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Eine Entdeckung: ein Roman aus dem Jahr 1928, erschienen in der Pariser Emigration und nun neu aus dem Russischen übersetzt.
"In einer fremden Stadt entlieh ich den Titel meines ersten großen Romans bei einer der bemerkenswertesten Straßen meiner Heimatstadt" schrieb Michail Ossorgin, der bereits 1922 auf Lenins Befehl hin die Sowjetunion verlassen musste und es mit diesem Roman zu internationaler Berühmtheit brachte.
Die Straße in Moskau heißt "Siwzew Wrazhek". Es ist eine kleine Straße im Zentrum von Moskau, doch seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit großer literarischer
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Produktbeschreibung
Eine Entdeckung: ein Roman aus dem Jahr 1928, erschienen in der Pariser Emigration und nun neu aus dem Russischen übersetzt.

"In einer fremden Stadt entlieh ich den Titel meines ersten großen Romans bei einer der bemerkenswertesten Straßen meiner Heimatstadt" schrieb Michail Ossorgin, der bereits 1922 auf Lenins Befehl hin die Sowjetunion verlassen musste und es mit diesem Roman zu internationaler Berühmtheit brachte.

Die Straße in Moskau heißt "Siwzew Wrazhek". Es ist eine kleine Straße im Zentrum von Moskau, doch seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit großer literarischer Tradition: Der junge Tolstoj lebte hier, genauso wie Marina Zwetajewa und Pasternaks "Doktor Schiwago" spielte hier zum Teil.

Im Frühjahr 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, beginnt "Eine Straße in Moskau" und endet im Frühlingserwachen des Jahres 1920: Weltkrieg, Revolution und der Kampf zwischen den "Roten" und "Weißen" ist auch durch diese Moskauer Straße gegangen, hat ihre Bewohner zu anderen Menschen gemacht. Wie durch ein Brennglas werden die epochalen Ereignisse im Mikrokosmos eines Professorenhaushalts um den Ornithologen Iwan Alexandrowitsch und seine Enkelin "Tanjuscha" verwundert betrachtet und zu einem Mosaik aus 86 Bildern und Szenen meisterhaft montiert: ein Film in Prosa, ein dramatisches Personal, unvergessliche Szenen, realistisch direkt oder symbolisch-parabelhaft überhöht. "Eine Straße in Moskau" ist ein Zeitroman und die literarische Chronik eines wiederentdeckten großen russischen Stilisten.

1878 als Spross einer Adelsfamilie in Perm/Ural geboren, wurde Michail Ossorgin (eigentlich Iljin) in der Zeit der revolutionären Unruhen des Jahres 1905 als Sozialrevolutionär verhaftet; er floh ins Ausland und kehrte erst mehr als ein Jahrzehnt später nach Russland zurück. Als Kritiker der Bolschewiki wurde Ossorgin zunächst verbannt, dann 1922 mit einer großen Gruppe Intellektueller auf dem berühmten "Philosophenschiff" außer Landes gebracht. Nach einer Zeit in Berlin ließ er sich in Paris nieder und starb als staatenloser Flüchtling 1942 im zentralfranzösischen Chabris.
Autorenporträt
Michail Andrejewitsch Ossorgin oder Iljin, wie er eigentlich hieß, ist bei uns und sogar in Russland eine unbekannte Schriftstellergröße. Er wurde 1878 in Perm geboren, war Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre, nahm am Aufstand von 1905 teil, trat 1913 wegen der Heirat mit Rachil Ginzberg zum Judentum über, wurde 1914 Freimauerer, wirkte nach der Oktoberrevolution gegen die Bolschewisten, wurde 1919 und 1921 verhaftet, kam jeweils nach Interventionen wieder frei und wurde schließlich 1921 mit anderen Intellektuellen des Landes verwiesen. Nach einer Zeit in Berlin ließ sich Ossorgin schließlich in Paris nieder, wo er andere Emigranten, wie Boris Sajzew oder Mark Aldanow, traf. In Frankreich entstanden auch seine wichtigsten Werke. Bald nach Ausbruch des Krieges floh Ossorgin nach Chabris, wo er 1942 starb.

Ursula Keller, gebohren 1964 in Lübeck, Studium der Slavistik und Germanistik in Berlin, zahlreiche Forschungsaufenthalte in Russland. Bis 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FU Berlin, Aufsätze zur Genderforschung in der Slavistik sowie biografische Essays. Lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.12.2015

Warten auf die Schwalben
Eine großartige Wiederentdeckung: Michail Ossorgins Roman „Eine Straße in Moskau“ aus dem Jahr 1929 erzählt
vom Einbruch des Ersten Weltkriegs und der Revolution in den Haushalt eines bürgerlichen Gelehrten
VON THOMAS URBAN
Es gab kein Pulver, mit dem man auf die Wölfe hätte schießen können, es wurde ja nunmehr überwiegend auf Menschen geschossen“, stellt der Erzähler lakonisch fest. In Russland haben sich die Bolschewiki im Oktober 1917 an die Macht geputscht, das Land versinkt im Bürgerkrieg. Moskau hungert. Also ziehen immer mehr Menschen aufs Land, um bei den Bauern ihr Hab und Gut gegen Lebensmittel einzutauschen. Doch auch dort herrscht blanke Not, die Dörfler können sich nicht einmal mehr gegen die Wölfe wehren, die nachts um ihre Häuser streichen.
  „Der Wolf kreist“, hieß die erste deutsche Ausgabe des Romans des russischen Emigranten Michail Ossorgin über den Ersten Weltkrieg und die Revolutionswirren, der 1929 ein Erfolg war. Nun erscheint das Buch in einer prägnanten, präzisen Neuübersetzung und erstmals in voller Länge, eine fulminante Studie über orientierungslose Menschen in einer zusammenbrechenden Welt voller Gewalt. Im Original heißt das Buch „Siwzew wrashek“. Es ist der Name einer Straße im vielbesungenen Moskauer Arbat-Viertel, er erinnert an eine längst zugeschüttete kleine Schlucht, durch die einst der Bach Siwza floss.
  Einige Szenen aus Lew Tolstois „Krieg und Frieden“ und Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“ spielen in der Straße, sie war stets eine begehrte Adresse. Ein Eckhaus ist der Schauplatz der meisten der 86 Szenen in dem Roman Ossorgins, der die Jahre 1914 bis 1920 umfasst. Zunächst geht in der großzügigen Wohnung des Ornithologie-Professors Iwan Alexandrowitsch alles seinen üblichen Gang: Der Professor beobachtet Schwalben, seine Frau dirigiert mit milder Nachsicht die Dienstboten, die bei ihnen lebende verwaiste Enkelin Tatjana, genannt Tanuschka, 16 Jahre alt, bereitet sich auf die Abschlussprüfungen auf der Höheren Mädchenschule vor und träumt von einer Karriere als Pianistin.
  Mit dem Ausbruch des Krieges bricht diese kleine Welt zusammen. Die meisten der Studenten des Professors und Verehrer der hübschen Tatjana sind zwar zunächst stolz auf ihre prächtigen neuen Uniformen. Doch die Kriegsbegeisterung verfliegt schnell, die ersten Toten im Freundeskreis sind zu beklagen. Einem vormals schmucken Oberleutnant und elegantem Tänzer reißt eine deutsche Granate alle Gliedmaßen weg, er überlebt als „Stumpf“, wie es der Erzähler gleichmütig nennt, umsorgt von seinem treuen Offiziersburschen, aber nach und nach verlassen von allen Freunden. Die jungen Frauen, die sich als Krankenschwestern melden, erschrecken über die „zertrümmerten Menschenleiber“. Doch noch werden Heldenbegräbnisse inszeniert: „Solche Friedhöfe gab es viele, große und kleine, sie waren der ganze Stolz der Länder, Herrscher und Völker.“ Nur ein Bauernbursche spricht die Wahrheit aus: „Wie Müll werden wir in den Eimer geworfen.“
