Im Sommer 1949 wird ein palästinensisches Beduinenmädchen von israelischen Soldaten missbraucht und ermordet. Jahrzehnte später versucht eine junge Frau aus Ramallah, mehr über diesen Vorfall herauszufinden. Sie ist fasziniert, ja besessen davon, vor allem, weil er sich auf den Tag genau fünfundzwanzig Jahre vor ihrer Geburt zugetragen hat. Ein Detail am Rande, das jedoch ihr eigenes Leben mit dem des Mädchens verknüpft.
Adania Shibli verwebt die Geschichten beider Frauen zu einer eindringlichen Meditation über Krieg, Gewalt und die Frage nach Gerechtigkeit im Erzählen.
Adania Shibli verwebt die Geschichten beider Frauen zu einer eindringlichen Meditation über Krieg, Gewalt und die Frage nach Gerechtigkeit im Erzählen.
»Ein großes Buch über die zerstörerische Logik der Besatzung - kritisch aktuell, ohne tagespolitisch explizit zu werden.« Katharina Teutsch Frankfurter Allgemeine Zeitung
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Für Rezensentin Cornelia Geißler ist Adania Shiblis Roman ein seltenes Beispiel palästinensischer Literatur bei uns. Der Text, der die Vergewaltigung und den Mord an einem arabischen Mädchen in der Negev-Wüste durch israelische Soldaten im Jahr 1949 schildert und dann zur subjektiven Erzählung einer Palästinenserin übergeht, die den Vorfall 50 Jahre später recherchiert, entwickelt laut Geißler eine überraschende Kraft. Wie Shibli beide Teile miteinander verbindet und sprachlich durchdringt, findet Geißler kunstvoll und fesselnd. Eine gewisse Neigung der Erzählung ins Unwirkliche nimmt dem Text etwas von seiner Schwere, beruhigt Geißler uns.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2023Keine Nebensache für Frankfurt
Auf der Buchmesse soll ein als israelfeindlich kritisierter Roman ausgezeichnet werden. Ist er das?
Was der Frankfurter Buchmesse am Freitag nächster Woche blüht, ist folgendes Szenario: Israelische Autoren können die Messe nicht besuchen, weil sie traumatisiert durch die jüngsten Ereignisse in ihrem Land sind oder weil der Flugverkehr sich immer noch nicht normalisiert haben wird. Und um 18 Uhr wird auf der "Frankfurt International Stage" zwischen Halle 5 und 6 der renommierte LiBeraturpreis an die palästinensische Autorin Adania Shibli für deren Roman "Eine Nebensache" verliehen, gegen den es Antisemitismusvorwürfe gibt. Da wurde vor ein paar Wochen glückstrahlend von der Messe verkündet, in diesem Jahr gebe es das Problem der Präsenz rechter Verlage nicht, und nun droht ein moralisch weit heiklerer Konflikt, der neben politischen auch ästhetische Fragen berührt.
"Eine Nebensache" erschien auf Arabisch 2017 in einem Beiruter Verlag. Der Roman erzählt auf zwei Zeitebenen, deren erste einem historisch verbürgten Geschehen am 12. und 13. August 1949 gilt, als eine junge muslimische Beduinin in der Wüste Negev von einer Grenzpatrouille des damals erst ein Jahr bestehenden Staates Israel gefangen genommen, gedemütigt, massenvergewaltigt und erschossen wurde - wir lesen darüber aus der Perspektive des kommandierenden Offiziers. In der zweiten Hälfte des Romans wechselt er zur Ich-Erzählung: Eine mit der Autorin Adania Shibli exakt gleich alte Wissenschaftlerin geht auf Spurensuche nach der mittlerweile Jahrzehnte zurückliegenden Tat - im Museum der israelischen Armee und am Tatort, dem Kibbuz Nirim direkt an der Grenze zum Gazastreifen. Dabei schildert sie die alltäglichen Schikanen durch die israelische Armee im Westjordanland, und der Schluss suggeriert, dass auch sie im Negev von einer israelischen Patrouille erschossen wird.
Das Buch wurde 2019 ins Spanische, 2020 ins Englische und Französische und schließlich 2022 ins Deutsche übersetzt; überall erhielt es begeisterte Kritiken (auch in dieser Zeitung: F.A.Z. vom 26. April 2022), in Amerika und England war es für die dort jeweils wichtigsten Literaturpreise nominiert: die National Book Awards und den International Booker Prize. Der LiBeraturpreis ist nun die erste Auszeichnung, die "Eine Nebensache" auch gewonnen hat.
