Das kinderlose Ehepaar Walt und Judy zieht den Schimpansen Looee in den
Hügeln von Vermont wie ihren eigenen Sohn auf. Ihr Haus hält dem Wirbelwind
in Kinderkleidung und seinem Tatendrang kaum stand. Aber die Familie
lebt ihre besondere Version eines liebevollen Miteinanders.
Bis der charmante, lustige und sympathische Affe eines Abends nach einem
fürchterlichen Wutanfall plötzlich aus seiner heilen Welt gerissen und in ein
Labor gesteckt wird. Nach einer behüteten Kindheit wird der Held zu einem
isolierten Versuchsobjekt, infiziert mit HIV, degradiert auf die unterste Stufe
einer nun gar nicht mehr menschlichen Existenz. Erst in einem Freigehege, wo
Verhalten und Sprache einer Gruppe von Schimpansen untersucht werden, bekommt
er eine zweite Chance ? in einer anderen und doch nicht so anderen Art
von Familie.
Sowohl aus menschlicher Sicht als auch aus der von Schimpansen erzählt
Colin McAdam von Liebe und Freundschaft, von Macht und Konflikten, von
tiefen Gefühlen und existenziellen Bedürfnissen, die alle Primaten teilen. Er
gibt dem Leser die Botschaft mit auf den Weg, unsere nächsten Verwandten
als wichtigen Bestandteil unserer Welt (auch der literarischen) wahrzunehmen.
Hügeln von Vermont wie ihren eigenen Sohn auf. Ihr Haus hält dem Wirbelwind
in Kinderkleidung und seinem Tatendrang kaum stand. Aber die Familie
lebt ihre besondere Version eines liebevollen Miteinanders.
Bis der charmante, lustige und sympathische Affe eines Abends nach einem
fürchterlichen Wutanfall plötzlich aus seiner heilen Welt gerissen und in ein
Labor gesteckt wird. Nach einer behüteten Kindheit wird der Held zu einem
isolierten Versuchsobjekt, infiziert mit HIV, degradiert auf die unterste Stufe
einer nun gar nicht mehr menschlichen Existenz. Erst in einem Freigehege, wo
Verhalten und Sprache einer Gruppe von Schimpansen untersucht werden, bekommt
er eine zweite Chance ? in einer anderen und doch nicht so anderen Art
von Familie.
Sowohl aus menschlicher Sicht als auch aus der von Schimpansen erzählt
Colin McAdam von Liebe und Freundschaft, von Macht und Konflikten, von
tiefen Gefühlen und existenziellen Bedürfnissen, die alle Primaten teilen. Er
gibt dem Leser die Botschaft mit auf den Weg, unsere nächsten Verwandten
als wichtigen Bestandteil unserer Welt (auch der literarischen) wahrzunehmen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2013Schicksalsgeschichte eines Schimpansen
Arme Kreatur: Colin McAdams "Eine schöne Wahrheit"
Es gibt kaum ein anderes Land der westlichen Welt, in dem "Home" und "Family" mit mehr Sentimentalität und Glanz in den Augen ausgesprochen werden als in Amerika. Wer die obligatorischen Fragen nach Familie, Kindern und eigenem Haus nicht positiv beantworten kann, wird mit Bedauern als leicht beschädigtes Wesen angesehen. Judy und Walter Ribke in Colin McAdams drittem Roman können lediglich eine funktionierende Ehe und ein hübsches Anwesen im Landschaftsparadies Vermont vorweisen, jedoch keinen eigenen Nachwuchs. Um die Meinung anderer will man sich zwar nicht kümmern, die sozialen Normen erzeugen aber doch das Gefühl eines Mangels und innerer Leere.
Statt ein Kind zu adoptieren, ziehen Judy und Walt einen noch ganz jungen Schimpansen groß, der dreizehn Jahre lang wie ein Sohn mit ihnen lebt. "Wir haben es eben mit Tieren", erklärt Judy etwas verlegen ihrer Freundin Susan. Und natürlich lächelt jeder verständnisvoll, denn Respekt vor der Privatsphäre anderer ist im amerikanischen Selbstverständnis ebenso tief verwurzelt wie das geradezu religiöse Bekenntnis zur Familie. Ein wenig Heuchelei und Tratsch schließt das ja nicht aus, Hauptsache, die Fassade ist sauber gestrichen, und Störungen dringen nicht über den Gartenzaun hinaus nach draußen.