  Der Halbanalphabet vom Dorf macht dann Karriere unter den Bolschewiki. Der mittlerweile verwitwete Professor und seine Enkelin verarmen und müssen ihre Wohnung mit einem Dutzend fremder Menschen teilen. Die Außerordentliche Kommission, auf Russisch „Tscheka“ abgekürzt, nimmt willkürlich Verhaftungen und Erschießungen vor, ein Klima der Angst, das auch schon Pasternak in seinem in der Sowjetunion verbotenen „Doktor Schiwago“ eindringlich vermittelt hat.
  Während die Masse blanke Not leidet, bekommen die Henker des Regimes Sonderrationen an Lebensmitteln. Der Tscheka-Exekutor, der im Haus neben dem Professor wohnt, kann seinem blutigen Handwerk aber nur nachgehen, wenn er sich betrinkt. Und er ist zu feige, ein Schwein zu schlachten, das seine Frau herangeschafft hat. Doch einen ihm persönlich bekannten Nachbarn, einen Dozenten für Philosophie, der sich als Clown in Arbeiterklubs durchschlägt, erschießt er in den Kellern der Geheimdienstzentrale Lubjanka. Die Erschossenen werden als „Abgänge“ verbucht, Zwangsverpflichtete müssen sie auf Äckern um Moskau verscharren. Das Ende des Romans lässt den weiteren Lauf der Dinge offen, der Professor und Tanuschka erwarten die Rückkehr der Schwalben.
  Die große Politik wird nur an wenigen Stellen angetippt, der Verfasser wollte offenkundig kein umfassendes Panorama der Zeit schaffen, wie dies Tolstoi und auch Pasternak getan haben. Zu diesen Stellen gehört die Frage eines Tscheka-Folterknechts nach Kontakten eines Verdächtigen zu Boris Sawinkow. Dieser war ein Terrorist in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, mit Bombenattentaten wollte er dazu beitragen, die Zarenherrschaft zu beseitigen. Sein autobiografisch geprägter Roman „Das fahle Pferd“ ist kürzlich erstmals auf Deutsch erschienen. Im wirklichen Leben dürfte Michail Ossorgin den Terroristen und Schriftsteller Sawinkow gekannt haben, denn beide waren in der Sozialrevolutionären Partei aktiv, die der Bolschewikenführer Lenin als politische Konkurrenz blutig verfolgen ließ.
  Ossorgin, von Beruf Journalist, hatte mehr Glück, er wurde ins Exil abgeschoben. In Paris schrieb er für sozialdemokratische und liberale Emigrantenblätter. Wenige Jahre nach dem Erfolg seines Erstlings brachte er noch den Roman „Der Freimaurer“ heraus, in dem er ebenfalls eigene Erfahrungen verarbeitete, doch fand er kein positives Echo. Auf der Flucht vor den deutschen Besatzern starb er 1942 in einem Dorf südlich von Paris. Mit der Schilderung von Verstümmelungen und Verbrennungen der russischen Gesellschaft in seinem Revolutionsroman liefert er auch Antworten auf die Frage, wo es begann, dass diese so wurde, wie sie heute ist.
Die Straße, in der dieser
Roman spielt, kommt auch bei
Tolstoi und Pasternak vor
Der Journalist Ossorgin hatte
Glück – er wurde abgeschoben
und ging nach Paris ins Exil
„Der Bolschewik“, gemalt von Boris Michailowitsch Kustodijew (1878 – 1927) im Jahr 1920, in dem Ossorgins Roman endet.
Foto: bridgemanart.com
Michail Ossorgin: Eine Straße in Moskau. Roman. Aus dem Russischen mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Ursula Keller unter Mitarbeit von Natalja Sharandak. Die Andere Bibliothek, Berlin 2015.
572 Seiten, 39,50 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2015