Ausgelobt wird dieser Preis von dem seit vierzig Jahren der Vermittlung nichtwestlicher Literatur verpflichteten und eng mit der Buchmesse verbandelten Verein Litprom (der Messechef Juergen Boos ist Vorstandsvorsitzender, und die Geschäftsräume befinden sich im Haus des Buches in Frankfurt, das dem Börsenverein gehört und auch Sitz der Buchmesse ist). Der LiBeraturpreis ist für Autoren des Globalen Südens reserviert und wird an ein Buch vergeben, das auf den vierteljährlich von Litprom erstellten Bestenlisten "Weltempfänger" stand.
Nach der diesjährigen Juryentscheidung hatte Ulrich Noller, ein freier Literaturkritiker, der vor allem für den WDR tätig ist, aus Protest die Weltempfänger-Jury verlassen - der fünfköpfigen LiBeraturpreis-Jury gehörte er nicht an. Noller kritisiert "antiisraelische und antisemitische Narrative" in Shiblis Roman. Den hatte der Schriftsteller Maxim Biller schon 2022 in anderem Kontext "ein unliterarisches Stück Propaganda" genannt. Und für den niederländischen Blogger Martien Pennings, der 2021 ein Buch mit dem Titel "Israel existiert und ist die legitimste Nation der Welt" veröffentlicht hat, ist Shiblis Roman "keine Nebensache, sondern eine schwere Perversion". Nun mehren sich die Stimmen, dass auf der Buchmesse in der derzeitigen Situation kein solches Buch geehrt werden sollte.
Aber ist es ein solches Buch? "Eine Nebensache" ist 110 Seiten kurz und mit großem Stilgefühl verfasst. Dass es einseitig die palästinensische Perspektive einnimmt, kann man dem Roman nicht vorwerfen - im Gegenteil wird der israelische Offizier darin als ambivalenter Täter gezeichnet, dessen moralisches Versagen auf Vergiftung durch einen Skorpionbiss zurückgeführt werden kann. Billers Argument, dass die israelischen Soldaten im Roman "gesichtslos, namenlos, brutal" seien, ist zutreffend, aber gesichts- und namenlos sind auch die beiden Palästinenserinnen. Dass sie nicht brutal sind, liegt in der Natur des Stoffs; für den von der "tageszeitung" erhobenen Vorwurf, es fehle in "Eine Nebensache" an Schilderungen palästinensischer Untaten, gilt dasselbe. Der Roman spielt eben nicht am 7. Oktober 2023, als auch Nirim von der Hamas angegriffen wurde.
Auch ein Kunstwerk kann Propaganda sein - die als antisemitisch inkriminierten Arbeiten von Ruangrupa auf der Documenta haben es gezeigt. Nun ist Propagandaanklage bei bildender Kunst leichter zu führen als bei Literatur: Die Übernahme antisemitischer Stereotypen im Bild ist evident, während Shiblis Roman "Räume für Lesarten öffnet" - so Nollers Feststellung. Damit hat er recht, aber Lesarten sind Interpretationen, noch keine Tatsachen. Sehenden Auges ist die Plausibilität eines Propagandavorwurfs leichter zu beurteilen als lesenden Auges. Unsere Lesart von "Eine Nebensache" differiert von derjenigen der Kritiker.
Es ist zu bezweifeln, dass die öffentliche Debatte um die Preisvergabe ohne den Terrorangriff auf Israel geführt worden wäre; die Forderung nach deren Aussetzung erinnert an das Verlangen nach pauschalem Verzicht auf Kunst russischen Ursprungs nach dem Beginn des Kriegs gegen die Ukraine. Hilflosigkeit suchte sich verständlicherweise ein Ventil. Diesbezüglich haben wir zu differenzieren gelernt, und man darf hoffen, dass von Adania Shibli nun etwas zu ihrer Haltung angesichts der aktuellen Situation in Israel zu hören sein wird - Litprom hatte die Autorin schon nach Nollers Vorwürfen darüber informiert; dass sie seitdem schwieg, ist unklug. Shibli lebt seit Längerem in Berlin, also sollte sie im Gegensatz zu israelischen Kollegen keine logistischen Schwierigkeiten haben, nach Frankfurt zu kommen. Ob es moralische geben wird, liegt jetzt an ihr. ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Buchmesse soll ein als israelfeindlich kritisierter Roman ausgezeichnet werden. Ist er das?
Was der Frankfurter Buchmesse am Freitag nächster Woche blüht, ist folgendes Szenario: Israelische Autoren können die Messe nicht besuchen, weil sie traumatisiert durch die jüngsten Ereignisse in ihrem Land sind oder weil der Flugverkehr sich immer noch nicht normalisiert haben wird. Und um 18 Uhr wird auf der "Frankfurt International Stage" zwischen Halle 5 und 6 der renommierte LiBeraturpreis an die palästinensische Autorin Adania Shibli für deren Roman "Eine Nebensache" verliehen, gegen den es Antisemitismusvorwürfe gibt. Da wurde vor ein paar Wochen glückstrahlend von der Messe verkündet, in diesem Jahr gebe es das Problem der Präsenz rechter Verlage nicht, und nun droht ein moralisch weit heiklerer Konflikt, der neben politischen auch ästhetische Fragen berührt.
"Eine Nebensache" erschien auf Arabisch 2017 in einem Beiruter Verlag. Der Roman erzählt auf zwei Zeitebenen, deren erste einem historisch verbürgten Geschehen am 12. und 13. August 1949 gilt, als eine junge muslimische Beduinin in der Wüste Negev von einer Grenzpatrouille des damals erst ein Jahr bestehenden Staates Israel gefangen genommen, gedemütigt, massenvergewaltigt und erschossen wurde - wir lesen darüber aus der Perspektive des kommandierenden Offiziers. In der zweiten Hälfte des Romans wechselt er zur Ich-Erzählung: Eine mit der Autorin Adania Shibli exakt gleich alte Wissenschaftlerin geht auf Spurensuche nach der mittlerweile Jahrzehnte zurückliegenden Tat - im Museum der israelischen Armee und am Tatort, dem Kibbuz Nirim direkt an der Grenze zum Gazastreifen. Dabei schildert sie die alltäglichen Schikanen durch die israelische Armee im Westjordanland, und der Schluss suggeriert, dass auch sie im Negev von einer israelischen Patrouille erschossen wird.
Das Buch wurde 2019 ins Spanische, 2020 ins Englische und Französische und schließlich 2022 ins Deutsche übersetzt; überall erhielt es begeisterte Kritiken (auch in dieser Zeitung: F.A.Z. vom 26. April 2022), in Amerika und England war es für die dort jeweils wichtigsten Literaturpreise nominiert: die National Book Awards und den International Booker Prize. Der LiBeraturpreis ist nun die erste Auszeichnung, die "Eine Nebensache" auch gewonnen hat.
Ausgelobt wird dieser Preis von dem seit vierzig Jahren der Vermittlung nichtwestlicher Literatur verpflichteten und eng mit der Buchmesse verbandelten Verein Litprom (der Messechef Juergen Boos ist Vorstandsvorsitzender, und die Geschäftsräume befinden sich im Haus des Buches in Frankfurt, das dem Börsenverein gehört und auch Sitz der Buchmesse ist). Der LiBeraturpreis ist für Autoren des Globalen Südens reserviert und wird an ein Buch vergeben, das auf den vierteljährlich von Litprom erstellten Bestenlisten "Weltempfänger" stand.
Nach der diesjährigen Juryentscheidung hatte Ulrich Noller, ein freier Literaturkritiker, der vor allem für den WDR tätig ist, aus Protest die Weltempfänger-Jury verlassen - der fünfköpfigen LiBeraturpreis-Jury gehörte er nicht an. Noller kritisiert "antiisraelische und antisemitische Narrative" in Shiblis Roman. Den hatte der Schriftsteller Maxim Biller schon 2022 in anderem Kontext "ein unliterarisches Stück Propaganda" genannt. Und für den niederländischen Blogger Martien Pennings, der 2021 ein Buch mit dem Titel "Israel existiert und ist die legitimste Nation der Welt" veröffentlicht hat, ist Shiblis Roman "keine Nebensache, sondern eine schwere Perversion". Nun mehren sich die Stimmen, dass auf der Buchmesse in der derzeitigen Situation kein solches Buch geehrt werden sollte.
Aber ist es ein solches Buch? "Eine Nebensache" ist 110 Seiten kurz und mit großem Stilgefühl verfasst. Dass es einseitig die palästinensische Perspektive einnimmt, kann man dem Roman nicht vorwerfen - im Gegenteil wird der israelische Offizier darin als ambivalenter Täter gezeichnet, dessen moralisches Versagen auf Vergiftung durch einen Skorpionbiss zurückgeführt werden kann. Billers Argument, dass die israelischen Soldaten im Roman "gesichtslos, namenlos, brutal" seien, ist zutreffend, aber gesichts- und namenlos sind auch die beiden Palästinenserinnen. Dass sie nicht brutal sind, liegt in der Natur des Stoffs; für den von der "tageszeitung" erhobenen Vorwurf, es fehle in "Eine Nebensache" an Schilderungen palästinensischer Untaten, gilt dasselbe. Der Roman spielt eben nicht am 7. Oktober 2023, als auch Nirim von der Hamas angegriffen wurde.
