Der 1920 in Prag geborene H.G. Adler war einer derjenigen, den die Nazis auf die tödliche Reise schickten. Diese führte ihn von Theresienstadt nach Auschwitz, wo seine Frau und deren Mutter ermordet wurden, und weiter in die Lager Niederorschel und Langenstein-Zwieberge, wo er 1945 von den Amerikanern befreit wurde. In dem 1950/51 in London geschriebenen Roman versucht er, dem Grauen dieser Jahre eine Sprache zu verleihen, die der Alltäglichkeit der Bedrohung nahekommt. "'Eine Reise' halte ich für ein Meisterwerk ... Ich möchte sagen, daß Adler der Hoffnung in der modernen Literatur wieder eingeführt hat." Elias Canetti "In 'Eine Reise' sind Zeugenschaft und Ästhetik der Moderne eine einzigartige Verbindung eingegangen." Judith Klein, Frankfurter Rundschau
Die "Reise" des Autors führte ihn von Theresienstadt nach Ausschwitz, wo seine erste Frau und deren Mutter ermordet wurden, und weiter in die Lager Niederorschel und Langenstein-Zwieberge, wo er 1945 von den Amerikanern befreit wurde. In dieser 1950/51 in London geschriebenen romanhaften Erzählung versuchte er, dem Grauen dieser Jahre eine Sprache zu verleihen, die der Alltäglichkeit der Bedrohung nahekommt. Anhand des Schicksals der Familie des jüdischen Arztes Leopold Lustig wurde hier faßbar, was es bedeutete, aus dem ehemals normalen Leben zu fallen.
Die "Reise" des Autors führte ihn von Theresienstadt nach Ausschwitz, wo seine erste Frau und deren Mutter ermordet wurden, und weiter in die Lager Niederorschel und Langenstein-Zwieberge, wo er 1945 von den Amerikanern befreit wurde. In dieser 1950/51 in London geschriebenen romanhaften Erzählung versuchte er, dem Grauen dieser Jahre eine Sprache zu verleihen, die der Alltäglichkeit der Bedrohung nahekommt. Anhand des Schicksals der Familie des jüdischen Arztes Leopold Lustig wurde hier faßbar, was es bedeutete, aus dem ehemals normalen Leben zu fallen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.1999Das Böse ist nicht banal
H. G. Adlers Buch "Eine Reise" · Von Lothar Müller
Der Leiter der "Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Böhmen und Mähren", ein Stellvertreter Adolf Eichmanns im besetzten Prag, hieß Hans Günther. Er wird kaum wahrgenommen haben, dass sich unter den Prager Juden, die im Februar 1942 nach Theresienstadt gebracht wurden, ein Mann namens Hans Günther Adler befand. Der Sohn des Buchbinders Emil Alfred Adler war damals Anfang dreißig. Seine Dissertation über "Klopstock und die Musik" lag schon einige Jahre zurück, auch die Arbeit im Prager Volksbildungshaus Urania, in das er, noch vor 1938, Elias Canetti zu einer Lesung aus dem Roman "Die Blendung" eingeladen hatte.
Anders als seine Frau und seine Schwiegermutter überlebte Adler die Deportation nach Auschwitz im Oktober 1944. Die Materialien, die er seit 1942 für ein wissenschaftliches Buch über das Lager zusammengetragen hatte, gingen nicht verloren. Der Rabbiner Leo Baeck, Präsident der Reichsvertretung der Juden und seit 1943 in Theresienstadt, hatte sie gerettet. Seit Oktober 1945 arbeitete Adler in Prag an seinem Manuskript, im Frühjahr 1947 verließ er seine Heimatstadt und wanderte nach London aus. Dort stellte er im folgenden Jahr die Urfassung seines Buches fertig. Einen Verleger fand er zunächst nicht dafür. Es erschien in einer überarbeiteten Fassung erst im Jahre 1955 bei C. B. Mohr in Tübingen: "Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft". Für den Druckkostenzuschuss hatte Theodor W. Adorno gesorgt. Der Name des Verfassers war auf dem Titel, wie eine Signatur, in einer handschriftlich wirkenden Typographie gesetzt. Umso mehr musste auffallen, dass die Vornamen zu Initialen verkürzt waren: "H. G. Adler". Der Aufmerksamkeit des Erforschers der Lagerwelt war der SS-Mann in der Prager Dienststelle nicht entgangen. Hans Günther Adler löschte in dem Namen, den er künftig tragen wollte, den des Handlangers der Vernichtung. Doch war dies keine Triumphgeste, sondern ein Akt der Notwehr. In der Zäsur, die er durch den Rückzug auf die Initialen markierte, war die Versehrung festgeschrieben, der er in den Zeiten des Namensentzugs und der Anonymisierung ausgesetzt gewesen war.