Der revolutionäre Kampf als eine unbegreifliche Naturgewalt

Tolstois "Krieg und Frieden" lässt grüßen: Michail Ossorgins wiederentdeckter Roman "Eine Straße in Moskau" ist eine literarische Sensation.

Von Martin Mosebach

Wenn die Fluten der Zeitgenossenschaft nach Verstreichen eines Jahrhunderts ablaufen, kommen manchmal Werke ans Licht, die von der Ungunst der Geschichte lange verborgen wurden. Dass das zwanzigste Jahrhundert immer noch nicht vollständig bekannt ist, müsste auch ein Grund zur Freude sein; alles, was in dies schwärzeste aller Jahrhunderte kleine erfreuliche Gegenakzente setzt, wirkt ein wenig tröstlich.

Wer indessen sein Bild von der Literatur dieser Epoche abgeschlossen glaubte, sieht sich der Unbequemlichkeit gegenüber, es zu vervollständigen und damit auch zu revidieren - jeder bis dahin unbekannte, neu entdeckte Autor muss die kanonische Ordnung der Literatur zwangsläufig verändern. Ein solcher Autor ist Michail Ossorgin, dessen Roman "Siwzew Wrashek" 1928 in einem Pariser Emigrantenverlag erschien, in deutscher Übersetzung 1929 unter dem Titel "Der Wolf kreist" beim Drei-Masken-Verlag in München - das spricht von einem gewissen Erfolg des Buches, der es allerdings nicht vor der vollständigen Vergessenheit bewahrte.

Aber nur was ganz vergessen war, kann strahlend neu werden, und so ist denn das Erscheinen dieses Romans in neuer Übersetzung von Ursula Keller unter dem Titel "Eine Straße in Moskau" die eigentliche literarische Sensation dieses Herbstes. Wenn ein derart vollendetes Buch gleichsam aus dem Nichts hervortritt, ist man auf die Lebensumstände des Autors, denen es sich verdankt, besonders neugierig. Dem Nachwort der Übersetzerin entnimmt man, dass Ossorgin, der sein erstes Werk erst mir fünfzig Jahren schrieb und davor vor allem als Journalist arbeitete, 1878 als Michail Andrejewitsch Iljin als Spross einer Adelsfamilie in der Stadt Perm im Ural geboren wurde, in Moskau Jura studierte und eine Weile als Anwalt tätig war. Er ist damals offenbar von der Notwendigkeit eines Umsturzes in Russland überzeugt gewesen, sympathisierte mit den Revolutionären von 1905 und wurde verhaftet; es gelang ihm die Flucht nach Italien; dort scheint er die Arbeit für liberale russische Zeitschriften begonnen zu haben. Im Weltkrieg kehrt er nach Moskau zurück und erlebt die Februar- und die darauf folgende Oktoberrevolution.

Sehr früh wird ihm klar, wohin der Hase lief - er brauchte nicht erst die stalinistischen Schauprozesse, um den Charakter des Bolschewismus zu erkennen. Dass der Umsturz "unvermeidbar, unausweichlich, schicksalhaft" sein würde und dass er sich nur auf "grausame und blutige Weise" vollziehen könne, war er bereit hinzunehmen, gelangte aber zu dem Schluss: "Dafür, dass die alte Knechtschaft gegen eine neue eingetauscht wurde, hätte niemand sein Leben geben müssen." Während der Hungersnot in den ersten Jahren nach der Revolution gründet er mit Maxim Gorkij unter anderen ein unabhängiges Komitee für Hungerhilfe, das höchst effizient für die Verteilung von Lebensmitteln sorgt - zu effizient für Lenin, der keine Privatinitiativen duldet. 1922 wird Ossorgin aus der Sowjetunion verbannt, zusammen mit 224 Vertretern der Intelligenzija - Trotzkis Kommentar dazu: "Wir haben diese Leute ausgewiesen, weil es keinen Grund gab, sie zu erschießen, sie zu ertragen aber war unmöglich." Schon bald sollte man sich mit solch feingeistigen Abwägungen nicht mehr aufhalten.

Mit dem ungültigen sowjetischen Pass, den er sich weigert zurückzugeben, lebt Ossorgin bis zu seinem Tod 1942 in Frankreich, in zweiter Ehe mit einer Nachkommin von Bakunin verheiratet. Er gehört zu den Schriftstellern, die ihre Heimat aus der Ferne, in freiwilligem oder unfreiwilligem Exil, rekonstruiert haben. Eine Heimat, die in diesem ersten Jahren nach der Revolution zerstört wurde. Die behäbigen Holzhäuser des vorrevolutionären Moskau werden in den Wintern ohne Brennmaterial verheizt, ihre Bewohner ausgeraubt und ermordet. Die Revolution zeigt von Anbeginn jenes Gesicht aus Terror und grausamer Bürokratie, das für den Bolschewismus bezeichnend ist.