Die Ribkes richten sich mit Hingabe und Liebe auf ihren neuen Mitbewohner Looee ein. Affen sind in der Weltliteratur alles andere als selten, ihr Auffassungsvermögen und Nachahmungsgeschick hat Schriftsteller seit je fasziniert. Im Unterschied zu gelehrigen Gesellen wie E. T. A. Hoffmanns Milo oder Kafkas Rotpeter ist Looee von phantastischen, übertierischen Zügen indes weitgehend frei. McAdam versucht ein realistisches Bild zu entwerfen, die bizarre Tierbiographie soll möglichst glaubwürdig sein. Um dieses Ziel zu erreichen, fließt ungeheuer viel Wissen aus der aktuellen Primatenforschung ein. Der Erzählstrang über die Familie Ribke wird immer wieder durchflochten von Protokollberichten aus einem Forschungsinstitut in Florida, in dem das Sozialverhalten einer Schimpansenkolonie ausgewertet wird. Dass dort zugleich grausame Experimente mit auf engstem Raum internierten Tieren stattfinden, die mit Erregern wie HIV infiziert wurden und nur noch sehr selten das Tageslicht erblicken, erfährt man erst später in dem Buch.
Von einem Sachbuch unterscheidet es sich durch die literarische Darstellung. Looees Entwicklungsgeschichte basiert zwar auf Forschungsergebnissen, sie dienen hier aber zur Konstruktion einer ungewöhnlich engen und persönlichen Beziehung zwischen Mensch und Tier. McAdam begnügt sich nicht mit der in Florida aus einfachen Symbolverkettungen gewonnenen und in die Protokolle aus der Studienkolonie eingearbeiteten rudimentären "Sprache" der Affen, sondern erzählt auch aus Looees innerer Perspektive über seine Wünsche, Intentionen, Träume. Das ist der kühne psychologisierende Schritt über eine Vielzahl von Beobachtungen, Verhaltensuntersuchungen und Verständigungsexperimenten hinaus. Judy bemuttert den kleinen Schimpansen, kleidet ihn mit Sorgfalt, kocht ihm seine Lieblingsspeisen, lehrt ihn den Umgang mit Besteck, Bierdose und Toilette. Walt behandelt ihn wie einen Kumpel, nimmt ihn mit in die Kneipe und zum Angeln, spielt mit ihm und baut dem Heranwachsenden eine eigene Behausung, weil er in Küche und Wohnzimmer allzu viel Unfug treibt. Dann kommt Looee in eine Art Pubertät, nicht nur Judys Freundin Susan erregt ihn, sondern auch Bilder in Versandkatalogen und Magazinen. Launen und Eifersucht sind besonders dann zu beobachten, wenn Fremde das Grundstück betreten, manche mag er, andere attackiert er aber trotzig, vor allem, wenn sie sich über ihn lustig machen. Solche kleineren und größeren Zwischenfälle bringen dem Zuhause der Ribkes bald den Ruf eines "Affenhauses" ein und rufen sogar das Veterinäramt und einen Lokalpolitiker auf den Plan.
Nach einem gefährlichen Angriff, bei dem außer Judy ein Freund des Hauses lebensgefährlich verletzt wird, entzieht man Looee der Familie. Er findet sich in die Primatenstation in Florida wieder, wo er über Jahre in Experimenten für die Pharmaindustrie systematisch gequält wird. Looee, der sich den Menschen stets näher als den nackten und schmutzigen "Hundewesen" um ihn herum verbunden fühlt, gelangt erst am Ende in jenes Freigehege, aus dem schon während des ganzen Romans in der Sprache der Schimpansen berichtet wurde. Eine Integration des menschlich degenerierten Looee will jedoch nicht gelingen, er ist und bleibt ein arroganter Außenseiter in dieser Gemeinschaft.
"A Beautiful Truth", von Eike Schönfeld geschmeidig übersetzt, handelt nicht nur von schönen, sondern auch von bitteren Wahrheiten. Der Wunsch des Menschen, von seinen tierischen Hausgenossen verstanden zu werden und diese selbst zu verstehen, geht eben nur teilweise in Erfüllung. Auch mit Milo und Rotpeter erlebt man trotz aller Kultiviertheit tierische Rückschläge. Bei Looee ist der Grat zwischen biologischem Realismus und einem hypothetisch abgeleiteten Entwicklungsniveau oft schmal und für den Laien schwer auszumachen. Man fragt sich, ob manche der erstaunlichen Verhaltensweisen aus Beobachtungen und Experimenten hervorgehen oder sich eher schönen Hoffnungen verdanken. Die Einsicht, dass höhere Affen ihrer selbst bewusst sind und sogar einen Sinn für eigenes Fehlverhalten besitzen, mögen Verhaltensforscher und Tierschützer schön nennen. Die Kategorie von Schuld ist auf sie dennoch kaum anwendbar, Looees Verbannung in ein Tiergefängnis ist bitter. Das von McAdam sentimental nahegelegte Mitleid verdient Looee nicht als vermenschlichter oder hart bestrafter Affe, sondern höchstens als missbrauchtes und gequältes Tier.
ALEXANDER KOSENINA
Colin McAdam: "Eine schöne Wahrheit".
Roman.
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Wagenbach Verlag, Berlin 2013. 284 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Arme Kreatur: Colin McAdams "Eine schöne Wahrheit"
Es gibt kaum ein anderes Land der westlichen Welt, in dem "Home" und "Family" mit mehr Sentimentalität und Glanz in den Augen ausgesprochen werden als in Amerika. Wer die obligatorischen Fragen nach Familie, Kindern und eigenem Haus nicht positiv beantworten kann, wird mit Bedauern als leicht beschädigtes Wesen angesehen. Judy und Walter Ribke in Colin McAdams drittem Roman können lediglich eine funktionierende Ehe und ein hübsches Anwesen im Landschaftsparadies Vermont vorweisen, jedoch keinen eigenen Nachwuchs. Um die Meinung anderer will man sich zwar nicht kümmern, die sozialen Normen erzeugen aber doch das Gefühl eines Mangels und innerer Leere.
Statt ein Kind zu adoptieren, ziehen Judy und Walt einen noch ganz jungen Schimpansen groß, der dreizehn Jahre lang wie ein Sohn mit ihnen lebt. "Wir haben es eben mit Tieren", erklärt Judy etwas verlegen ihrer Freundin Susan. Und natürlich lächelt jeder verständnisvoll, denn Respekt vor der Privatsphäre anderer ist im amerikanischen Selbstverständnis ebenso tief verwurzelt wie das geradezu religiöse Bekenntnis zur Familie. Ein wenig Heuchelei und Tratsch schließt das ja nicht aus, Hauptsache, die Fassade ist sauber gestrichen, und Störungen dringen nicht über den Gartenzaun hinaus nach draußen.
Die Ribkes richten sich mit Hingabe und Liebe auf ihren neuen Mitbewohner Looee ein. Affen sind in der Weltliteratur alles andere als selten, ihr Auffassungsvermögen und Nachahmungsgeschick hat Schriftsteller seit je fasziniert. Im Unterschied zu gelehrigen Gesellen wie E. T. A. Hoffmanns Milo oder Kafkas Rotpeter ist Looee von phantastischen, übertierischen Zügen indes weitgehend frei. McAdam versucht ein realistisches Bild zu entwerfen, die bizarre Tierbiographie soll möglichst glaubwürdig sein. Um dieses Ziel zu erreichen, fließt ungeheuer viel Wissen aus der aktuellen Primatenforschung ein. Der Erzählstrang über die Familie Ribke wird immer wieder durchflochten von Protokollberichten aus einem Forschungsinstitut in Florida, in dem das Sozialverhalten einer Schimpansenkolonie ausgewertet wird. Dass dort zugleich grausame Experimente mit auf engstem Raum internierten Tieren stattfinden, die mit Erregern wie HIV infiziert wurden und nur noch sehr selten das Tageslicht erblicken, erfährt man erst später in dem Buch.
Von einem Sachbuch unterscheidet es sich durch die literarische Darstellung. Looees Entwicklungsgeschichte basiert zwar auf Forschungsergebnissen, sie dienen hier aber zur Konstruktion einer ungewöhnlich engen und persönlichen Beziehung zwischen Mensch und Tier. McAdam begnügt sich nicht mit der in Florida aus einfachen Symbolverkettungen gewonnenen und in die Protokolle aus der Studienkolonie eingearbeiteten rudimentären "Sprache" der Affen, sondern erzählt auch aus Looees innerer Perspektive über seine Wünsche, Intentionen, Träume. Das ist der kühne psychologisierende Schritt über eine Vielzahl von Beobachtungen, Verhaltensuntersuchungen und Verständigungsexperimenten hinaus. Judy bemuttert den kleinen Schimpansen, kleidet ihn mit Sorgfalt, kocht ihm seine Lieblingsspeisen, lehrt ihn den Umgang mit Besteck, Bierdose und Toilette. Walt behandelt ihn wie einen Kumpel, nimmt ihn mit in die Kneipe und zum Angeln, spielt mit ihm und baut dem Heranwachsenden eine eigene Behausung, weil er in Küche und Wohnzimmer allzu viel Unfug treibt. Dann kommt Looee in eine Art Pubertät, nicht nur Judys Freundin Susan erregt ihn, sondern auch Bilder in Versandkatalogen und Magazinen. Launen und Eifersucht sind besonders dann zu beobachten, wenn Fremde das Grundstück betreten, manche mag er, andere attackiert er aber trotzig, vor allem, wenn sie sich über ihn lustig machen. Solche kleineren und größeren Zwischenfälle bringen dem Zuhause der Ribkes bald den Ruf eines "Affenhauses" ein und rufen sogar das Veterinäramt und einen Lokalpolitiker auf den Plan.
Nach einem gefährlichen Angriff, bei dem außer Judy ein Freund des Hauses lebensgefährlich verletzt wird, entzieht man Looee der Familie. Er findet sich in die Primatenstation in Florida wieder, wo er über Jahre in Experimenten für die Pharmaindustrie systematisch gequält wird. Looee, der sich den Menschen stets näher als den nackten und schmutzigen "Hundewesen" um ihn herum verbunden fühlt, gelangt erst am Ende in jenes Freigehege, aus dem schon während des ganzen Romans in der Sprache der Schimpansen berichtet wurde. Eine Integration des menschlich degenerierten Looee will jedoch nicht gelingen, er ist und bleibt ein arroganter Außenseiter in dieser Gemeinschaft.
"A Beautiful Truth", von Eike Schönfeld geschmeidig übersetzt, handelt nicht nur von schönen, sondern auch von bitteren Wahrheiten. Der Wunsch des Menschen, von seinen tierischen Hausgenossen verstanden zu werden und diese selbst zu verstehen, geht eben nur teilweise in Erfüllung. Auch mit Milo und Rotpeter erlebt man trotz aller Kultiviertheit tierische Rückschläge. Bei Looee ist der Grat zwischen biologischem Realismus und einem hypothetisch abgeleiteten Entwicklungsniveau oft schmal und für den Laien schwer auszumachen. Man fragt sich, ob manche der erstaunlichen Verhaltensweisen aus Beobachtungen und Experimenten hervorgehen oder sich eher schönen Hoffnungen verdanken. Die Einsicht, dass höhere Affen ihrer selbst bewusst sind und sogar einen Sinn für eigenes Fehlverhalten besitzen, mögen Verhaltensforscher und Tierschützer schön nennen. Die Kategorie von Schuld ist auf sie dennoch kaum anwendbar, Looees Verbannung in ein Tiergefängnis ist bitter. Das von McAdam sentimental nahegelegte Mitleid verdient Looee nicht als vermenschlichter oder hart bestrafter Affe, sondern höchstens als missbrauchtes und gequältes Tier.
ALEXANDER KOSENINA
Colin McAdam: "Eine schöne Wahrheit".
Roman.
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Wagenbach Verlag, Berlin 2013. 284 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In seinem dritten Roman "Eine schöne Wahrheit" wagt der kanadische Schriftsteller Colin McAdam ein mutiges und gelungenes Experiment, berichtet Rezensent Felix Stephan. McAdams Versuch, einem Schimpansen eine Sprache zu geben, die ohne die menschliche Interpretation des Gefühlslebens auskommt, ist allemal die - gelegentlich etwas "mühevolle" - Lektüre wert, so Stephan. Und so folgt er gebannt dem Schimpansen Looee, der als Baby von dem kinderlosen Ehepaar Walt and Judy aufgenommen wird und bald darauf für anderthalb Jahrzehnte in einem Versuchslabor pharmazeutischen Versuchen ausgesetzt wird. Tief beeindruckt liest der Kritiker, wie der Erzähler auch bei seinen menschlichen Protagonisten versucht, nur das zu berichten, was zu sehen ist - und so lernt Stephan hier, wie sehr das soziale Leben durch die Interpretation von Körperhaltungen, Blicken und Untertönen geprägt ist. Sein Urteil: Ein lesenswertes Buch, das nicht zuletzt die Beobachtungsgabe schult.
© Perlentaucher Medien GmbH
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