"Ein sarkastisch makabres Loblied auf den sowjetischen Geheimdienst, der die Ausbreitung der Pest verhindert - und dabei offenbart, wie allumfassend er bereits die Gesellschaft vergiftet hat." Ingo Schulze
Moskau 1939. Rudolf Iwanowitsch Mayer berichtet über den Stand der Entwicklung eines Impfstoffs gegen die Pest. Niemand ahnt, dass der Forscher selbst infiziert ist. Aber am Abend wird er ins Krankenhaus gebracht. Diagnose: Lungenpest. Das Krankenhaus wird unter Quarantäne gestellt, wer mit ihm Kontakt hatte, zu Hause abgeholt. In der Zeit des Großen Terrors fürchtet jeder, in Stalins Folterkeller zu kommen. Oberst Pawljuk erschießt sich, als der schwarze Wagen vor seiner Tür hält, eine Frau verrät ihren Mann an den Geheimdienst ... Was geschieht, wenn eine Epidemie auf eine paralysierte Gesellschaft trifft? Scharfsichtig und mit großer Empathie beobachtet Ljudmila Ulitzkaja die Reaktionen der Menschen.
Moskau 1939. Rudolf Iwanowitsch Mayer berichtet über den Stand der Entwicklung eines Impfstoffs gegen die Pest. Niemand ahnt, dass der Forscher selbst infiziert ist. Aber am Abend wird er ins Krankenhaus gebracht. Diagnose: Lungenpest. Das Krankenhaus wird unter Quarantäne gestellt, wer mit ihm Kontakt hatte, zu Hause abgeholt. In der Zeit des Großen Terrors fürchtet jeder, in Stalins Folterkeller zu kommen. Oberst Pawljuk erschießt sich, als der schwarze Wagen vor seiner Tür hält, eine Frau verrät ihren Mann an den Geheimdienst ... Was geschieht, wenn eine Epidemie auf eine paralysierte Gesellschaft trifft? Scharfsichtig und mit großer Empathie beobachtet Ljudmila Ulitzkaja die Reaktionen der Menschen.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Andreas Breitenstein erkennt die Klasse der russischen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja daran, wie sie mit ihrem Roman das Genre des Seuchenthrillers bedient und zugleich unterläuft. Dabei ist "Eine Seuche in der Stadt" für den Rezensenten in erster Linie eine politische Parabel: Ein Seuchenforscher aus Saratow wird unsinniger Weise nach Moskau beordert, es ist das Jahr 1937, schon auf dem Weg beginnt sein Fieber. Bald versuchen die Behörden, alle Infizierten aufzuspüren, um die Verbeitung zu stoppen, erzählt Breitenstein weiter, "Stalin aber versteht nur Sabotage." Breitenstein goutiert die sprechenden Szenen und den sprachlichen Witz und findet es besonders reizvoll, dass Ulitzkaja diesen Text über eine politische Pest nur leicht umgearbeitet hat, der auf einem - nicht realisierten - Drehbuch aus dem Jahr 1978 beruht, wie er informiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2021Roter Terror und Schwarzer Tod
Ein Manuskript als Flaschenpost: Ljudmila Ulitzkaja schildert, wie Stalins Geheimdienst eine Pandemie vereitelte
Patient null hieß Abraham Berlin. Im Winter 1939 hatte sich der russische Mikrobiologe aus Saratow bei einem Tierversuch mit einem noch nicht freigegebenen Pest-Impfstoff infiziert und war ohne Wissen über die eigene Ansteckung zu einer Dienstreise nach Moskau aufgebrochen. Dort sollte er das vor der Zulassung stehende Vakzin der obersten Gesundheitsbehörde vorstellen. Offiziell galt die auch als "septische Grippe" oder Form11 umschriebene Pest in der Sowjetunion seit 1938 als ausgerottet, doch vor allem in den südlichen Republiken kam es immer wieder zu streng geheim gehaltenen Ausbrüchen.
Im Land der Zukunft waren Seuchen aus einer rückständigen Vergangenheit tabu. Die Verbreitung vermeintlich "böswilliger" Gerüchte über Epidemien wurde drastisch geahndet. Abraham Berlin kam mit Verdacht auf Lungenentzündung in ein Moskauer Krankenhaus, wo der ebenso umsichtige wie todesmutige Arzt Simon Gorelik Lungenpest diagnostizierte. Er schloss sich mit dem Infizierten ein, informierte die staatlichen Stellen und löste damit eine beispiellose von Stalins Geheimdienst organisierte Kontaktverfolgung aus. Bei Dutzenden Personen stand der gefürchtete NKWD vor der Tür. Es kam zu einem nahezu vollständigen Absonderungsgewahrsam der Kontaktpersonen in wenigen Stunden. Drei Menschen starben: Neben den Medizinern auch ein Friseur, bei dem sich Berlin kurz vor seiner wichtigen Präsentation im Hotel hatte rasieren lassen. Die Epidemie konnte verhindert werden. Alle Informationen über die gerade noch gebannte tödliche Gefahr für die Millionenmetropole Moskau wanderten in geheim gehaltene Archive, darunter die pathologischen Obduktionsprotokolle.
So weit zum historisch verbrieften Hintergrund des neuen Buchs der grande dame der russischen Literatur, Ljudmila Ulitzkaja. Verblüffend daran ist die Tatsache, dass es bereits 1978 entstand, als Bewerbungsskript für ein Drehbuchseminar. Wie im Nachwort zu lesen ist, hatte Ulitzkaja von der Tochter eines 1939 involvierten Pathologen von dem Vorfall erfahren. Weniger verwundert, dass aus dem Manuskript nie ein Film wurde. Es verschwand in der Schublade, bis es der Autorin während des Lockdowns im letzten Jahr wieder in die Hände fiel. Seuchen galten in der Sowjetunion als Seuchen der anderen, dass sie hausgemacht sein könnten, wurde, wie etwa beim Ausbruch einer Milzbrandepidemie 1979 in Swerdlowsk, totgeschwiegen. Dort hatte man bei der Entwicklung biologischer Waffen einen Luftfilter vergessen. Fast siebzig Menschen starben. Offiziell hieß es, Gammelfleisch wäre die Ursache.
Ehrlicherweise betitelt der Verlag das hundert Seiten schmale Bändchen als Szenario und nicht als Roman. Mit extrem knapp gehaltenen Dialogen und in lakonisch beschriebenen Szenen wird die Bekämpfung einer biologischen Pest mit den Mitteln einer totalitär-politischen Hygienemaschinerie erzählt. Manch einer flieht, es kommt zu einem Selbstmord, denn jeder weiß, in welcher Absicht Stalins gefürchteter NKWD die Menschen normalerweise nachts aus den Wohnungen holt. Erklärungen werden nicht gegeben und selten erfragt. Die meisten Figuren bleiben skizzenhaft, mit Ausnahme der beiden Protagonisten, die hier Mayer und Sorin heißen. Überraschenderweise gelingt es Ulitzkaja gerade mit diesem eigenwilligen Genre des Fragmentarischen, die bedrückende Atmosphäre jener Zeit präzise einzufangen: Angst, schwelender Antisemitismus (viele Wissenschaftler waren jüdischer Herkunft), Obrigkeitshörigkeit, Naivität, ideologisch motivierte Wissensfeindlichkeit, Denunziation. Es ist Winter, meist ist es Nacht, hinter dem Vorhang des Seuchenspektakels agiert der "Sehr Mächtige Mann". Alles passiert sehr schnell, die Quasifestnahmen erfolgen nahezu im Minutentakt. Am Ende siegt der rote Terror über den Schwarzen Tod, und es bleibt die beunruhigende Frage unserer Tage im Raum, ob autoritäre Regimes mit ihren drakonischen Methoden in der Bekämpfung von Pandemien im Vorteil sind. Die Seuchenbekämpfung fungiert in allen politischen Systemen als Gradmesser staatlicher Handlungsfähigkeit.
Im Subtext des Szenarios findet sich noch eine andere Tragödie, die der studierten Biologin und Genetikerin Ulitzkaja schon 1978 bestens bekannt war. Mit Mayer im Zugabteil reist ein Gänsezüchter, der seinen Tieren das Leben in bitterer Kälte anerziehen wollte. Diese angeblich frostbeständigen Wundertiere sollen der staatlichen Akademie der Wissenschaften vorgestellt werden. Zum Leidwesen des Züchters verenden sie auf dem eisigen Zugperron. In dieser Episode versteckt sich die vulgärwissenschaftliche Kampagne des Biologen Lyssenko, der die Genetik als bourgeoise Wissenschaft auszuradieren suchte: Es gäbe keine Vererbung, alles könnte an- und umerzogen werden. Zwei Jahre vor dem bei Ulitzkaja beschriebenen bakteriologischen Unfall wurden im Großen Terror nahezu alle Koryphäen der sowjetischen Genetik und Mikrobiologie hingerichtet oder zu Zwangsarbeit verurteilt, darunter auch der Direktor des besagten Instituts für Mikrobiologie und Epidemiologie in Saratow, Sergej Nikanorow. Die Seuchenerforschung wurde wie andere Lebenswissenschaften in der Sowjetunion um Jahre zurückgeworfen.
Vorsichtig antwortet Mayer auf die Bemerkung des Gänsemannes, alles Leben hielte sich an die Gesetze des Marxismus-Leninismus: Seine Mikroben wüssten davon leider nichts.
SABINE BERKING
Ljudmila Ulitzkaja:
"Eine Seuche in der Stadt".
Szenario.
Mit einem Nachwort der Autorin. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Verlag, München 2021. 112 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Manuskript als Flaschenpost: Ljudmila Ulitzkaja schildert, wie Stalins Geheimdienst eine Pandemie vereitelte
Patient null hieß Abraham Berlin. Im Winter 1939 hatte sich der russische Mikrobiologe aus Saratow bei einem Tierversuch mit einem noch nicht freigegebenen Pest-Impfstoff infiziert und war ohne Wissen über die eigene Ansteckung zu einer Dienstreise nach Moskau aufgebrochen. Dort sollte er das vor der Zulassung stehende Vakzin der obersten Gesundheitsbehörde vorstellen. Offiziell galt die auch als "septische Grippe" oder Form11 umschriebene Pest in der Sowjetunion seit 1938 als ausgerottet, doch vor allem in den südlichen Republiken kam es immer wieder zu streng geheim gehaltenen Ausbrüchen.
Im Land der Zukunft waren Seuchen aus einer rückständigen Vergangenheit tabu. Die Verbreitung vermeintlich "böswilliger" Gerüchte über Epidemien wurde drastisch geahndet. Abraham Berlin kam mit Verdacht auf Lungenentzündung in ein Moskauer Krankenhaus, wo der ebenso umsichtige wie todesmutige Arzt Simon Gorelik Lungenpest diagnostizierte. Er schloss sich mit dem Infizierten ein, informierte die staatlichen Stellen und löste damit eine beispiellose von Stalins Geheimdienst organisierte Kontaktverfolgung aus. Bei Dutzenden Personen stand der gefürchtete NKWD vor der Tür. Es kam zu einem nahezu vollständigen Absonderungsgewahrsam der Kontaktpersonen in wenigen Stunden. Drei Menschen starben: Neben den Medizinern auch ein Friseur, bei dem sich Berlin kurz vor seiner wichtigen Präsentation im Hotel hatte rasieren lassen. Die Epidemie konnte verhindert werden. Alle Informationen über die gerade noch gebannte tödliche Gefahr für die Millionenmetropole Moskau wanderten in geheim gehaltene Archive, darunter die pathologischen Obduktionsprotokolle.
So weit zum historisch verbrieften Hintergrund des neuen Buchs der grande dame der russischen Literatur, Ljudmila Ulitzkaja. Verblüffend daran ist die Tatsache, dass es bereits 1978 entstand, als Bewerbungsskript für ein Drehbuchseminar. Wie im Nachwort zu lesen ist, hatte Ulitzkaja von der Tochter eines 1939 involvierten Pathologen von dem Vorfall erfahren. Weniger verwundert, dass aus dem Manuskript nie ein Film wurde. Es verschwand in der Schublade, bis es der Autorin während des Lockdowns im letzten Jahr wieder in die Hände fiel. Seuchen galten in der Sowjetunion als Seuchen der anderen, dass sie hausgemacht sein könnten, wurde, wie etwa beim Ausbruch einer Milzbrandepidemie 1979 in Swerdlowsk, totgeschwiegen. Dort hatte man bei der Entwicklung biologischer Waffen einen Luftfilter vergessen. Fast siebzig Menschen starben. Offiziell hieß es, Gammelfleisch wäre die Ursache.
Ehrlicherweise betitelt der Verlag das hundert Seiten schmale Bändchen als Szenario und nicht als Roman. Mit extrem knapp gehaltenen Dialogen und in lakonisch beschriebenen Szenen wird die Bekämpfung einer biologischen Pest mit den Mitteln einer totalitär-politischen Hygienemaschinerie erzählt. Manch einer flieht, es kommt zu einem Selbstmord, denn jeder weiß, in welcher Absicht Stalins gefürchteter NKWD die Menschen normalerweise nachts aus den Wohnungen holt. Erklärungen werden nicht gegeben und selten erfragt. Die meisten Figuren bleiben skizzenhaft, mit Ausnahme der beiden Protagonisten, die hier Mayer und Sorin heißen. Überraschenderweise gelingt es Ulitzkaja gerade mit diesem eigenwilligen Genre des Fragmentarischen, die bedrückende Atmosphäre jener Zeit präzise einzufangen: Angst, schwelender Antisemitismus (viele Wissenschaftler waren jüdischer Herkunft), Obrigkeitshörigkeit, Naivität, ideologisch motivierte Wissensfeindlichkeit, Denunziation. Es ist Winter, meist ist es Nacht, hinter dem Vorhang des Seuchenspektakels agiert der "Sehr Mächtige Mann". Alles passiert sehr schnell, die Quasifestnahmen erfolgen nahezu im Minutentakt. Am Ende siegt der rote Terror über den Schwarzen Tod, und es bleibt die beunruhigende Frage unserer Tage im Raum, ob autoritäre Regimes mit ihren drakonischen Methoden in der Bekämpfung von Pandemien im Vorteil sind. Die Seuchenbekämpfung fungiert in allen politischen Systemen als Gradmesser staatlicher Handlungsfähigkeit.
Im Subtext des Szenarios findet sich noch eine andere Tragödie, die der studierten Biologin und Genetikerin Ulitzkaja schon 1978 bestens bekannt war. Mit Mayer im Zugabteil reist ein Gänsezüchter, der seinen Tieren das Leben in bitterer Kälte anerziehen wollte. Diese angeblich frostbeständigen Wundertiere sollen der staatlichen Akademie der Wissenschaften vorgestellt werden. Zum Leidwesen des Züchters verenden sie auf dem eisigen Zugperron. In dieser Episode versteckt sich die vulgärwissenschaftliche Kampagne des Biologen Lyssenko, der die Genetik als bourgeoise Wissenschaft auszuradieren suchte: Es gäbe keine Vererbung, alles könnte an- und umerzogen werden. Zwei Jahre vor dem bei Ulitzkaja beschriebenen bakteriologischen Unfall wurden im Großen Terror nahezu alle Koryphäen der sowjetischen Genetik und Mikrobiologie hingerichtet oder zu Zwangsarbeit verurteilt, darunter auch der Direktor des besagten Instituts für Mikrobiologie und Epidemiologie in Saratow, Sergej Nikanorow. Die Seuchenerforschung wurde wie andere Lebenswissenschaften in der Sowjetunion um Jahre zurückgeworfen.
Vorsichtig antwortet Mayer auf die Bemerkung des Gänsemannes, alles Leben hielte sich an die Gesetze des Marxismus-Leninismus: Seine Mikroben wüssten davon leider nichts.
SABINE BERKING
Ljudmila Ulitzkaja:
"Eine Seuche in der Stadt".
Szenario.
Mit einem Nachwort der Autorin. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Verlag, München 2021. 112 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.02.2021Wenn die Pest ein Trost ist
Ljudmila Ulitzkaja erzählt in ihrem neuen Buch beunruhigend lakonisch, wie in der Sowjetunion einmal beinahe eine Epidemie ausgebrochen wäre
Wer unter der Corona-Pandemie und den sie begleitenden Maßnahmen ächzt, für den hat die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja einen Trost parat: Es könnte auch die Pest sein. Corona überleben ungefähr 98 Prozent der Patienten, Lungenpest ziemlich genau null Prozent.
Eher durch Zufall ist die 1943 geborene Ulitzkaja, die von Beruf ursprünglich Biologin war, diesmal auf ihren Stoff gestoßen: Im Jahr 1939, kurz nach den Schauprozessen, aber noch vor Beginn des Großen Vaterländischen Krieges, infizierte sich in einem mikrobiologischen Labor der Sowjetunion einer der Forscher, und zwar unmittelbar bevor er zu einer Reise nach Moskau aufbrach, um auf einer Tagung seine Ergebnisse zu präsentieren.
Alle Voraussetzungen für eine unkontrollierbare Epidemie lagen damit vor. Dank der hohen Effizienz der sowjetischen Medizin und der noch höheren des Geheimdienstes NKWD wurde sie abgewendet. Ulitzkaja hatte schon in den Siebzigern versucht, daraus einen Film zu machen, damit aber, kaum verwunderlich, keinen Erfolg gehabt. Jetzt, in Corona-Zeiten, hat sie ihre alten Unterlagen wieder ausgegraben und ein Buch geschrieben.
Man merkt „Eine Seuche in der Stadt“ an, dass es eigentlich ein Film hätte werden sollen – keineswegs zu seinem Schaden. Der Verlag hat dankenswerterweise darauf verzichtet (wie es sonst fast immer bei Texten über 70 Seiten geschieht), es als Roman zu deklarieren, und stattdessen „Szenario“ unter den Titel gesetzt. Das trifft es. Es besteht aus lauter kurzen Szenen, und diese überwiegend aus Dialogen; die Passagen dazwischen tragen den Charakter von Regieanweisungen.
Entsprechend den ausgreifenden Quarantänemaßnahmen treten Dutzende Akteure auf, so viele, dass am Schluss des schmalen Bandes das Personal noch einmal in einer mehrseitigen Übersicht zusammengefasst werden muss, nach Gruppen geordnet und mit ihren dreiteiligen russischen Namen für den westlichen Leser nicht ohne Anstrengung im Gedächtnis zu behalten. Als Letzter in der Kategorie „Sonstige“ erscheint ein „sehr mächtiger Mann mit georgischem Akzent“, der nur ein paar knappe Auftritte hat, aber selbstredend die Hauptfigur ist – neben der Pest natürlich.
Nebenbei entsteht so auch ein Panorama der Gesellschaft in den Jahren des Stalinismus, oder besser eine Fülle punktueller Einblicke. Auf der Eisenbahnfahrt hat der Mikrobenforscher (der, ohne es zu wissen, schon den Keim des Todes in sich trägt) als Reisegefährten einen Gänsezüchter, der daran glaubt, dass das Vieh nur „erzogen“ werden muss, und dann könnte es ohne Ställe den sibirischen Winter ertragen. Als seine mitgeführten Gänse unterwegs erfrieren, bricht er in Tränen aus: Aber sie hätten schon viel tiefere Minusgrade ausgehalten!
Eine Frau und Parteigenossin der ersten Stunde, die ihren Mann für verhaftet halten muss, unterwirft sich der quälenden Selbsterforschung, denn die Partei kann ja nicht irren, und kommt zum Ergebnis, dass sie schon lang bei ihrem Gatten kleinbürgerliche Abweichungen wahrgenommen hat; der aufnehmende Bürokrat, der weiß, dass es sich bloß um Quarantäne und nicht ums Straflager handelt, dies aber gemäß höherer Weisung nicht mitteilen darf, versucht sie vergeblich davon abzubringen, eine entsprechende Denunziation zu Protokoll zu geben. Und aus einem gestohlenen Paar mit Hundepelz gefütterter Winterstiefel ergibt sich eine nur halb komödienhafte Nebenhandlung, denn ohne solches Schuhwerk kann man in Russland nicht überleben.
Die große Streubreite im Raum und das hohe Tempo entsprechen formal wie inhaltlich den damaligenVorgängen. In fliegender Hast werden die Kontaktwege nachgezeichnet und die aufgefundenen Personen isoliert. Öffentliche Debatten über Maskenpflicht und Bürgerrechte finden nicht statt und wären in dieser brandgefährlichen Situation auch wohl eher kontraproduktiv gewesen.
Stattdessen rücken die „Schwarzen Raben“ aus, die Transportwagen der Polizei, und die Beamten tun, worin sie in den vergangenen Jahren einige Übung erlangt haben: nachts an Türen klopfen und Leute mitnehmen.
Jeder der Festgesetzten muss glauben, dass ihm Genickschuss oder Gulag bevorstehen; einer von ihnen nutzt die wenigen Sekunden, die ihm bleiben, zum Selbstmord durch Kopfschuss, das wäre wohl unter die Kollateralschäden zu rechnen. Mit der Aufklärung der zu Tode Geängstigten haben es die offiziellen Stellen selbstverständlich nicht eilig.
Widerstrebend räumt Ulitzkaja, die zu Putins bekanntesten und beherztesten Kritikern gehört, in ihrem Nachwort ein, dass in diesem Fall der Geheimdienst und seine Methoden doch etwas Positives bewirkt hätten. „Die Sicherheitsorgane waren stärker als die Kräfte der Natur. Das bietet Stoff zum Nachdenken . . .“ Die drei Pünktchen deuten an, dass die Autorin diesen Prozess noch nicht abgeschlossen hat.
Gelesen hat man das Buch in kaum zwei Stunden
– und danach das Gefühl, als wäre direkt neben einem ein Güterzug mit hoher Geschwindigkeit vorbeigefahren. Es klingeln noch die Ohren.
Als alles vorüber und die Gefahr gebannt ist, kommt es zu folgender Szene: „Bei Bezirksarzt Kossel zu Hause. Seine Frau sitzt im Sessel. Vor ihr auf dem Tisch liegt das Foto des Sohnes (eines vermissten Polarforschers, dessen Tod sie nicht verwunden hat). ,Serjosha? Ich dachte, du kommst auch nicht wieder. Serjosha? Was war das, Serjosha?‘ Sie sieht ihn an, und zum ersten Mal ist ihr Blick aufmerksam und konzentriert. ,Dina, es war die Pest. Nur die Pest!‘, antwortet Kossel und umschließt mit beiden Händen die mageren Hände seiner Frau. ,Nur die Pest?‘, fragt Dina. Er nickt. ,Und ich dachte ...‘“
Was sie dachte, braucht sie nicht auszuformulieren, jeder in diesem Riesenland weiß es in diesen Jahren ohnehin; und es wäre auch sehr gefährlich, es genauer sagen zu wollen.
Es gibt Gesellschaftsordnungen, wo es ein Trost sein kann, wenn es nur die Pest ist. Dass diese und alle anderen Szenen im Deutschen so knapp, lebendig und beunruhigend wirken, verdanken sie der Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt.
BURKHARD MÜLLER
Jeder der Festgesetzten muss
glauben, dass ihm Genickschuss
oder Gulag bevorstehen
Ljudmila Ulitzkaja:
Eine Seuche in der Stadt.
Szenario. Aus dem
Russischen von
Ganna-Maria Braungardt.
Carl Hanser Verlag,
München 2021.
112 Seiten, 16 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ljudmila Ulitzkaja erzählt in ihrem neuen Buch beunruhigend lakonisch, wie in der Sowjetunion einmal beinahe eine Epidemie ausgebrochen wäre
Wer unter der Corona-Pandemie und den sie begleitenden Maßnahmen ächzt, für den hat die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja einen Trost parat: Es könnte auch die Pest sein. Corona überleben ungefähr 98 Prozent der Patienten, Lungenpest ziemlich genau null Prozent.
Eher durch Zufall ist die 1943 geborene Ulitzkaja, die von Beruf ursprünglich Biologin war, diesmal auf ihren Stoff gestoßen: Im Jahr 1939, kurz nach den Schauprozessen, aber noch vor Beginn des Großen Vaterländischen Krieges, infizierte sich in einem mikrobiologischen Labor der Sowjetunion einer der Forscher, und zwar unmittelbar bevor er zu einer Reise nach Moskau aufbrach, um auf einer Tagung seine Ergebnisse zu präsentieren.
Alle Voraussetzungen für eine unkontrollierbare Epidemie lagen damit vor. Dank der hohen Effizienz der sowjetischen Medizin und der noch höheren des Geheimdienstes NKWD wurde sie abgewendet. Ulitzkaja hatte schon in den Siebzigern versucht, daraus einen Film zu machen, damit aber, kaum verwunderlich, keinen Erfolg gehabt. Jetzt, in Corona-Zeiten, hat sie ihre alten Unterlagen wieder ausgegraben und ein Buch geschrieben.
Man merkt „Eine Seuche in der Stadt“ an, dass es eigentlich ein Film hätte werden sollen – keineswegs zu seinem Schaden. Der Verlag hat dankenswerterweise darauf verzichtet (wie es sonst fast immer bei Texten über 70 Seiten geschieht), es als Roman zu deklarieren, und stattdessen „Szenario“ unter den Titel gesetzt. Das trifft es. Es besteht aus lauter kurzen Szenen, und diese überwiegend aus Dialogen; die Passagen dazwischen tragen den Charakter von Regieanweisungen.
Entsprechend den ausgreifenden Quarantänemaßnahmen treten Dutzende Akteure auf, so viele, dass am Schluss des schmalen Bandes das Personal noch einmal in einer mehrseitigen Übersicht zusammengefasst werden muss, nach Gruppen geordnet und mit ihren dreiteiligen russischen Namen für den westlichen Leser nicht ohne Anstrengung im Gedächtnis zu behalten. Als Letzter in der Kategorie „Sonstige“ erscheint ein „sehr mächtiger Mann mit georgischem Akzent“, der nur ein paar knappe Auftritte hat, aber selbstredend die Hauptfigur ist – neben der Pest natürlich.
Nebenbei entsteht so auch ein Panorama der Gesellschaft in den Jahren des Stalinismus, oder besser eine Fülle punktueller Einblicke. Auf der Eisenbahnfahrt hat der Mikrobenforscher (der, ohne es zu wissen, schon den Keim des Todes in sich trägt) als Reisegefährten einen Gänsezüchter, der daran glaubt, dass das Vieh nur „erzogen“ werden muss, und dann könnte es ohne Ställe den sibirischen Winter ertragen. Als seine mitgeführten Gänse unterwegs erfrieren, bricht er in Tränen aus: Aber sie hätten schon viel tiefere Minusgrade ausgehalten!
Eine Frau und Parteigenossin der ersten Stunde, die ihren Mann für verhaftet halten muss, unterwirft sich der quälenden Selbsterforschung, denn die Partei kann ja nicht irren, und kommt zum Ergebnis, dass sie schon lang bei ihrem Gatten kleinbürgerliche Abweichungen wahrgenommen hat; der aufnehmende Bürokrat, der weiß, dass es sich bloß um Quarantäne und nicht ums Straflager handelt, dies aber gemäß höherer Weisung nicht mitteilen darf, versucht sie vergeblich davon abzubringen, eine entsprechende Denunziation zu Protokoll zu geben. Und aus einem gestohlenen Paar mit Hundepelz gefütterter Winterstiefel ergibt sich eine nur halb komödienhafte Nebenhandlung, denn ohne solches Schuhwerk kann man in Russland nicht überleben.
Die große Streubreite im Raum und das hohe Tempo entsprechen formal wie inhaltlich den damaligenVorgängen. In fliegender Hast werden die Kontaktwege nachgezeichnet und die aufgefundenen Personen isoliert. Öffentliche Debatten über Maskenpflicht und Bürgerrechte finden nicht statt und wären in dieser brandgefährlichen Situation auch wohl eher kontraproduktiv gewesen.
Stattdessen rücken die „Schwarzen Raben“ aus, die Transportwagen der Polizei, und die Beamten tun, worin sie in den vergangenen Jahren einige Übung erlangt haben: nachts an Türen klopfen und Leute mitnehmen.
Jeder der Festgesetzten muss glauben, dass ihm Genickschuss oder Gulag bevorstehen; einer von ihnen nutzt die wenigen Sekunden, die ihm bleiben, zum Selbstmord durch Kopfschuss, das wäre wohl unter die Kollateralschäden zu rechnen. Mit der Aufklärung der zu Tode Geängstigten haben es die offiziellen Stellen selbstverständlich nicht eilig.
Widerstrebend räumt Ulitzkaja, die zu Putins bekanntesten und beherztesten Kritikern gehört, in ihrem Nachwort ein, dass in diesem Fall der Geheimdienst und seine Methoden doch etwas Positives bewirkt hätten. „Die Sicherheitsorgane waren stärker als die Kräfte der Natur. Das bietet Stoff zum Nachdenken . . .“ Die drei Pünktchen deuten an, dass die Autorin diesen Prozess noch nicht abgeschlossen hat.
Gelesen hat man das Buch in kaum zwei Stunden
– und danach das Gefühl, als wäre direkt neben einem ein Güterzug mit hoher Geschwindigkeit vorbeigefahren. Es klingeln noch die Ohren.
Als alles vorüber und die Gefahr gebannt ist, kommt es zu folgender Szene: „Bei Bezirksarzt Kossel zu Hause. Seine Frau sitzt im Sessel. Vor ihr auf dem Tisch liegt das Foto des Sohnes (eines vermissten Polarforschers, dessen Tod sie nicht verwunden hat). ,Serjosha? Ich dachte, du kommst auch nicht wieder. Serjosha? Was war das, Serjosha?‘ Sie sieht ihn an, und zum ersten Mal ist ihr Blick aufmerksam und konzentriert. ,Dina, es war die Pest. Nur die Pest!‘, antwortet Kossel und umschließt mit beiden Händen die mageren Hände seiner Frau. ,Nur die Pest?‘, fragt Dina. Er nickt. ,Und ich dachte ...‘“
Was sie dachte, braucht sie nicht auszuformulieren, jeder in diesem Riesenland weiß es in diesen Jahren ohnehin; und es wäre auch sehr gefährlich, es genauer sagen zu wollen.
Es gibt Gesellschaftsordnungen, wo es ein Trost sein kann, wenn es nur die Pest ist. Dass diese und alle anderen Szenen im Deutschen so knapp, lebendig und beunruhigend wirken, verdanken sie der Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt.
BURKHARD MÜLLER
Jeder der Festgesetzten muss
glauben, dass ihm Genickschuss
oder Gulag bevorstehen
Ljudmila Ulitzkaja:
Eine Seuche in der Stadt.
Szenario. Aus dem
Russischen von
Ganna-Maria Braungardt.
Carl Hanser Verlag,
München 2021.
112 Seiten, 16 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Nichts darin ist erfunden. Es ist vielmehr die höhere Wahrheit, die Literatur den rohen Tatsachen zu geben vermag." Bernhard Schulz, Der Tagesspiegel, 18.04.21
"Ein Glanzstück bitterer Ironie. ... Wo Ljudmila Ulitzkaja mit leiser Ironie die fluide Dramatik der Epidemie mit dem zähen Albtraum des Stalinismus kurzschliesst, findet der Roman zu seinen stärksten Momenten. Der Ausnahmezustand lässt das Intime öffentlich und das Öffentliche intim, das Tragische komisch und das Komische tragisch werden." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 15.03.21
"Aktuell wie nie. ... 'Eine Seuche in der Stadt' liest sich wie ein Roman noir; knapp, elegant und in seinem rasanten Tempo dem Thema angemessen." Christian Esch und Ele Schmitter, Der Spiegel, 13.02.21
"Ulitzkaja gelingt es gerade mit diesem eigenwilligen Genre des Fragmentarischen, die bedrückende Atmosphäre jener Zeit präzise einzufangen." Sabine Berking, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.02.21
"Ein tiefschwarzes Stück. ... Ulitzkaja zeichnet ein beängstigendes Bild einer vom politischen Terror krank gemachten Gesellschaft." Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 31.01.21
"Es gibt Gesellschaftsordnungen, wo es ein Trost sein kann, wenn es nur die Pest ist. Dass diese und alle anderen Szenen im Deutschen so knapp, lebendig und beunruhigend wirken, verdanken sie der Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 06.02.21
"Ein grausig-gutes Buch." Cornelia Geißler, Frankfurter Rundschau, 27.01.21
"Ein Glanzstück bitterer Ironie. ... Wo Ljudmila Ulitzkaja mit leiser Ironie die fluide Dramatik der Epidemie mit dem zähen Albtraum des Stalinismus kurzschliesst, findet der Roman zu seinen stärksten Momenten. Der Ausnahmezustand lässt das Intime öffentlich und das Öffentliche intim, das Tragische komisch und das Komische tragisch werden." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 15.03.21
"Aktuell wie nie. ... 'Eine Seuche in der Stadt' liest sich wie ein Roman noir; knapp, elegant und in seinem rasanten Tempo dem Thema angemessen." Christian Esch und Ele Schmitter, Der Spiegel, 13.02.21
"Ulitzkaja gelingt es gerade mit diesem eigenwilligen Genre des Fragmentarischen, die bedrückende Atmosphäre jener Zeit präzise einzufangen." Sabine Berking, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.02.21
"Ein tiefschwarzes Stück. ... Ulitzkaja zeichnet ein beängstigendes Bild einer vom politischen Terror krank gemachten Gesellschaft." Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 31.01.21
"Es gibt Gesellschaftsordnungen, wo es ein Trost sein kann, wenn es nur die Pest ist. Dass diese und alle anderen Szenen im Deutschen so knapp, lebendig und beunruhigend wirken, verdanken sie der Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 06.02.21
"Ein grausig-gutes Buch." Cornelia Geißler, Frankfurter Rundschau, 27.01.21