Man könnte aus Adlers Werk eine Anthologie unter dem Titel "Die Verstörung" herausschreiben und sie der Theorie des Überlebens entgegensetzen, die Elias Canetti in "Masse und Macht" entwickelt hat. Viele Stücke darin würden den Romanen und Gedichten entstammen, die Adler parallel zu seinem wissenschaftlichen Werk verfasste. Elias Canetti, Heimito von Doderer und Heinrich Böll schätzten den Erzähler. Doch ist dieser in dem Historiographen und Soziologen verschwunden, der seinen durch die Theresienstadt-Analyse gewonnenen Ruf mit der Studie "Der verwaltete Mensch" (1960), dem Rückblick "Die Juden in Deutschland" (1960) und der Dokumentation "Auschwitz. Zeugnisse und Berichte" (1962) festigte.
Den Roman "Eine Reise" hat Adler in den Jahren 1950 und 1951 geschrieben. Lange fand er dafür keinen deutschen Verleger. Als er im Jahr 1962 in der "bibliotheca christiana" erschien, blieb er zwar von der Kritik nicht unbemerkt. Doch hatte der Kleinverlag in Bonn nicht die Mittel, im großen Stimmengewirr um den Prozess und die eben erfolgte Hinrichtung Adolf Eichmanns das literarische Gedenkbuch der Deportation zur Geltung zu bringen. Nun liegt es, von Jeremy Adler, dem Sohn des Autors, mit einem erhellenden Nachwort versehen, wieder vor und wirkt wie eine Flaschenpost aus ferner Zeit, verfasst in einer Prosa, wie sie heute niemand mehr schreibt. Die vorgetäuschte Holocaust-Zeugenschaft des Binjamin Wilkomirski ist gerade in sich zusammengebrochen. Er hatte auf den Stoffhunger nach grässlichen Details und die Suggestion des Autobiographischen spekuliert. Dass Adlers Buch zum bedeutendsten literarischen Werk seines Autors wurde, verdankt sich der Konsequenz, mit der es auf jegliche Ausstellung des Autobiographischen verzichtet.
Als Historiker und Soziologe nannte H. G. Adler die Opfer und Täter beim Namen, lokalisierte Ort und Zeit, stellte Glossare zur Sprache der Vernichtungsbürokratie zusammen. In diesem Buch sucht er die größtmögliche Entfernung zu allem Dokumentarisch-Reportagehaften, und er gewährt Begriffen wie "Konzentrationslager" oder "Deportation" keinen Einlass. Er entwirft, als Gegenmacht zur empirisch-faktischen Geschichte, eine poetische Ordnung, die Namensentzug, Umbenennung und Anonymisierung in ihren Dienst nimmt. Der alte Arzt Leopold Lustig und seine Frau, die beiden Geschwister Zerline und Paul sowie die Tante Ida werden nicht von Prag nach Theresienstadt, sondern von "Stupart" nach "Ruhenthal" verbracht. Die Nachbarstadt des Lagers hat ihren Namen Leitmeritz an das imaginäre "Leitenberg" abgeben müssen. Der Erzähler spannt den Bogen vom Abtransport der Familie aus der Wohnung in Stupart bis zum Umherirren des Überlebenden, Paul, in einer zerstörten Stadt namens "Unkenburg", die mit dem Halberstadt des Jahres 1945 verwandt ist. Aber er spannt ihn nicht in Form einer Erzählung. Eine verlässliche Chronologie enthält er dem Leser vor, halsstarrig verwehrt er es den Ereignissen, in den Hafen des besiegelnden Imperfekts einzulaufen.