Es ist ein großer Stoff, der Untergang einer Welt, die in vieler Hinsicht hinfällig gewesen sein mochte, aber die abseits der politischen Konflikte in Ossorgins Beschwörung von einer verzauberten Stille und Langsamkeit war, mit Menschen von altertümlicher Mentalität, einer Stimmung bescheidenen Lebensgenusses, verträumter Kunstliebe und Gastfreundschaft. Ossorgin kannte sich mit den politischen Fakten der Revolution wahrlich aus, aber in seinem Roman interessiert er sich nicht für sie. Die politischen Ereignisse, die Katastrophe des Weltkrieges und der große Umsturz wird in dieser großen Erzählung von unten betrachtet, aus der Perspektive von Menschen, die in dem revolutionären Kampf - anders als Ossorgin selbst - keine Partei ergreifen, sondern ihn als eine unbegreifliche Naturgewalt erleben.

Russische Zeitgenossen haben "Eine Straße in Moskau" mit Tolstois "Krieg und Frieden" in Verbindung gesetzt, und in Hinsicht auf Tolstois Geschichtsauffassung ist das auch möglich: Geschichte als ein riesiger alle Bereiche des Lebens ergreifender und überpersönlicher Prozess, unaufhaltsam, unbeeinflussbar wie Taifune und Erdbeben - die Menschen werden diesen kosmischen Umwandlungen, ob sie wollen oder nicht, bis in ihr Denken und Fühlen hinein unterworfen; sie sind gut oder böse, sie sind großherzig oder verbrecherisch, aber an dem Geschehen im ganzen sind sie unschuldig, es schreitet über jeden Einzelwillen gleichgültig hinweg. Was der Einzelne dem entgegenzusetzen hat, ist nichts als Sanftheit und Geduld, das allerdings in gelegentlich heroischen Ausmaß, so widersprüchlich das für denjenigen klingen mag, der sich den Helden nur als Täter vorstellen will.

Die "Siwzew Wrashek" liegt in der Nähe des Arbat, einer Straße, die im vorrevolutionären Moskau mit vielen Schriftstellernamen verbunden ist. Dort wohnt in einem behäbigen alten Holzhaus ein emeritierter Ornithologe mit Frau und Enkeln - Tanjuscha ist eine wiedererstandene Tolstoische Natascha. Dort versammelt man sich abends um den Flügel und hört einem Komponisten zu, der eine neuartige, regelsprengende Musik vorträgt. Die Stücke dieses kauzigen unbeholfenen Mannes, dessen Genie das eigene Bewusstsein übersteigert, sind schon im letzten Friedensmoment eine Ankündigung dafür, dass sich im Denken und Empfinden der Zeitgenossen etwas zu verändern beginnt - im biedermeierlichen Musiksalon erscheint das kommende Chaos in der Gestalt eines kenntnisreich genossenen Kunstwerks. Das alte Haus ist ein Lebewesen, von großen und kleinen Organismen bewohnt; wie die Holzwürmer an ihm nagen, die Mäuse daran knabbern, die Ratten sich vorwagen, die Schwalben unter der Dachtraufe nisten, das ist für den Verlauf der Erzählung ebenso bedeutsam wie das Schicksal der Menschen.

Die historischen Ereignisse sind von den biologischen Abläufen nicht isoliert; wobei Ossorgin sich von einem vordergründigen und aufdringlichen Symbolismus zu hüten weiß - so könnte doch das stete Nagen der Holzwürmer leicht als Metapher für eine unterhöhlte, vor dem Zusammenbruch stehende Gesellschaft eingesetzt werden, aber so macht er das nicht, die Holzwürmer bringen das alte Haus nicht zu Fall, und auch die Revolution hat es gegen Schluss des Romans im Jahr 1920 noch nicht vernichtet - wie der alte Professor, der seine kostbare Büchersammlung längst schon für das tägliche Essen verkauft hat, und die leidenschaftliche, hoffnungsvolle Enkelin da zusammensitzen und sich über die Rückkehr der Schwalben freuen, denkt der Leser unwillkürlich mit Schaudern an die Schrecken, die noch auf die Bürger Moskaus warten, während sich die Silhouette Stalins noch gar nicht wahrnehmbar abzeichnet.

