Eine Welt tut sich auf: riesenhaft wie der Palast, in dem Julius aufwächst, abgründig wie das Verhältnis von Herrschaft und Dienerschaft darin, beängstigend, beglückend. Für das schöne Kindermädchen Vilma und die unheimliche "Dschungelfrau" aus der Küche, den schlitzohrigen Chauffeur Carlos, die Wäschefrau, den Gärtner ist Julius "der junge Herr", unabänderlich "Darling" dagegen für Susan, seine Mutter, die er abgöttisch liebt und die sich ihm hinter einem Schleier aus Zauberhaftigkeit entzieht.
Der Vater ist früh gestorben, die größeren Brüder nehmen Julius kaum wahr, und nur seiner Schwester Cinthia kann er sich mitteilen. Doch Cinthia stirbt, und dieser Verlust bleibt eine Wunde, über die er nicht einmal sprechen darf, denn längst ist Susan damit beschäftigt, ihren eleganten zweiten Ehemann Juan Lucas auf den Golfplatz, in den Country Club und zu den anderen Treffpunkten der feinen Gesellschaft von Lima zu begleiten.
Mit jedem staunenden Schritt, den Julius hinaus in die Welt tu t, öffnet sich ihm ein weiterer Aspekt des Lebens. Unbedingte Zuneigung aber erfährt er allein bei der Dienerschaft, zu deren Welt er gerade nicht gehören soll. Aus einer dem Kind ganz nahen Perspektive erzählt der Autor von diesem stillen Drama, ohne anklagenden Ton, mit feiner Ironie und manchmal burleskem Humor. Seine Kunst ist es, den Leser zum Lachen zu bringen über Dinge, die trauriger nicht sein könnten.
Leicht wie ein Divertimento, vielstimmig und mit komödiantischem Strich schildert der Roman das In-die-Welt-Kommen eines Kindes und zugleich die Abgründe einer von schroffsten Gegensätzen zerklüfteten Gesellschaft.
Der Vater ist früh gestorben, die größeren Brüder nehmen Julius kaum wahr, und nur seiner Schwester Cinthia kann er sich mitteilen. Doch Cinthia stirbt, und dieser Verlust bleibt eine Wunde, über die er nicht einmal sprechen darf, denn längst ist Susan damit beschäftigt, ihren eleganten zweiten Ehemann Juan Lucas auf den Golfplatz, in den Country Club und zu den anderen Treffpunkten der feinen Gesellschaft von Lima zu begleiten.
Mit jedem staunenden Schritt, den Julius hinaus in die Welt tu t, öffnet sich ihm ein weiterer Aspekt des Lebens. Unbedingte Zuneigung aber erfährt er allein bei der Dienerschaft, zu deren Welt er gerade nicht gehören soll. Aus einer dem Kind ganz nahen Perspektive erzählt der Autor von diesem stillen Drama, ohne anklagenden Ton, mit feiner Ironie und manchmal burleskem Humor. Seine Kunst ist es, den Leser zum Lachen zu bringen über Dinge, die trauriger nicht sein könnten.
Leicht wie ein Divertimento, vielstimmig und mit komödiantischem Strich schildert der Roman das In-die-Welt-Kommen eines Kindes und zugleich die Abgründe einer von schroffsten Gegensätzen zerklüfteten Gesellschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2002Der grobe Charme der Oligarchie
Das Land, in dem sich die Luft zu Silbertabletts verdichtet: Alfredo Bryce Echenique weiht Perus alte Oberschicht dem Untergang und erschafft "Eine Welt für Julius"
Alfredo Bryce Echeniques Roman "Eine Welt für Julius" ist mit den Augen eines intelligenten, aber arglosen Kindes gesehen. Dennoch breitet sich ein Spektrum Perus vor dem Leser aus, das auch durch eine politisch-soziologische Analyse nicht reicher sein könnte. Julius entstammt der alten Oberschicht des Landes, das eine Aristokratie aus spanischen Kolonialzeiten besitzt. Im neunzehnten Jahrhundert haben diese Kolonialspanier die Verbindung zum Mutterland gekappt, die Struktur der kolonialen Vizekönigreiche zerschlagen und eine Reihe von Republiken gegründet. Der Roman spielt zu der Zeit, in der die Hochlandindianer noch zum größten Teil weitab von den Städten lebten und die Weißen dort unter sich ließen. Der Konflikt zwischen Indianern und Weißen, der bis heute bürgerkriegsähnliche Zustände in Peru schafft, ist in Julius' Welt nur sehr schwach zu ahnen. Dafür spürt man deutlich, daß das alte soziale Gefüge ins Rutschen gekommen ist.