Auch ein Kunstwerk kann Propaganda sein - die als antisemitisch inkriminierten Arbeiten von Ruangrupa auf der Documenta haben es gezeigt. Nun ist Propagandaanklage bei bildender Kunst leichter zu führen als bei Literatur: Die Übernahme antisemitischer Stereotypen im Bild ist evident, während Shiblis Roman "Räume für Lesarten öffnet" - so Nollers Feststellung. Damit hat er recht, aber Lesarten sind Interpretationen, noch keine Tatsachen. Sehenden Auges ist die Plausibilität eines Propagandavorwurfs leichter zu beurteilen als lesenden Auges. Unsere Lesart von "Eine Nebensache" differiert von derjenigen der Kritiker.
Es ist zu bezweifeln, dass die öffentliche Debatte um die Preisvergabe ohne den Terrorangriff auf Israel geführt worden wäre; die Forderung nach deren Aussetzung erinnert an das Verlangen nach pauschalem Verzicht auf Kunst russischen Ursprungs nach dem Beginn des Kriegs gegen die Ukraine. Hilflosigkeit suchte sich verständlicherweise ein Ventil. Diesbezüglich haben wir zu differenzieren gelernt, und man darf hoffen, dass von Adania Shibli nun etwas zu ihrer Haltung angesichts der aktuellen Situation in Israel zu hören sein wird - Litprom hatte die Autorin schon nach Nollers Vorwürfen darüber informiert; dass sie seitdem schwieg, ist unklug. Shibli lebt seit Längerem in Berlin, also sollte sie im Gegensatz zu israelischen Kollegen keine logistischen Schwierigkeiten haben, nach Frankfurt zu kommen. Ob es moralische geben wird, liegt jetzt an ihr. ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2023Jetzt
nicht
Kein Preis auf der Buchmesse
für Adania Shiblis Roman
„Eine Nebensache“
Bevor in Deutschland Antisemitismus-Vorwürfe gegen den Roman „Eine Nebensache“ der palästinensischen Autorin Adania Shibli erhoben wurden, hatte er schon eine gewisse Karriere hinter sich. Er war sowohl für den amerikanischen National Book Award als auch den International Book Award nominiert, ein tatsächlich seltener Doppelerfolg. Vor dem Hintergrund ist der „LiBeraturpreis“, der ihm jetzt im Rahmen der Frankfurter Buchmesse verliehen werden sollte, ein kleiner Preis. Am Freitag teilten die Veranstalter mit, dass die Verleihung verschoben wird, vor allem, weil derzeit niemandem nach Feiern zumute sei, auch der Autorin nicht. An der Preisträgerin jedoch will man festhalten.
Der Schriftsteller Maxim Biller nannte das Buch 2022 in der SZ „ein unliterarisches Stück Propaganda“, weil es „mit der symbolträchtigen Ermordung der verängstigten palästinensischen Ich-Erzählerin durch ein paar gesichtslose, namenlose, brutale israelische Soldaten endet“. Unterstützung für das Werk kommt hingegen unter anderem vom Schriftstellerverband PEN Berlin. Die Schriftstellerin Eva Menasse sprach sich dafür aus, den Preis wie geplant zu vergeben. Kein Buch werde besser oder schlechter, wenn sich die Weltlage ändere. PEN-Berlin-Präsident Deniz Yücel ergänzte: „Die Buchmesse sollte der Ort sein, solche Debatten zu führen – und nicht, sie abzuwürgen.“ Was also ist das für ein Buch? Der Roman besteht aus zwei Teilen. Im ersten erzählt er auktorial von einem historisch verbürgten Verbrechen, das israelische Soldaten im Jahr 1949 in der Negev-Wüste begangen haben, die Massenvergewaltigung und Ermordung eines Beduinenmädchens. Im zweiten Teil stößt eine Palästinenserin auf diese Geschichte, fühlt sich davon persönlich sonderbar berührt und macht sich mit einem falschen Ausweis auf den Weg nach Israel, um mehr darüber herauszufinden. Schließlich wird sie selbst von israelischen Soldaten erschossen.
Das klingt in der Zusammenfassung eindeutig, die Israelis sind Killer und die Palästinenser Opfer. Doch im Detail ist der Roman nicht so schematisch. Auf ihrer Recherche begegnet die Erzählerin zahlreichen hilfsbereiten Israelis, trotzdem hat sie Angst, weil sie eben mit einem geliehenen Ausweis unterwegs ist. Als sie schließlich erschossen wird, befindet sie sich auf militärischem Sperrgebiet und reagiert auf die Rufe der Soldaten, indem sie nervös ihre Hand zur Tasche führt, um einen Kaugummi herauszuholen, was die Soldaten in der angespannten Lage als Griff zur Waffe interpretieren müssen. Die Pointe dieses Schlusses ist: Obwohl hier eine Zivilistin erschossen wird, sind die Soldaten im Recht. Das Thema dieses Romans ist eine Kultur der Gewalt, die Gewalt selbst als legitime und sogar vernünftige Antwort auf das Misstrauen und die Angst entwirft, die sie selbst hervorbringt. Das ist wundervoll erzählt und literarisch absolut preiswürdig. Trotzdem ist es richtig, die Verleihung aufzuschieben und aus einer Buchmesse herauszulösen, die im Schatten der Anschläge der Hamas stattfindet.
FELIX STEPHAN
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
nicht
Kein Preis auf der Buchmesse
für Adania Shiblis Roman
„Eine Nebensache“
Bevor in Deutschland Antisemitismus-Vorwürfe gegen den Roman „Eine Nebensache“ der palästinensischen Autorin Adania Shibli erhoben wurden, hatte er schon eine gewisse Karriere hinter sich. Er war sowohl für den amerikanischen National Book Award als auch den International Book Award nominiert, ein tatsächlich seltener Doppelerfolg. Vor dem Hintergrund ist der „LiBeraturpreis“, der ihm jetzt im Rahmen der Frankfurter Buchmesse verliehen werden sollte, ein kleiner Preis. Am Freitag teilten die Veranstalter mit, dass die Verleihung verschoben wird, vor allem, weil derzeit niemandem nach Feiern zumute sei, auch der Autorin nicht. An der Preisträgerin jedoch will man festhalten.
Der Schriftsteller Maxim Biller nannte das Buch 2022 in der SZ „ein unliterarisches Stück Propaganda“, weil es „mit der symbolträchtigen Ermordung der verängstigten palästinensischen Ich-Erzählerin durch ein paar gesichtslose, namenlose, brutale israelische Soldaten endet“. Unterstützung für das Werk kommt hingegen unter anderem vom Schriftstellerverband PEN Berlin. Die Schriftstellerin Eva Menasse sprach sich dafür aus, den Preis wie geplant zu vergeben. Kein Buch werde besser oder schlechter, wenn sich die Weltlage ändere. PEN-Berlin-Präsident Deniz Yücel ergänzte: „Die Buchmesse sollte der Ort sein, solche Debatten zu führen – und nicht, sie abzuwürgen.“ Was also ist das für ein Buch? Der Roman besteht aus zwei Teilen. Im ersten erzählt er auktorial von einem historisch verbürgten Verbrechen, das israelische Soldaten im Jahr 1949 in der Negev-Wüste begangen haben, die Massenvergewaltigung und Ermordung eines Beduinenmädchens. Im zweiten Teil stößt eine Palästinenserin auf diese Geschichte, fühlt sich davon persönlich sonderbar berührt und macht sich mit einem falschen Ausweis auf den Weg nach Israel, um mehr darüber herauszufinden. Schließlich wird sie selbst von israelischen Soldaten erschossen.
Das klingt in der Zusammenfassung eindeutig, die Israelis sind Killer und die Palästinenser Opfer. Doch im Detail ist der Roman nicht so schematisch. Auf ihrer Recherche begegnet die Erzählerin zahlreichen hilfsbereiten Israelis, trotzdem hat sie Angst, weil sie eben mit einem geliehenen Ausweis unterwegs ist. Als sie schließlich erschossen wird, befindet sie sich auf militärischem Sperrgebiet und reagiert auf die Rufe der Soldaten, indem sie nervös ihre Hand zur Tasche führt, um einen Kaugummi herauszuholen, was die Soldaten in der angespannten Lage als Griff zur Waffe interpretieren müssen. Die Pointe dieses Schlusses ist: Obwohl hier eine Zivilistin erschossen wird, sind die Soldaten im Recht. Das Thema dieses Romans ist eine Kultur der Gewalt, die Gewalt selbst als legitime und sogar vernünftige Antwort auf das Misstrauen und die Angst entwirft, die sie selbst hervorbringt. Das ist wundervoll erzählt und literarisch absolut preiswürdig. Trotzdem ist es richtig, die Verleihung aufzuschieben und aus einer Buchmesse herauszulösen, die im Schatten der Anschläge der Hamas stattfindet.
FELIX STEPHAN
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