Mit "Krieg und Frieden" hat "Eine Straße in Moskau" auch gemeinsam, dass in gelegentlich recht kurzen Kapiteln gleichsam pointillistisch erzählt wird - kein "und dann . . . und dann . . . und dann", sondern in Gestalt von Schlaglichtern auf die einzelnen Personen, die gelegentlich auch gar nicht handelnd, sondern untätig, wartend, in Gedanken versunken dargestellt werden. Der Roman schildert die Schrecken dieser Jahre, indem er den Personen ganz nah rückt, ihnen geradezu unter die Haut kriecht. Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten an die literarische Darstellung des Unerträglichen gewöhnt, wir nehmen die Steigerungen auf diesem Feld nur noch mit dem Selbstschutz des Zynismus zur Kenntnis, weil vergessen ist, dass es ein einziges Mittel gibt, den Leser am Ausweichen zu hindern: die Liebe des Autors zu seinen Figuren.

Ossorgin bringt dieses Mitgefühl sogar für die abscheulichste Gestalt seines Romans auf, einen Arbeiter, der zum Henker eines Revolutionskomitees wird und das mechanische Abknallen seiner Opfer in einem im Blut schwimmenden Keller nur noch im Zustand der Betrunkenheit bewältigt. Unvergesslich wird der junge Offizier, dem eine Granate Arme und Beine abreißt, während die Kameraden im Unterstand Karten spielen; der Stumpf, von seinem bäuerlichen Burschen hingebungsvoll gepflegt, lernt mit verbissener Energie sogar noch das Schreibmaschinenschreiben mit nach seinen Angaben gebastelten Instrumenten, nur um sich in einer schier unvorstellbaren Anstrengung doch aus dem Fenster zu stürzen, ein heilloser Tod als einzigem Weg der in dem Torso zusammengedrängten Wut zu entkommen. Albtraumhaft die vieltägige Hamsterfahrt in überfüllten Zügen, die ein junger Student unternimmt und sich dabei mit Typhus infiziert - in den wenigen klaren Momenten während der Fieberschauer nimmt er an winzigen Zeichen wahr, dass die geliebte Tanjuscha, die an seinem Bett sitzt, sich von ihm abgewandt hat und einen anderen Mann liebt.

Diese Passage steht beispielhaft für das Erzählen Ossorgins, der stets indirekt, beim Verweilen bei Details, die großen Erschütterungen eher ahnen lässt, als sie auszubreiten. Schon die Gestalt des kauzigen Komponisten zeigte, wie stark Ossorgin musikalisch empfindet und mit musikalischen Mitteln erzählt. Er schreibt, dass er bei dem letzten Musikabend bei einer alten Dame, die bereits vollständig enteignet war, nun aber noch ihr Klavier abgeben musste, die Anregung zu seinem Roman empfangen hatte - diese Konfiskation der Klaviere zur Demütigung ihrer bürgerlichen Besitzer wird zum Inbegriff des sinnlosen Zerstörungswerks dieser Jahre.

Bei alledem ist dies kein schwarzes Buch. Ein Unterstrom grundsätzlicher Heiterkeit und Gelassenheit schimmert durch die schlimmsten Vorgänge. Dieses Meisterwerk tritt achtzig Jahre nach seiner Entstehung blühend jugendlich aus dem Schatten. Ossorgins "Straße in Moskau" setzt Maßstäbe für die Zukunft des Erzählens.

Michail Ossorgin: "Eine Straße in Moskau". Roman.

Aus dem Russischen und mit Anmerkungen von Ursula Keller unter Mitarbeit von Natalja Sharandak. Die Andere Bibliothek, Berlin 2015. 519 S., geb., 42,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Thomas Urban ist froh, dass Michail Ossorgins bereits 1929 unter dem Titel "Der Wolf kreist" erschienener Roman nun in einer gelungenen Neuübersetzung und erstmals in voller Länge wiederentdeckt werden kann. In 86 Szenen erlebt der Kritiker, wie sich das Leben des Ornithologen Iwan Alexandrowitsch, seiner Frau und der bei ihnen lebenden verwaisten Enkelin Tatjana in den Jahren zwischen 1914 und 1920 während des Ersten Weltkriegs und der Revolution verändert. Erschüttert liest Urban, wie die kleine Familie verarmt, die Wohnung mit einem Dutzend fremder Menschen teilen muss und wie die "Tscheka" willkürlich verhaftet und ermordet. Im Gegensatz zu Tolstoi oder Pasternak hat Ossorgin kein umfassendes politisches Panorama der Zeit geschrieben, sondern konzentriert sich vielmehr auf das Private, informiert der Rezensent, der nach der Lektüre auch viel über die heutige russische Gesellschaft gelernt hat.

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