Die Herren von Peru, die sich gerade erst von Spanien befreit hatten, sind nun unter den Einfluß der Nordamerikaner geraten, sie sind kolonisierte Kolonialherren. Es gibt nur wenige Seiten in dem Roman, in denen kein eisgekühltes Coca-Cola serviert wird, und da hilft es wenig, daß der Diener dabei weiße Handschuhe trägt. Die steinreichen peruanischen Oligarchen in ihren alten Palästen starren wie hypnotisiert auf Nordamerika. Noch herrscht das alte Ideal des herrschaftlichen Müßigganges, aber in das Verhältnis zur Dienerschaft ist eine neue geschäftsmäßige Note getreten, die zur patriarchalisch-feudalen alten Bindung zwischen Herrn und Knecht nicht recht passen will. Noch werden die Kinder in Klöstern erzogen, aber es müssen nun nordamerikanische Nonnen sein. Der an europäischen Maßstäben gemessen anachronistische Luxus der alten Familien in Verbindung mit ihrer politischen Abhängigkeit und Ohnmacht verleiht der Welt von Julius etwas Unwirkliches. Die allmähliche Auflösung dieser Unwirklichkeit, das Herauswachsen aus ihren wattigen Nebeln ist Gegenstand des ersten Romans von Alfredo Bryce Echenique.
Der peruanische Autor Vargas Llosa hat Bryce Echenique hoch gelobt: Bryce zeichne ein Bild der "überfeinerten Welt der peruanischen Oligarchie". Für einen Europäer bedarf dieses Wort einer Erklärung. "Eine Welt für Julius" ist erfüllt von den Idealen des Machismo, die sehr weit von dem entfernt sind, was man hierzulande als "überfeinert" bezeichnet. Zum Männlichkeitskult gehört zunächst vor allem der Grobianismus. Spanien exzelliert vor allem in einem außergewöhnlichen Erfindungsreichtum derbster Flüche, die die Männerwelt gerade der Herrenschicht unablässig auf den Lippen trägt. Es scheint, als gebe es nur zwei Männertypen: den Don Juan und die Schwuchtel. Allen Männern ist die Anspannung anzumerken, vom ersteren wenigstens den Anschein zu erwecken, das letztere unbedingt zu vermeiden. In Julius' Welt gehört es zu den Männerritualen, von früh an soviel wie möglich kaputtzuschlagen und schmutzig zu machen. Das Zertrümmern von Automobilen und alten Möbeln wird bei Liebeskummer von den Umstehenden als Äußerung des zartesten Gefühls empfunden. In Julius' Klasse genießt das höchste Ansehen ein kleiner Junge, dem es gelingt, tagtäglich auszusehen, als stehe er kurz vor einem Tobsuchtsanfall. Unter den jungen Männern herrscht eine ständige Duell-Stimmung. Julius sieht keinen Anlaß, sich diesen Ritualen zu entziehen. Was ihn von seinen Brüdern und Schulkameraden unterscheidet, ist vielleicht nur die Fähigkeit und die Neigung, seine Umgebung unversehens für einige Augenblicke aus einem gewissen Abstand zu betrachten. Dieser unverwandte Blick gelangt niemals zu einer Kritik. Peru ist eben nicht das Land des "kategorischen Imperativs".
Zur Entstehungszeit von "Eine Welt für Julius" war der "innere Monolog" ein seit langem gut eingeführtes Stilmittel: Seit Anna Karenina auf ihrer Fahrt zum Bahnhof, wo sie ihr Ende finden wird, im Kampf gegen ihre panische Gedankenflucht die Ladenschilder las und deren Namen sinnlos wiederholte, haben Autoren immer wieder versucht, ihre Geschichte nicht nur aus dem Blickwinkel einer der handelnden Personen zu erzählen, sondern sich auch auf die chaotische Wahrnehmung, den Salat an Sinneseindrücken, die unwillkürlich aufsteigende Assoziation im Hirn dieser Person einzulassen. Im "inneren Monolog" verbirgt sich der Fortgang der Handlung unter dem Wust der absichtlich und unabsichtlich zum Zweck der Selbsttäuschung herbeigeschafften Alltagssplitter. Der Leser ist aufgefordert, den roten, oft verborgenen Faden auszugraben. Bryce Echenique hat das Verfahren noch etwas kompliziert. Unversehens wechselt er den Standpunkt. Übergangslos springt die Kamera seiner Erzählregie auf eine andere Person über, die nun mit ihren Beobachtungen die Handlung weiterträgt. Man könnte an eine Verbindung aus "innerem Monolog" mit dem Briefroman denken, der die poliperspektivistische Betrachtung der Handlung besonders begünstigt. Keine der denkenden, empfindenden Personen ist intellektuell, keine stellt Reflexionen an oder wäre dazu überhaupt in der Lage. Jeder werden die hilflosen Phrasen der Alltagssprache belassen. Die Aufweichung der Klischees geschieht hier durch das Mittel ihrer Häufung.
Hesses Prinz Siddhartha lebte in einem Palast mit herrlichen Gärten, aus denen die Häßlichkeit und das Leiden verbannt waren. Sein Vater hatte verfügt, daß der Prinz niemals etwas sehen sollte, was seinen Geschmack und seine Gefühle kränken könnte. Als Siddhartha dann schließlich das behütete Gehege der Freude einmal verließ, begegnete er draußen dem Alter, der Krankheit und dem Tod: Was ihm, nachdem er sein Erschrecken über diese Erscheinungen überwunden hatte, deutlich wurde, war, daß er die Wirklichkeit gesehen hatte und bis dahin von der Unwirklichkeit umgeben gewesen war: Dieses Erlebnis, das Siddhartha zum Buddha werden ließ, ist keimhaft in vielen Kindheitsgeschichten enthalten.
Auch Julius hat etwas von einem Siddhartha. Der Wille, den Blick auf die Trübsal des Lebens unter allen Umständen abzuwehren, ist seinen Eltern zur zweiten Natur geworden. Wenn die Beunruhigung unabweisbar wird, hilft immer noch eine Europa-Reise, um wieder auf andere Gedanken zu kommen oder besser: um jede Art von Gedanken verblassen zu lassen. Julius als Jüngster wird von der Lebensregie des Hauses nicht vollständig erfaßt. Es gibt viele tote Winkel, in denen er unbeobachtet ist. Julius begegnet Menschen, die seine Eltern niemals gesehen haben.
Wenn Juan Lucas, sein bedrückend eleganter Stiefvater, sein Whiskyglas abstellen will, "verdichtet sich die Luft neben ihm zu einem Silbertablett". Julius weiß, wer dies Silbertablett hält. Hochlandindianer und Dschungelbewohner tragen die Livree seiner Familie. Sie denken und verhalten sich anders als die Herren; Julius fühlt sich von ihnen angezogen und wagt schon früh, diesen fremdartigen Menschen in ihre Welt zu folgen. "Eine Welt für Julius" ist aber keine Sozialromanze. Als das Buch geschrieben wurde, begann man in Südamerika, die "Theologie der Befreiung" auszuhecken - davon ist Julius weit entfernt. Nicht Mitleid und Empörung leiten ihn auf seinen Expeditionen zu den Armen, sondern die immer stärker werdende Anziehung der Wirklichkeit. Sie strömt auf ihn ein, umgibt und formt ihn und läßt ihn der enger erscheinenden Welt des Palastes entwachsen, ohne daß er ihn verlassen müßte.