Nicht nur vom autobiographischen Ich ist dieser Erzähler meilenweit entfernt, sondern von jedem Ich, dem eine eigene Geschichte zukommen könnte. Er ist nichts als die anonyme, in ihrem Sarkasmus wie in ihrer Sachlichkeit gleich eindringliche Stimme, die dem Geschehen Sprache gibt. Diese Sprache betreibt Mimikry nicht mit dem Zerfall der bürgerlichen Hausordnung, sondern mit ihrer Inversion und Pervertierung. In dunkler Ironie parodiert sie immer wieder den Gestus von Regeln und Merksätzen, die keinen Widerspruch dulden. Dem Soziologen der Behörde, des Betriebs, des Transports verdankt diese Prosa ihren scharfen Blick, der Schulung an der Prager deutschsprachigen Literatur die halluzinatorische Kraft der in sie eingeschmolzenen Träume, Erinnerungen und Großaufnahmen: des zu verlassenden Hauses in Stupart, der Kaubewegung eines Essenden, des an Hunger und Entkräftung sterbenden Leopold Lustig. Die Chronik der Erniedrigungen ist, vor allem im Umkreis der Schwester Zerline, die die "Reise ins Blaue" anzutreten hat, mit Verkehrungen von Märchenmotiven durchsetzt.
Wir sind unter dem Einfluss Celans gewohnt, die Literatur des Holocaust der Poetik des Unsagbaren zu unterstellen. In ihr ist das Misstrauen gegen jede "heil gebliebene" Sprache nur durch eine Lyrik zu beruhigen, die dem Verstummen abgerungen ist. Hierzu bildet die "Reise" einen Gegenpol, der kaum traditionsbildend geworden ist. Der Name "Auschwitz" ist darin dem Schweigen überantwortet. Aber das Interesse Adlers an Klopstock galt gewiss nicht der Rhetorik des Unsagbaren, sondern der Aufhebung des höchsten Pathos im Rhythmus gebundener Sprache. Vom Rhythmischen der Dichtung ist die Prosa in diesem Buch durchdrungen. Erinnerungen an den Blankvers der deutschen Dramatik seit Lessing weckt sie auf fast jeder Seite. Bildungsreminiszenzen sind das nicht. Sondern straffe Fäden, die dieser Prosa das Dichte und Reißfeste unverwüstlicher Vorkriegsware geben. Das ist ihre Alternative zur "versehrten", aus dem Verstummen kommenden Lyrik: das Bündnis mit der Zeit als Dauer, das in die Sprache gebaute, fest gefügte Denkmal für die Opfer der Vernichtung.
Adler wollte der "Reise" den Untertitel "Eine Ballade" geben. Das war nicht nur eine Abgrenzung vom Dokumentarischen und ein Bekenntnis zur "sagbarsten" aller Formen von Dichtung, in der Erzählung, Drama und Gedicht zusammenfinden. Als Hannah Arendt in "Eichmann in Jerusalem" (1964) die Formel von der "Banalität des Bösen" prägte, hat Adler ihr widersprochen. Aus seiner soziologischen Funktion habe der Täter Eichmann bei all seiner Mediokrität eine "furchtbare Größe" gewonnen. Man dürfe sie nicht schon deshalb verkennen, weil sich beim Angeklagten kaum mehr Spuren davon zeigten: "nur das Schlechte vermag banal zu sein, doch nie das Böse".
Dieser Einspruch gegen Hannah Arendt könnte als Motto über dem Buch "Die Reise" stehen. Das aus den "soziologischen Funktionen" hervorgegangene Böse findet in der "Ballade" die ihm angemessene Form, weil es nicht banal war. Man lese nur die werbeprospektartigen Passagen zum Krematorium und alle Seiten, auf denen von Müllbeseitigung, Straßenfegern und Leichenkarrenziehern die Rede ist. Darin wird das Wort "Abfall" zum Schlüsselbegriff des Buches. Adler überführt das Grauen und das Unheimliche, das in der Prager Literatur stets zu Hause war, in eine soziologisch geläuterte, von allem Phantastischen befreite Darstellung des Dämonischen. Sein "Ruhenthal" ist eine Welt von Gespenstern, denen gegenüber der Leser nicht darauf pochen kann, sie seien unwirklich. Paul, der Überlebende, stößt am Ende der "Reise", nach dem Taumeln in die Freiheit, nicht nur auf Mauern des Schweigens und taube Ohren. Er findet einen Zuhörer, dem er seine Geschichte erzählen kann. Daraus geht die Verwandlung des Überlebenden in den Heimkehrer hervor. "Das Bild Zerlinens naht seinen Gedanken ohne Betrübnis, auch die Eltern kommen heran und sehen friedlich aus. Paul neigt sich vor ihnen, und ohne Scheu betrachtet er die Toten, die mit ihm sind. Er vertraut darauf, sich vor ihnen nicht mehr schämen zu müssen, dass er die Reise weiter wagen will und sich der Hand des Lebens überwiesen hat."
Sehr früh, aber unbeachtet, hat Adler dem Erzählen vom Holocaust die Bindung an das älteste Motiv aller Epik zurückgewonnen: die Zustimmung zur Welt. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hatten im Odysseus-Kapitel ihrer "Dialektik der Aufklärung" geschrieben: "Heimat ist das Entronnensein". Das war die Erfahrung der Emigration, noch ohne Aussicht auf Rückkehr. Adler schildert auf den Schlussseiten seines Buches den Aufbruch des Überlebenden in die Heimatstadt Stupart. Auf dieser Heimkehr ruht die Last der Toten. Aber sie ist ein Schritt über das Entronnensein hinaus. Darum hat es am Ende der Überlebende inmitten der Wartenden am Bahnhof eilig: "Er glaubt, sie winken ihm zu einer guten Reise, weil der Abfall überwunden ist."
H. G. Adler: "Eine Reise". Roman. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1999. 315 S., geb., 38,- DM.
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H. G. Adlers Buch "Eine Reise" · Von Lothar Müller
Der Leiter der "Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Böhmen und Mähren", ein Stellvertreter Adolf Eichmanns im besetzten Prag, hieß Hans Günther. Er wird kaum wahrgenommen haben, dass sich unter den Prager Juden, die im Februar 1942 nach Theresienstadt gebracht wurden, ein Mann namens Hans Günther Adler befand. Der Sohn des Buchbinders Emil Alfred Adler war damals Anfang dreißig. Seine Dissertation über "Klopstock und die Musik" lag schon einige Jahre zurück, auch die Arbeit im Prager Volksbildungshaus Urania, in das er, noch vor 1938, Elias Canetti zu einer Lesung aus dem Roman "Die Blendung" eingeladen hatte.
Anders als seine Frau und seine Schwiegermutter überlebte Adler die Deportation nach Auschwitz im Oktober 1944. Die Materialien, die er seit 1942 für ein wissenschaftliches Buch über das Lager zusammengetragen hatte, gingen nicht verloren. Der Rabbiner Leo Baeck, Präsident der Reichsvertretung der Juden und seit 1943 in Theresienstadt, hatte sie gerettet. Seit Oktober 1945 arbeitete Adler in Prag an seinem Manuskript, im Frühjahr 1947 verließ er seine Heimatstadt und wanderte nach London aus. Dort stellte er im folgenden Jahr die Urfassung seines Buches fertig. Einen Verleger fand er zunächst nicht dafür. Es erschien in einer überarbeiteten Fassung erst im Jahre 1955 bei C. B. Mohr in Tübingen: "Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft". Für den Druckkostenzuschuss hatte Theodor W. Adorno gesorgt. Der Name des Verfassers war auf dem Titel, wie eine Signatur, in einer handschriftlich wirkenden Typographie gesetzt. Umso mehr musste auffallen, dass die Vornamen zu Initialen verkürzt waren: "H. G. Adler". Der Aufmerksamkeit des Erforschers der Lagerwelt war der SS-Mann in der Prager Dienststelle nicht entgangen. Hans Günther Adler löschte in dem Namen, den er künftig tragen wollte, den des Handlangers der Vernichtung. Doch war dies keine Triumphgeste, sondern ein Akt der Notwehr. In der Zäsur, die er durch den Rückzug auf die Initialen markierte, war die Versehrung festgeschrieben, der er in den Zeiten des Namensentzugs und der Anonymisierung ausgesetzt gewesen war.
Man könnte aus Adlers Werk eine Anthologie unter dem Titel "Die Verstörung" herausschreiben und sie der Theorie des Überlebens entgegensetzen, die Elias Canetti in "Masse und Macht" entwickelt hat. Viele Stücke darin würden den Romanen und Gedichten entstammen, die Adler parallel zu seinem wissenschaftlichen Werk verfasste. Elias Canetti, Heimito von Doderer und Heinrich Böll schätzten den Erzähler. Doch ist dieser in dem Historiographen und Soziologen verschwunden, der seinen durch die Theresienstadt-Analyse gewonnenen Ruf mit der Studie "Der verwaltete Mensch" (1960), dem Rückblick "Die Juden in Deutschland" (1960) und der Dokumentation "Auschwitz. Zeugnisse und Berichte" (1962) festigte.
Den Roman "Eine Reise" hat Adler in den Jahren 1950 und 1951 geschrieben. Lange fand er dafür keinen deutschen Verleger. Als er im Jahr 1962 in der "bibliotheca christiana" erschien, blieb er zwar von der Kritik nicht unbemerkt. Doch hatte der Kleinverlag in Bonn nicht die Mittel, im großen Stimmengewirr um den Prozess und die eben erfolgte Hinrichtung Adolf Eichmanns das literarische Gedenkbuch der Deportation zur Geltung zu bringen. Nun liegt es, von Jeremy Adler, dem Sohn des Autors, mit einem erhellenden Nachwort versehen, wieder vor und wirkt wie eine Flaschenpost aus ferner Zeit, verfasst in einer Prosa, wie sie heute niemand mehr schreibt. Die vorgetäuschte Holocaust-Zeugenschaft des Binjamin Wilkomirski ist gerade in sich zusammengebrochen. Er hatte auf den Stoffhunger nach grässlichen Details und die Suggestion des Autobiographischen spekuliert. Dass Adlers Buch zum bedeutendsten literarischen Werk seines Autors wurde, verdankt sich der Konsequenz, mit der es auf jegliche Ausstellung des Autobiographischen verzichtet.
Als Historiker und Soziologe nannte H. G. Adler die Opfer und Täter beim Namen, lokalisierte Ort und Zeit, stellte Glossare zur Sprache der Vernichtungsbürokratie zusammen. In diesem Buch sucht er die größtmögliche Entfernung zu allem Dokumentarisch-Reportagehaften, und er gewährt Begriffen wie "Konzentrationslager" oder "Deportation" keinen Einlass. Er entwirft, als Gegenmacht zur empirisch-faktischen Geschichte, eine poetische Ordnung, die Namensentzug, Umbenennung und Anonymisierung in ihren Dienst nimmt. Der alte Arzt Leopold Lustig und seine Frau, die beiden Geschwister Zerline und Paul sowie die Tante Ida werden nicht von Prag nach Theresienstadt, sondern von "Stupart" nach "Ruhenthal" verbracht. Die Nachbarstadt des Lagers hat ihren Namen Leitmeritz an das imaginäre "Leitenberg" abgeben müssen. Der Erzähler spannt den Bogen vom Abtransport der Familie aus der Wohnung in Stupart bis zum Umherirren des Überlebenden, Paul, in einer zerstörten Stadt namens "Unkenburg", die mit dem Halberstadt des Jahres 1945 verwandt ist. Aber er spannt ihn nicht in Form einer Erzählung. Eine verlässliche Chronologie enthält er dem Leser vor, halsstarrig verwehrt er es den Ereignissen, in den Hafen des besiegelnden Imperfekts einzulaufen.
Nicht nur vom autobiographischen Ich ist dieser Erzähler meilenweit entfernt, sondern von jedem Ich, dem eine eigene Geschichte zukommen könnte. Er ist nichts als die anonyme, in ihrem Sarkasmus wie in ihrer Sachlichkeit gleich eindringliche Stimme, die dem Geschehen Sprache gibt. Diese Sprache betreibt Mimikry nicht mit dem Zerfall der bürgerlichen Hausordnung, sondern mit ihrer Inversion und Pervertierung. In dunkler Ironie parodiert sie immer wieder den Gestus von Regeln und Merksätzen, die keinen Widerspruch dulden. Dem Soziologen der Behörde, des Betriebs, des Transports verdankt diese Prosa ihren scharfen Blick, der Schulung an der Prager deutschsprachigen Literatur die halluzinatorische Kraft der in sie eingeschmolzenen Träume, Erinnerungen und Großaufnahmen: des zu verlassenden Hauses in Stupart, der Kaubewegung eines Essenden, des an Hunger und Entkräftung sterbenden Leopold Lustig. Die Chronik der Erniedrigungen ist, vor allem im Umkreis der Schwester Zerline, die die "Reise ins Blaue" anzutreten hat, mit Verkehrungen von Märchenmotiven durchsetzt.
Wir sind unter dem Einfluss Celans gewohnt, die Literatur des Holocaust der Poetik des Unsagbaren zu unterstellen. In ihr ist das Misstrauen gegen jede "heil gebliebene" Sprache nur durch eine Lyrik zu beruhigen, die dem Verstummen abgerungen ist. Hierzu bildet die "Reise" einen Gegenpol, der kaum traditionsbildend geworden ist. Der Name "Auschwitz" ist darin dem Schweigen überantwortet. Aber das Interesse Adlers an Klopstock galt gewiss nicht der Rhetorik des Unsagbaren, sondern der Aufhebung des höchsten Pathos im Rhythmus gebundener Sprache. Vom Rhythmischen der Dichtung ist die Prosa in diesem Buch durchdrungen. Erinnerungen an den Blankvers der deutschen Dramatik seit Lessing weckt sie auf fast jeder Seite. Bildungsreminiszenzen sind das nicht. Sondern straffe Fäden, die dieser Prosa das Dichte und Reißfeste unverwüstlicher Vorkriegsware geben. Das ist ihre Alternative zur "versehrten", aus dem Verstummen kommenden Lyrik: das Bündnis mit der Zeit als Dauer, das in die Sprache gebaute, fest gefügte Denkmal für die Opfer der Vernichtung.
Adler wollte der "Reise" den Untertitel "Eine Ballade" geben. Das war nicht nur eine Abgrenzung vom Dokumentarischen und ein Bekenntnis zur "sagbarsten" aller Formen von Dichtung, in der Erzählung, Drama und Gedicht zusammenfinden. Als Hannah Arendt in "Eichmann in Jerusalem" (1964) die Formel von der "Banalität des Bösen" prägte, hat Adler ihr widersprochen. Aus seiner soziologischen Funktion habe der Täter Eichmann bei all seiner Mediokrität eine "furchtbare Größe" gewonnen. Man dürfe sie nicht schon deshalb verkennen, weil sich beim Angeklagten kaum mehr Spuren davon zeigten: "nur das Schlechte vermag banal zu sein, doch nie das Böse".
Dieser Einspruch gegen Hannah Arendt könnte als Motto über dem Buch "Die Reise" stehen. Das aus den "soziologischen Funktionen" hervorgegangene Böse findet in der "Ballade" die ihm angemessene Form, weil es nicht banal war. Man lese nur die werbeprospektartigen Passagen zum Krematorium und alle Seiten, auf denen von Müllbeseitigung, Straßenfegern und Leichenkarrenziehern die Rede ist. Darin wird das Wort "Abfall" zum Schlüsselbegriff des Buches. Adler überführt das Grauen und das Unheimliche, das in der Prager Literatur stets zu Hause war, in eine soziologisch geläuterte, von allem Phantastischen befreite Darstellung des Dämonischen. Sein "Ruhenthal" ist eine Welt von Gespenstern, denen gegenüber der Leser nicht darauf pochen kann, sie seien unwirklich. Paul, der Überlebende, stößt am Ende der "Reise", nach dem Taumeln in die Freiheit, nicht nur auf Mauern des Schweigens und taube Ohren. Er findet einen Zuhörer, dem er seine Geschichte erzählen kann. Daraus geht die Verwandlung des Überlebenden in den Heimkehrer hervor. "Das Bild Zerlinens naht seinen Gedanken ohne Betrübnis, auch die Eltern kommen heran und sehen friedlich aus. Paul neigt sich vor ihnen, und ohne Scheu betrachtet er die Toten, die mit ihm sind. Er vertraut darauf, sich vor ihnen nicht mehr schämen zu müssen, dass er die Reise weiter wagen will und sich der Hand des Lebens überwiesen hat."
