Marktplatzangebote
6 Angebote ab € 9,90 €
  • Buch mit Leinen-Einband

Produktdetails
  • Verlag: Edition Memoria / Schumann
  • 1996.
  • Seitenzahl: 300
  • Deutsch
  • Abmessung: 200mm x 125mm
  • Gewicht: 520g
  • ISBN-13: 9783930353057
  • ISBN-10: 3930353059
  • Artikelnr.: 07812397
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.1997

Wir gehen wie auf Köpfen
Am Rande der verkehrten Welt: Rudolf Arnheims Exilprosa

In seinen ökonomischen Studien um das Jahr 1844 entwickelte Karl Marx die Erfahrung des "verkehrten Weltbewußtseins" und den Topos der "verkehrten Welt" zur kritischen Gedankenfigur. Nicht zufällig, denn natürlich hatte er Heines Gedicht aus demselben Jahr zu lesen bekommen, das mit den Versen anhebt: "Das ist ja die verkehrte Welt, / Wir gehen auf den Köpfen! / Die Jäger werden dutzendweis / Erschossen von den Schnepfen." Die verkehrte Welt ist bei Heine die wünschenswerte und wahre, nicht von materiellen Interessen regierte, deren Darstellung freilich am Ende ironisch-resignativ als sinnlos hingestellt wird: "Laßt uns nicht schwimmen gegen den Strom / Ihr Brüder! Es hilft uns wenig!" Heine und Marx war klar, daß es nur eine Welt gibt und daß die Idee der verkehrten Welt im Grunde ein Kindereinfall ist.

Als mythischer und literarischer Topos hat er jedoch seit Theokrit und Vergil eine lange Geschichte, und schon in der Bibel erscheint er als eschatologische Anschauungsfigur, die die gegebene Ordnung in Frage stellt. In den Krisenphasen der Neuzeit hat sich die Literatur das kritische Potential dieses Topos immer wieder zunutze gemacht. Den witzigsten Gestaltungen der verkehrten Welt bei Grimmelshausen, Cervantes, Rabelais, Swift, Tieck, Grabbe, Lewis Carroll, Wilde oder Kafka ist freilich gemeinsam, daß der theoretische Grundeinfall nicht überstrapaziert wird. Eindrücklich und erkenntnisfördernd wirkt er nur, wenn er aufblitzt und wieder verlischt, sich selbst nicht zu ernst nimmt und schließlich zurückgenommen wird wie die Erscheinungen des Feuerwerks.

Der Kunstpsychologe und Filmtheoretiker Rudolf Arnheim hat den Topos der verkehrten Welt während seiner Exilzeit in Italien und England zwischen 1936 und 1940 als Entlastung von schrecklicher Erfahrung wie zum ersten Mal entdeckt: "Ob in Kriegen unzählige Menschen morden mußten oder ermordet wurden, oder ob sie in sogenannten normalen Zeiten ärmlich verkümmerten - die Unsinnigkeit des Erduldens, in großen wie in kleinen Dingen, beeindruckte mich ebenso stark wie das Erdulden selber. Daher wohl fesselte mich der Einfall, daß man die Grundsätze, die angeblich unser Leben bestimmten, nur in ihr Gegenteil zu verkehren brauche, um eine Welt zu schaffen, die der unseren unheimlich und maliziös ähneln würde." Es mag ein Symptom der Exilerfahrung gewesen sein, daß Arnheim diesen Einfall so sehr als seinen eigenen hütete, daß ihm dessen überreiche Präsenz in der Weltliteratur entging: "Halb neugierig, halb ängstlich forschte ich nach, fand aber nichts als ein kleines Lustspiel von Ludwig Tieck und ein paar alte Bilderbogen, die das Motiv der Umkehrung lustig-harmlos illustrierten."

Dabei scheint der Anfang des Romans auf ebenjene Tradition anzuspielen, wenn der Zöllner den in die verkehrte Welt reisenden Ich-Erzähler mißtrauisch fragt: "Führen Sie Bücher oder sonstige Druckschriften mit sich, in denen beschrieben wird, wie das menschliche Leben eingerichtet sein sollte?" Es stellt sich aber schnell heraus, daß dies kein ironischer Vorbehalt ist. Vielmehr wird der Grundeinfall als überlanges, mäßig komisches Gedankenspiel durch alle gesellschaftlichen Bereiche geführt - vom Hotelwesen über die öffentlichen Verkehrsmittel, den bürgerlichen Haushalt, das Zeitungswesen, die Ämter, die Schule und so weiter bis zu einer arkadischen Idylle am Ende. Die Gattungsbezeichnung "phantastischer Roman" ist daher irreführend, der Darstellung fehlt die beunruhigende Ambivalenz einer immanenten Wahrscheinlichkeit des Seelenlebens. Abgesehen von gelegentlichen witzigen und hintergründigen Stellen, wird allzuoft allzu breit und eindeutig ausgeführt, was sich der Leser, der sich an den Titel noch erinnert, selbst denken kann: "Hier liegt die hohe Sendung der Pädagogik: uns ist aufgegeben, die jungen Menschen daran zu hindern, Wissen zu erwerben und ihr Gehirn zum Denken tüchtig zu machen. Wir verwirren das Einfache, wir erschweren das Leichte und verwandeln die Lust auf Erkenntnis in Widerwillen und Langeweile." Ähnliches widerfährt leider auch dem Leser dieses Buches früher oder später.

Leider, weil es ja grundsätzlich verdienstvoll und gerecht ist, daß die Exilliteratur dem verordneten Vergessen entrissen wird. Hinter dem Text erkennt man denn auch einen gelassenen und erfahrenen Menschen, der ohne Haß war und ist und nicht das Böse am Werk sieht, sondern in ältester moralischer Tradition nur Narrheit, Dummheit und Selbstsucht der Menschen. So müßte das Buch dem lebens- und zeitgeschichtlich interessierten Leser dringlich ans Herz gelegt werden. Doch steht gerade die ironische und satirische Anschauungslust, die der Topos der verkehrten Welt aufkitzelt und die im Mittelalter gern mit dem Teufel in Verbindung gebracht wurde, moralischer Wiedergutmachung unempfindlich gegenüber. FRIEDMAR APEL

Rudolf Arnheim: "Eine verkehrte Welt". Phantastischer Roman. Edition Memoria, Hürth 1997. 297 S., geb., 48,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr