Die unerwartet aktuelle Lebensphilosophie des literarischen Außenseiters Christian Wagner (1835-1918) in einer zweibändigen Werkausgabe.Der schwäbische Dichter und Bauer Christian Wagner (1835-1918) gehört zu den literarischen Außenseitern des späten 19. Jahrhunderts. Sein vorwiegend lyrisches Werk, geprägt von einer Naturphilosophie der »Schonung alles Lebendigen«, wurde erst ab 1885 publiziert und ist keiner Richtung oder Schule zuzurechnen. Als Autodidakt, ohne höhere Schulbildung, lebenslang der bäuerlichen Arbeit und dörflichen Umgebung verpflichtet, hat Wagner ein Werk geschaffen, das von stark ethischen Werten getragen ist. Ein beträchtlicher Teil seiner Lyrik gehört zum bleibenden Bestand der deutschen Literatur.Schon zu Lebzeiten erfuhr der Autor namhafte Unterstützung, so etwa von Gustav Landauer, Bruno Wille, Kurt Tucholsky und vor allem von Hermann Hesse, der 1913 einer Auswahlausgabe der Gedichte Wagners herausgab; nach seinem Tod fand Wagner Fürsprecher etwa in Theodor Heuss, Werner Kraft, Albrecht Goes, Wulf Kirsten, Hermann Lenz und Peter Handke.Die Werkausgabe berücksichtigt in ihrer Konzeption die unterschiedliche literarische Bedeutung des Wagnerschen Werkes. Der erste Band enthält eine Auswahl von 180 aus dem über 800 Gedichte umfassenden _uvre, dazu sämtliche Erzählungen sowie einige theoretische Texte.Der zweite Band widmet sich der Werk- und Lebensgeschichte und versammelt Aussagen anderer Autoren in Briefen und Essays (z.B. Hesse, Tucholsky, Landauer, Kraft und Thomas Bernhard).Band 1: Das dichterische Werk. Mit einem Vorwort von Wulf KirstenBand 2: Lebenszeugnisse und Rezeption. Mit einem Vorwort von Friedrich PfäfflinLinks:Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung DarmstadtChristian-Wagner-Gesellschaft
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.09.2004Schwäbischer Glücksaufschlager
Der Dichter Christian Wagner in einer neuen Werkausgabe
Alles kommt bei Dichtern auf den eigenen Ton, die eigene Stimme an. Ihre Klarheit kann alle dämpfenden Effekte zeitlichen oder gedanklichen Abstands durchdringen, das Ohr des Lesers noch nach hundert Jahren erreichen: Ja, laßt mich klagen meine eigne Klag / Die eigne Klag des ausgebrannten Lichts, / Die eigne Klag, daß ich nicht mehr vermag / Lichtwellen neu zu werfen in den Tag,/ Lichtsonnen neu zu streuen in das Nichts. Dies Trauerlied („Am Abend des Lebens”) über das Verlöschen poetischer Kraft stimmte Christian Wagner an, der Dichter aus dem schwäbischen Warmbronn, 1835 geboren, kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges gestorben, damals weit bekannt, viel verehrt.
Ein Sonderling war er, ein Sonderfall ist er der Literaturgeschichte geblieben. Wagner arbeitete sein Lebtag als Bauer mit wenig Vieh und wenig Land, verdingte sich auch mal als Holzhauer und Eisenbahnbauer. Schuften und Schulden, viermaliges Kindersterben, der Tod seiner ersten, seiner zweiten Frau, so lebte er hin und dichtete doch. Dabei hatte er in der Kindheit kaum mehr als die üblich kärgliche Dorfschul-Bildung erhalten, und danach als Autodidakt weitere Wege in die Gedankenparadiese gesucht.
Zeitlebens war er dabei ein Glücksaufschlager (wie Thomas Mann es nannte) und fand bei der unsystematischen Lektüre, welche die geringe Freizeit zuließ, in Pfennigmagazinen, im Buchbestand von Pfarrern oder Verwandten und später in Bibliotheken Anregung und Einkleidung für seine Kunst: Indisches über Wiedergeburt und die Gemeinschaft alles Lebendigen, Mystisches, Gedichtformen der Romantik und Klassik, die er nach eigenem Empfinden modifizierte, Botanisches, Sagen aus der Heimat, der Antike. Als „Märchenerzähler, Bramine und Seher” (so hieß sein erstes Werk von 1884) verstand er sich, wobei er in die Wiedergeburtsspiralen auch die unbelebte Natur einbezog.
Seine geringe Herkunft und Bildung drückte ihn zwar zuzeiten, doch meist sprach Stolz aus ihm: Ich hatt nicht Wissenschaft, nicht Kunst,/ Mir wurde beides durch der Götter Gunst, / Und Königen und Fürsten steh ich gleich, / Doch in der Zukunft schlummert noch mein Reich. Dieser grundlegende, aber uneitle Stolz - an Gustav Landauer schrieb Wagner den Ausruf „Bei meiner Göttlichkeit” - rührte auch daher, dass er Bedeutenderes noch als in den Werken aus Papier im Buch der Natur lesen konnte. Bei den Gängen durch die Umgebung Warmbronns hielt er Zwiesprache mit Blumen und Tieren, sah Sinnbilder und Verwandtschaften, fühlte sich aufgehoben im großen Kreislauf des Werdens und Vergehens.
Ein manchmal grober Pazifist
So waren ihm die Zeichen nahenden Todes vertraut, sah er in den frühen Anemonen „bleiche Zionstöchter”, schrieb Pflanzen Dankbarkeit und Verteidigungsmut zu. Gerühmt wurden, von Karl Kraus bis Wulf Kirsten, seine Naturgedichte wie „Blühender Kirschbaum oder Apfelbaum” und „Syringe”. Kirsten ist es auch, der die neue Werkausgabe (samt Lebens- und Rezeptionszeugnissen) einleitet. Es scheint, als bedürfe Wagner der Krücke großer Namen von Gustav Landauer über Theodor Heuss bis Peter Handke. Dabei haben das seine kunst- und sinnreichen Anklangsverse, wiewohl nicht alles daran gelungen oder frei von Konventionalismen ist, gar nicht nötig. Anders als in den Auswahlbänden zuvor ertönt Wagners Stimme endlich unverfälscht. