Über das Lesen als Akt der weiblichen Selbstbestimmung.Monika Hinterberger begibt sich auf einen geschichtlichen Streifzug und verfolgt zahlreiche Spuren lesender Frauen zurück bis in die Antike. Anhand von Abbildungen, die Frauen mit Büchern zeigen, hinterfragt sie die Vorstellung, dass das weibliche Geschlecht über lange Zeiten hinweg des Lesens völlig unkundig war. Wo Frauen lesen lernten, welche Bücher sie aufschlugen und mit welchen Interessen und Erwartungen sie die Lektüre verfolgten, sind nur einige der Fragen, die die Autorin beantwortet. Deutlich wird vor allem eines: Lesen zu können schuf Voraussetzungen für selbstbestimmtes Handeln, es gab den Frauen die Möglichkeit, zu lernen, sich Bildung anzueignen und eigene Wege zu gehen. Und es konnte auf Neues, auf Unerwartetes weisen - auf eine Spur von Glück.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020Nicht ohne ihre Bücher!
Ermächtigung verlangt nach Wissen: Monika Hinterbergers Studie "Eine Spur von Glück" spürt dem Motiv lesender Frauen in der Kulturgeschichte nach.
Von Rose-Maria Gropp
Hinter dem Titel dieses Buchs verbirgt sich ein Streifzug durch die Historie von der Antike bis ins zwanzigste Jahrhundert, der viel mehr umfasst als die eher bescheidene Ankündigung. Es geht um Frauen als Lesende und damit, genauso entscheidend, als Schreibende. Es geht um eine Sozialgeschichte der Beteiligung am intellektuellen, überhaupt am gesellschaftlichen Leben, ermöglicht durch die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens. Und es geht sehr prinzipiell um den Nachweis der Ermächtigung von Frauen zur Teilhabe an Bildung: "Dieses Buch ist ein sehr persönliches. Es erzählt von meiner Begegnung mit Bildern lesender Frauen." Die Autorin fragt sich, wie angesichts der Fülle solcher Bilder, auch aus weit zurückliegenden Epochen, der Eindruck entstehen konnte, dass "Frauen, von Angehörigen des Adels und des gebildeten Bürgertums abgesehen, über lange Zeiten hinweg großenteils des Lesens unkundig waren".
Monika Hinterberger ist in ihren zehn Kapiteln, vor denen immer ein Kunstwerk steht, geleitet vom Interesse, die Frauen aus dieser Nische zu holen. Es beginnt mit einer rotfigurigen Lekythos, einem kleinen Gefäß, in dem Öl oder Salben aufbewahrt wurden, aus Attika, um 440/30 vor Christus. Dort hält eine Frau eine Schriftrolle aus Papyrus in Händen, neben ihr steht eine geöffnete Büchertruhe. Was als Darstellung seinen Weg auf einen solchen Alltagsgegenstand gefunden hat, so die Autorin, müsse nicht Ausnahme gewesen sein, sondern vielleicht Vorbild. Sie entfaltet eine Vorstellung weiblicher Lebenswelten im antiken Griechenland, von unterrichtenden Müttern und Lehrerinnen, die Bildung und soziale Kompetenz weitergaben an Mädchen und Jungen, von musischen "Frauenräumen" bis hin zur Beteiligung an philosophischen Zirkeln.
Dem einmal aufgenommenen Faden folgt sie weiter durch die Zeiten. Sie findet ihre Erwägungen in der römischen Welt bestätigt, wo der Dichter Ovid in seiner "Ars Amatoria" den jungen Frauen empfohlen habe: "Kennen sollst du auch Sappho" - die griechische Lyrikerin, die um 600 vor Christus lebte. Sie zieht dann weiter ins Mittelalter, wo lesende Frauen in der Kunst zum gängigen Bildthema wurden. Ein Steinfries mit über Büchern disputierenden Frauen in der Benediktinerabtei Werden aus der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts gilt ihr als Beleg für die wichtige von Frauen geleistete Arbeit in "einer noch wenig hierarchisierten Kirche" des Christentums. Es geht natürlich nicht ohne den Abstecher zur von ihrer Mutter Anna lernenden und dann - im entscheidenden Moment der Verkündigung - selbst gerade gelesen habenden Maria. Dafür wählt Hinterberger als Bildbeispiel Stefan Lochners wunderschönen Altar von 1442 im Kölner Dom. Wobei es ihr gelingt, Details von Lochners Darstellung an die Aktivitäten der Kölner Bürgerinnen zurückzubinden. Als Grundlage von deren Pflichten, aber vor allem Rechten im urbanen Gemeinwesen versteht sie eine in breiteren Schichten vorhandene Lesefähigkeit, jedenfalls den Zugang zu so vermittelten Kenntnissen.
Wobei stets zu bedenken ist: Noch war alles heilsgeschichtliche wie profane Wissen von Hand aufgeschrieben, in zahlreichen Kopien weitergegeben. Es waren immer auch Schreiberinnen, die den wertvollen Dienst leisteten für die Bücher, die dann die Bibliotheken der Adligen und Klöster füllten. Zu erwägen bleibt freilich, dass diese Schreibenden des Mittelalters nicht unbedingt lesen - den Sinn der Texte erfassen und weitertragen - konnten.
Der in Venedig 1364 geborenen Christine de Pizan, die nach Frankreich kam und heute oft als erste Schriftstellerin französischer Sprache gilt, vor allem dank ihres Hauptwerks "Le Livre de la Cité des Dames" von 1405, ist ein zentrales Kapitel gewidmet. Christine - "Je, Christine ..."; was für eine Ansage! - zog in den Kampf gegen herrschende Misogynie als Protofeministin, sie zettelte den ersten Literaturstreit in Frankreich an, der als "Querelle des Femmes" in die Geschichte bis zur Französischen Revolution eingeht.
Es geht weiter, die Erfindung des Buchdrucks verändert alles, über die Protagonistinnen der Renaissance und frühen Neuzeit hin zum ausgehenden achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhundert. "Lesesucht" wird diagnostiziert, die selbstredend männlichen Hüter von Moral und Ordnung befürchten schlimme Schäden, naturgemäß für die Frauen. Doch die Morgenröte der Frauenbewegung ist angebrochen; aus "Einer lesenden Frau" in der Antike wird "Die Lesende" schlechthin, wie das zehnte Kapitel heißt - aufklärerisch, aufsässig, revolutionär. Das Lesen hat die Frauen endgültig ermächtigt zum Zoon politikon, so ließe es sich auch sagen; der Prozess ist nicht reversibel.
Monika Hinterberger erzählt ihre Geschichte mit ruhiger Hand, und wie unter der Hand verfolgt sie eben "eine Spur von Glück". In ihren Kapiteln erscheint eine eindrucksvolle Menge an Namen von Frauen durch alle Zeitläufte, die sie zu ihren Zeuginnen macht, so dass am Ende Marie von Ebner-Eschenbach recht bekommt: "Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt." Das Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung, in seinem Fluss von keinen Anmerkungen unterbrochen, genau das macht es ebenso lesbar wie lesenswert. Es ist nur schade, dass es kein Register der erwähnten Frauen mit ihren Lebensdaten gibt. Aber Monika Hinterberger ist es gelungen, die Fährten auszulegen für die weitere Verfolgung ihrer Spuren von Glück.
Monika Hinterberger: "Eine Spur von Glück". Lesende Frauen in der Geschichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 256 S., Abb., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ermächtigung verlangt nach Wissen: Monika Hinterbergers Studie "Eine Spur von Glück" spürt dem Motiv lesender Frauen in der Kulturgeschichte nach.
Von Rose-Maria Gropp
Hinter dem Titel dieses Buchs verbirgt sich ein Streifzug durch die Historie von der Antike bis ins zwanzigste Jahrhundert, der viel mehr umfasst als die eher bescheidene Ankündigung. Es geht um Frauen als Lesende und damit, genauso entscheidend, als Schreibende. Es geht um eine Sozialgeschichte der Beteiligung am intellektuellen, überhaupt am gesellschaftlichen Leben, ermöglicht durch die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens. Und es geht sehr prinzipiell um den Nachweis der Ermächtigung von Frauen zur Teilhabe an Bildung: "Dieses Buch ist ein sehr persönliches. Es erzählt von meiner Begegnung mit Bildern lesender Frauen." Die Autorin fragt sich, wie angesichts der Fülle solcher Bilder, auch aus weit zurückliegenden Epochen, der Eindruck entstehen konnte, dass "Frauen, von Angehörigen des Adels und des gebildeten Bürgertums abgesehen, über lange Zeiten hinweg großenteils des Lesens unkundig waren".
Monika Hinterberger ist in ihren zehn Kapiteln, vor denen immer ein Kunstwerk steht, geleitet vom Interesse, die Frauen aus dieser Nische zu holen. Es beginnt mit einer rotfigurigen Lekythos, einem kleinen Gefäß, in dem Öl oder Salben aufbewahrt wurden, aus Attika, um 440/30 vor Christus. Dort hält eine Frau eine Schriftrolle aus Papyrus in Händen, neben ihr steht eine geöffnete Büchertruhe. Was als Darstellung seinen Weg auf einen solchen Alltagsgegenstand gefunden hat, so die Autorin, müsse nicht Ausnahme gewesen sein, sondern vielleicht Vorbild. Sie entfaltet eine Vorstellung weiblicher Lebenswelten im antiken Griechenland, von unterrichtenden Müttern und Lehrerinnen, die Bildung und soziale Kompetenz weitergaben an Mädchen und Jungen, von musischen "Frauenräumen" bis hin zur Beteiligung an philosophischen Zirkeln.
Dem einmal aufgenommenen Faden folgt sie weiter durch die Zeiten. Sie findet ihre Erwägungen in der römischen Welt bestätigt, wo der Dichter Ovid in seiner "Ars Amatoria" den jungen Frauen empfohlen habe: "Kennen sollst du auch Sappho" - die griechische Lyrikerin, die um 600 vor Christus lebte. Sie zieht dann weiter ins Mittelalter, wo lesende Frauen in der Kunst zum gängigen Bildthema wurden. Ein Steinfries mit über Büchern disputierenden Frauen in der Benediktinerabtei Werden aus der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts gilt ihr als Beleg für die wichtige von Frauen geleistete Arbeit in "einer noch wenig hierarchisierten Kirche" des Christentums. Es geht natürlich nicht ohne den Abstecher zur von ihrer Mutter Anna lernenden und dann - im entscheidenden Moment der Verkündigung - selbst gerade gelesen habenden Maria. Dafür wählt Hinterberger als Bildbeispiel Stefan Lochners wunderschönen Altar von 1442 im Kölner Dom. Wobei es ihr gelingt, Details von Lochners Darstellung an die Aktivitäten der Kölner Bürgerinnen zurückzubinden. Als Grundlage von deren Pflichten, aber vor allem Rechten im urbanen Gemeinwesen versteht sie eine in breiteren Schichten vorhandene Lesefähigkeit, jedenfalls den Zugang zu so vermittelten Kenntnissen.
Wobei stets zu bedenken ist: Noch war alles heilsgeschichtliche wie profane Wissen von Hand aufgeschrieben, in zahlreichen Kopien weitergegeben. Es waren immer auch Schreiberinnen, die den wertvollen Dienst leisteten für die Bücher, die dann die Bibliotheken der Adligen und Klöster füllten. Zu erwägen bleibt freilich, dass diese Schreibenden des Mittelalters nicht unbedingt lesen - den Sinn der Texte erfassen und weitertragen - konnten.
Der in Venedig 1364 geborenen Christine de Pizan, die nach Frankreich kam und heute oft als erste Schriftstellerin französischer Sprache gilt, vor allem dank ihres Hauptwerks "Le Livre de la Cité des Dames" von 1405, ist ein zentrales Kapitel gewidmet. Christine - "Je, Christine ..."; was für eine Ansage! - zog in den Kampf gegen herrschende Misogynie als Protofeministin, sie zettelte den ersten Literaturstreit in Frankreich an, der als "Querelle des Femmes" in die Geschichte bis zur Französischen Revolution eingeht.
Es geht weiter, die Erfindung des Buchdrucks verändert alles, über die Protagonistinnen der Renaissance und frühen Neuzeit hin zum ausgehenden achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhundert. "Lesesucht" wird diagnostiziert, die selbstredend männlichen Hüter von Moral und Ordnung befürchten schlimme Schäden, naturgemäß für die Frauen. Doch die Morgenröte der Frauenbewegung ist angebrochen; aus "Einer lesenden Frau" in der Antike wird "Die Lesende" schlechthin, wie das zehnte Kapitel heißt - aufklärerisch, aufsässig, revolutionär. Das Lesen hat die Frauen endgültig ermächtigt zum Zoon politikon, so ließe es sich auch sagen; der Prozess ist nicht reversibel.
Monika Hinterberger erzählt ihre Geschichte mit ruhiger Hand, und wie unter der Hand verfolgt sie eben "eine Spur von Glück". In ihren Kapiteln erscheint eine eindrucksvolle Menge an Namen von Frauen durch alle Zeitläufte, die sie zu ihren Zeuginnen macht, so dass am Ende Marie von Ebner-Eschenbach recht bekommt: "Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt." Das Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung, in seinem Fluss von keinen Anmerkungen unterbrochen, genau das macht es ebenso lesbar wie lesenswert. Es ist nur schade, dass es kein Register der erwähnten Frauen mit ihren Lebensdaten gibt. Aber Monika Hinterberger ist es gelungen, die Fährten auszulegen für die weitere Verfolgung ihrer Spuren von Glück.
Monika Hinterberger: "Eine Spur von Glück". Lesende Frauen in der Geschichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 256 S., Abb., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Rose-Maria Gropp liest Monika Hinterbergers Geschichte lesender Frauen als Erzählung des Glücks. Von Bilddarstellungen aus der Antike über die Renaissance bis ins 19. Jahrhundert verfolgt die Autorin laut Gropp mit "ruhiger Hand" die Selbstermächtigung der Frau durch die Lektüre und erzählt eine "Sozialgeschichte" der intellektuellen Beteiligung bis hin zur Frauenbewegung. Dass dabei keine wissenschaftliche Abhandlung herauskommt, gefällt Gropp. Umso lesbarer ist das Buch, dem nur ein Register zum vollständigen Leseglück fehlt, wie die Rezensentin feststellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»ebenso lesbar wie lesenswert« (Rose-Maria Gropp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.2020) »Eine ganz persönliche Reise zu lesenden Frauen, eine lesenswerte, interessante Frauengeschichte aus anderer Sicht, eingebunden in den Kampf der Frauen für ihre Rechte.« (Dieter Schmidmaier, fachbuchjournal 1/2021) »Ihre rekonstruierenden, teils mutmaßenden, aber nie einfach behauptenden Ausführungen ergeben so eine schlüssige Geschichte der Möglichkeiten und Praktiken weiblichen Lesens durch die Jahrhunderte.".« (Luisa Banki, Zeitschrift für Germanistik, 3/2021) »Sehr eindrucksvoll und lesenswert.« (zeitzeichen, Dezember 2020) »Das ist informativ, fesselnd, spannend, manchmal auch erschütternd, es macht neugierig und schärft das Bewusstsein dafür, dass Geschichtsschreibung nicht geschlechtsneutral ist.« (Andrea Groh, querbeet-gelesen.de, 07.04.2021) »Entstanden ist ein aufklärerisch-emanzipatorisches Gesamtkunstwerk, ein feministisch inspiriertes 'enlightenment' und ein starkes Stück 'herstory', das den Genderblick nicht nur durch die Lesebrille verändert.« (Doris Mathilde Lucke, Journal Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung, 48/2021)