Vilma, das schöne, sanfte Kindermädchen, war für Julius lange das reale Antlitz der Mütterlichkeit, während seine echte Mutter oft genug in der Ferne des Ideals blieb. Als Julius erfährt, daß die aus dem Haus gejagte Vilma Prostituierte geworden ist, stürzt seine Welt ein. "Welt" ist unsere Umgebung, solange wir sie als vollständig erleben und auf jede Frage eine Antwort in ihr finden. Nun verlängert sich gerade das Schicksal der vertrautesten Person und ragt über die Grenzen des gemeinsamen Lebens in unheimlicher Weise hinaus, um sich im Dunkel der Straßen Limas zu verlieren. Die Mauern des Palastes spalten sich. Schon vorher hat Julius freilich Erfahrungen sammeln dürfen, die ihn über seinen Lebenskreis hinwegführten. Lange war es möglich, solche Eindrücke der eigenen Sphäre zu integrieren. Jetzt offenbart sich diese Vereinnahmung des Fremdartigen als Täuschung. Julius erwacht und erkennt das Fragmentarische seiner Existenz.
Was wird der bartlose Knabe Julius, der schon ein Rasierwasser für den rituellen Moment der ersten Rasur bereithält, aus dieser Einsicht machen? In Deutschland nennt man die Schilderungen des Schicksals auf dem Weg zum Erwachsenwerden "Entwicklungsroman". Aber wozu wird Julius sich entwickeln? Da schweigt der Autor so vielsagend, daß er den Leser aufmerksam macht. Spezifische Gaben hat er an Julius nicht entdecken können. Das Klavierspiel hat er nicht ernsthaft betrieben, und im Sport ist er eifrig, aber nicht besonders herausragend. Da gibt es allerdings den kleinen Schulaufsatz, die boshafte, ins Absurde getriebene Schilderung eines lächerlich protzigen Gastes seiner Eltern.
Es ist aber nicht nur dieses kleine Indiz, das "Eine Welt für Julius" in jene besondere Kategorie des Entwicklungsromans verweist, zu der die größten Werke der modernen Literatur zählen. Sie haben die Entwicklung des Helden zum Schriftsteller zum Gegenstand, Prousts "Recherche" gehört ebenso dazu wie Doderers "Dämonen". Der Held wird in ihnen zum Schriftsteller, dessen Werk die Beschreibung ebendieses Prozesses ist. Wir wissen nicht genügend über das Leben von Bryce Echenique, um den Anteil des Autobiographischen in seinem ersten großen Roman einschätzen zu können. Aber obwohl es nicht ausgesprochen wird, darf man "Eine Welt für Julius" im Palast der Literatur in der Galerie vermuten, in der die "Portraits of the artist as a young man" hängen. Die "Welt für Julius" gehört zu den Welten, die untergehen müssen, damit der Schriftsteller sie neu erschaffen kann.
Alfredo Bryce Echenique: "Eine Welt für Julius". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Matthias Strobel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 525 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Land, in dem sich die Luft zu Silbertabletts verdichtet: Alfredo Bryce Echenique weiht Perus alte Oberschicht dem Untergang und erschafft "Eine Welt für Julius"
Alfredo Bryce Echeniques Roman "Eine Welt für Julius" ist mit den Augen eines intelligenten, aber arglosen Kindes gesehen. Dennoch breitet sich ein Spektrum Perus vor dem Leser aus, das auch durch eine politisch-soziologische Analyse nicht reicher sein könnte. Julius entstammt der alten Oberschicht des Landes, das eine Aristokratie aus spanischen Kolonialzeiten besitzt. Im neunzehnten Jahrhundert haben diese Kolonialspanier die Verbindung zum Mutterland gekappt, die Struktur der kolonialen Vizekönigreiche zerschlagen und eine Reihe von Republiken gegründet. Der Roman spielt zu der Zeit, in der die Hochlandindianer noch zum größten Teil weitab von den Städten lebten und die Weißen dort unter sich ließen. Der Konflikt zwischen Indianern und Weißen, der bis heute bürgerkriegsähnliche Zustände in Peru schafft, ist in Julius' Welt nur sehr schwach zu ahnen. Dafür spürt man deutlich, daß das alte soziale Gefüge ins Rutschen gekommen ist.
Die Herren von Peru, die sich gerade erst von Spanien befreit hatten, sind nun unter den Einfluß der Nordamerikaner geraten, sie sind kolonisierte Kolonialherren. Es gibt nur wenige Seiten in dem Roman, in denen kein eisgekühltes Coca-Cola serviert wird, und da hilft es wenig, daß der Diener dabei weiße Handschuhe trägt. Die steinreichen peruanischen Oligarchen in ihren alten Palästen starren wie hypnotisiert auf Nordamerika. Noch herrscht das alte Ideal des herrschaftlichen Müßigganges, aber in das Verhältnis zur Dienerschaft ist eine neue geschäftsmäßige Note getreten, die zur patriarchalisch-feudalen alten Bindung zwischen Herrn und Knecht nicht recht passen will. Noch werden die Kinder in Klöstern erzogen, aber es müssen nun nordamerikanische Nonnen sein. Der an europäischen Maßstäben gemessen anachronistische Luxus der alten Familien in Verbindung mit ihrer politischen Abhängigkeit und Ohnmacht verleiht der Welt von Julius etwas Unwirkliches. Die allmähliche Auflösung dieser Unwirklichkeit, das Herauswachsen aus ihren wattigen Nebeln ist Gegenstand des ersten Romans von Alfredo Bryce Echenique.
Der peruanische Autor Vargas Llosa hat Bryce Echenique hoch gelobt: Bryce zeichne ein Bild der "überfeinerten Welt der peruanischen Oligarchie". Für einen Europäer bedarf dieses Wort einer Erklärung. "Eine Welt für Julius" ist erfüllt von den Idealen des Machismo, die sehr weit von dem entfernt sind, was man hierzulande als "überfeinert" bezeichnet. Zum Männlichkeitskult gehört zunächst vor allem der Grobianismus. Spanien exzelliert vor allem in einem außergewöhnlichen Erfindungsreichtum derbster Flüche, die die Männerwelt gerade der Herrenschicht unablässig auf den Lippen trägt. Es scheint, als gebe es nur zwei Männertypen: den Don Juan und die Schwuchtel. Allen Männern ist die Anspannung anzumerken, vom ersteren wenigstens den Anschein zu erwecken, das letztere unbedingt zu vermeiden. In Julius' Welt gehört es zu den Männerritualen, von früh an soviel wie möglich kaputtzuschlagen und schmutzig zu machen. Das Zertrümmern von Automobilen und alten Möbeln wird bei Liebeskummer von den Umstehenden als Äußerung des zartesten Gefühls empfunden. In Julius' Klasse genießt das höchste Ansehen ein kleiner Junge, dem es gelingt, tagtäglich auszusehen, als stehe er kurz vor einem Tobsuchtsanfall. Unter den jungen Männern herrscht eine ständige Duell-Stimmung. Julius sieht keinen Anlaß, sich diesen Ritualen zu entziehen. Was ihn von seinen Brüdern und Schulkameraden unterscheidet, ist vielleicht nur die Fähigkeit und die Neigung, seine Umgebung unversehens für einige Augenblicke aus einem gewissen Abstand zu betrachten. Dieser unverwandte Blick gelangt niemals zu einer Kritik. Peru ist eben nicht das Land des "kategorischen Imperativs".
Zur Entstehungszeit von "Eine Welt für Julius" war der "innere Monolog" ein seit langem gut eingeführtes Stilmittel: Seit Anna Karenina auf ihrer Fahrt zum Bahnhof, wo sie ihr Ende finden wird, im Kampf gegen ihre panische Gedankenflucht die Ladenschilder las und deren Namen sinnlos wiederholte, haben Autoren immer wieder versucht, ihre Geschichte nicht nur aus dem Blickwinkel einer der handelnden Personen zu erzählen, sondern sich auch auf die chaotische Wahrnehmung, den Salat an Sinneseindrücken, die unwillkürlich aufsteigende Assoziation im Hirn dieser Person einzulassen. Im "inneren Monolog" verbirgt sich der Fortgang der Handlung unter dem Wust der absichtlich und unabsichtlich zum Zweck der Selbsttäuschung herbeigeschafften Alltagssplitter. Der Leser ist aufgefordert, den roten, oft verborgenen Faden auszugraben. Bryce Echenique hat das Verfahren noch etwas kompliziert. Unversehens wechselt er den Standpunkt. Übergangslos springt die Kamera seiner Erzählregie auf eine andere Person über, die nun mit ihren Beobachtungen die Handlung weiterträgt. Man könnte an eine Verbindung aus "innerem Monolog" mit dem Briefroman denken, der die poliperspektivistische Betrachtung der Handlung besonders begünstigt. Keine der denkenden, empfindenden Personen ist intellektuell, keine stellt Reflexionen an oder wäre dazu überhaupt in der Lage. Jeder werden die hilflosen Phrasen der Alltagssprache belassen. Die Aufweichung der Klischees geschieht hier durch das Mittel ihrer Häufung.
Hesses Prinz Siddhartha lebte in einem Palast mit herrlichen Gärten, aus denen die Häßlichkeit und das Leiden verbannt waren. Sein Vater hatte verfügt, daß der Prinz niemals etwas sehen sollte, was seinen Geschmack und seine Gefühle kränken könnte. Als Siddhartha dann schließlich das behütete Gehege der Freude einmal verließ, begegnete er draußen dem Alter, der Krankheit und dem Tod: Was ihm, nachdem er sein Erschrecken über diese Erscheinungen überwunden hatte, deutlich wurde, war, daß er die Wirklichkeit gesehen hatte und bis dahin von der Unwirklichkeit umgeben gewesen war: Dieses Erlebnis, das Siddhartha zum Buddha werden ließ, ist keimhaft in vielen Kindheitsgeschichten enthalten.
Auch Julius hat etwas von einem Siddhartha. Der Wille, den Blick auf die Trübsal des Lebens unter allen Umständen abzuwehren, ist seinen Eltern zur zweiten Natur geworden. Wenn die Beunruhigung unabweisbar wird, hilft immer noch eine Europa-Reise, um wieder auf andere Gedanken zu kommen oder besser: um jede Art von Gedanken verblassen zu lassen. Julius als Jüngster wird von der Lebensregie des Hauses nicht vollständig erfaßt. Es gibt viele tote Winkel, in denen er unbeobachtet ist. Julius begegnet Menschen, die seine Eltern niemals gesehen haben.
Wenn Juan Lucas, sein bedrückend eleganter Stiefvater, sein Whiskyglas abstellen will, "verdichtet sich die Luft neben ihm zu einem Silbertablett". Julius weiß, wer dies Silbertablett hält. Hochlandindianer und Dschungelbewohner tragen die Livree seiner Familie. Sie denken und verhalten sich anders als die Herren; Julius fühlt sich von ihnen angezogen und wagt schon früh, diesen fremdartigen Menschen in ihre Welt zu folgen. "Eine Welt für Julius" ist aber keine Sozialromanze. Als das Buch geschrieben wurde, begann man in Südamerika, die "Theologie der Befreiung" auszuhecken - davon ist Julius weit entfernt. Nicht Mitleid und Empörung leiten ihn auf seinen Expeditionen zu den Armen, sondern die immer stärker werdende Anziehung der Wirklichkeit. Sie strömt auf ihn ein, umgibt und formt ihn und läßt ihn der enger erscheinenden Welt des Palastes entwachsen, ohne daß er ihn verlassen müßte.
Vilma, das schöne, sanfte Kindermädchen, war für Julius lange das reale Antlitz der Mütterlichkeit, während seine echte Mutter oft genug in der Ferne des Ideals blieb. Als Julius erfährt, daß die aus dem Haus gejagte Vilma Prostituierte geworden ist, stürzt seine Welt ein. "Welt" ist unsere Umgebung, solange wir sie als vollständig erleben und auf jede Frage eine Antwort in ihr finden. Nun verlängert sich gerade das Schicksal der vertrautesten Person und ragt über die Grenzen des gemeinsamen Lebens in unheimlicher Weise hinaus, um sich im Dunkel der Straßen Limas zu verlieren. Die Mauern des Palastes spalten sich. Schon vorher hat Julius freilich Erfahrungen sammeln dürfen, die ihn über seinen Lebenskreis hinwegführten. Lange war es möglich, solche Eindrücke der eigenen Sphäre zu integrieren. Jetzt offenbart sich diese Vereinnahmung des Fremdartigen als Täuschung. Julius erwacht und erkennt das Fragmentarische seiner Existenz.
Was wird der bartlose Knabe Julius, der schon ein Rasierwasser für den rituellen Moment der ersten Rasur bereithält, aus dieser Einsicht machen? In Deutschland nennt man die Schilderungen des Schicksals auf dem Weg zum Erwachsenwerden "Entwicklungsroman". Aber wozu wird Julius sich entwickeln? Da schweigt der Autor so vielsagend, daß er den Leser aufmerksam macht. Spezifische Gaben hat er an Julius nicht entdecken können. Das Klavierspiel hat er nicht ernsthaft betrieben, und im Sport ist er eifrig, aber nicht besonders herausragend. Da gibt es allerdings den kleinen Schulaufsatz, die boshafte, ins Absurde getriebene Schilderung eines lächerlich protzigen Gastes seiner Eltern.
Es ist aber nicht nur dieses kleine Indiz, das "Eine Welt für Julius" in jene besondere Kategorie des Entwicklungsromans verweist, zu der die größten Werke der modernen Literatur zählen. Sie haben die Entwicklung des Helden zum Schriftsteller zum Gegenstand, Prousts "Recherche" gehört ebenso dazu wie Doderers "Dämonen". Der Held wird in ihnen zum Schriftsteller, dessen Werk die Beschreibung ebendieses Prozesses ist. Wir wissen nicht genügend über das Leben von Bryce Echenique, um den Anteil des Autobiographischen in seinem ersten großen Roman einschätzen zu können. Aber obwohl es nicht ausgesprochen wird, darf man "Eine Welt für Julius" im Palast der Literatur in der Galerie vermuten, in der die "Portraits of the artist as a young man" hängen. Die "Welt für Julius" gehört zu den Welten, die untergehen müssen, damit der Schriftsteller sie neu erschaffen kann.
Alfredo Bryce Echenique: "Eine Welt für Julius". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Matthias Strobel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 525 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
"Eine Welt für Julius", der jüngst in deutscher Sprache erschienene Roman des peruanischen Autors Alfredo Bryce Echenique, ist bereits vor rund dreißig Jahren vollendet und herausgegeben worden, informiert der Rezensent Kersten Knipp. Möglichen Einwänden gegen den Text, der weder einen klaren Aufbau, noch eine These oder einen Protest beinhalte, wie schon ein peruanischer Rezensent in den siebziger Jahren festgestellt hatte, tritt er im voraus entgegen, indem er das Bestreben des Autors erklärt: Echenique, so Knipp, wolle erzählen, und zwar genau so, wie das Leben spielt, das ja auch hin und wieder einen wirren Verlauf nehme. Von dem Ergebnis ist Knipp sehr angetan. Echenique, der wie sein Protagonist zur peruanischen Oberschicht gehört, sei ein Entwicklungsroman mit zum Teil autobiografischen Zügen gelungen. Der Roman sei aber gleichzeitig Chronik einer verlorenen Zeit, Klassenportrait und Ideologiekritik, lobt er. Die dekadente Welt der peruanischen Oberschicht, wie sie sich bei Echenique darstellt, hätte gut in die Form des "'engagierten', offen anklagenden Romans gepasst", Knipp wertet es jedoch als "Teil von Echeniques Kunst, darauf verzichet zu haben". Dies gilt auch für seine Entscheidung, sich nicht festzulegen und einen offenen Ausgang zu wählen, bemerkt er abschließend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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