der Gedanke, dass die Moral Verhaltensweisen von uns verlangt, die unabhängig vom Nutzen moralisch geboten oder schlicht anständig sind. Ob diese Verhaltensweisen einen evolutionären Nutzen haben, ist eine andere Frage.
MARTIN HARTMANN
Michael Tomasello: "Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral".
Aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
282 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Michael Tomasellos Buch ist nicht einfach zu lesen: Aber es ist nicht nur eines der faszinierendsten Bücher des Jahres, sondern meiner Ansicht nach des Jahrzehnts. Ein Meilenstein, in dem er die Evolution des Menschen zu einem sozialen Wesen mit Moral erklärt. Absolut faszinierend!« Gert Scobel 3sat 20161219