Sehr früh, aber unbeachtet, hat Adler dem Erzählen vom Holocaust die Bindung an das älteste Motiv aller Epik zurückgewonnen: die Zustimmung zur Welt. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hatten im Odysseus-Kapitel ihrer "Dialektik der Aufklärung" geschrieben: "Heimat ist das Entronnensein". Das war die Erfahrung der Emigration, noch ohne Aussicht auf Rückkehr. Adler schildert auf den Schlussseiten seines Buches den Aufbruch des Überlebenden in die Heimatstadt Stupart. Auf dieser Heimkehr ruht die Last der Toten. Aber sie ist ein Schritt über das Entronnensein hinaus. Darum hat es am Ende der Überlebende inmitten der Wartenden am Bahnhof eilig: "Er glaubt, sie winken ihm zu einer guten Reise, weil der Abfall überwunden ist."
H. G. Adler: "Eine Reise". Roman. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1999. 315 S., geb., 38,- DM.
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"'Eine Reise' ist (...) schon längst in den Kanon der wichtigsten Romane über die nationalsozialistischen Judendeportationen eingegangen. (...) Virtuos bis zur Schmerz- und Verstehensgrenze beschwört Adler die beklemmende Existenz von Menschen herauf, die aus der Welt gefallen sind. (...) So unnachgiebig Adler die unüberwindliche Grenze zwischen Tätern und Opfern, ihren jeweiligen Begriffen, Wirklichkeiten und ihrem Verständnis der Ereignisse festhält, seinen Überlebenden lässt er alle Hoffnung auf Gnade setzen. Das ist nach all der Unerbittlichkeit eine berührende Wendung." Jörg Plath, Tagesspiegel, 27.05.1999 "Vom Rhythmischen der Dichtung ist die Prosa in diesem Buch durchdrungen. (...) Das sind straffe Fäden, die dieser Prosa das Dichte und Reißfeste unverwüstlicher Vorkriegsware geben. Das ist ihre Alternative zur 'versehrten', aus dem Verstummen kommenden Lyrik; das Bündnis mit der Zeit als Dauer, das in die Sprache gebaute, fest gefügte Denkmal für die Opfer der Vernichtung. (...) Das literarische Gedenkbuch der Deportation liegt nun wieder vor und wirkt wie eine Flaschenpost aus ferner Zeit. (...) Sehr früh, aber unbeachtet, hat Adler dem Erzählen vom Holocaust die Bindung an das älteste Motiv aller Epik zurückgewonnen: die Zustimmung zur Welt." Lothar Müller, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.11.1999 "Durch Verfremdung und Befremdung bringt Adler die erschütterndsten Einsichten in die Schwebe des (Alp-) Traumhaften und veranlaßt so den Leser, die abgründige Wirklichkeit zu ergänzen." Iris Buchheim, Falter "In balladesken Lyrismen macht Adler den Arbeitseinsatz, die Todesanlagen, die zu Abfall verkommenden Menschen ganz schwerelos, ohne dem Geschehen das Grauen zu nehmen. Ein Versuch, für das selbst Erlebte eine Form des Erinnerns zu schaffen, einen gangbaren Weg für die Reise zurück." Hans Roller, Der Tagesspiegel "Eine Reise halte ich für ein Meisterwerk (...). Ich möchte sagen, dass Adler die Hoffnung in der modernen Literatur wieder eingeführt hat." Elias Canetti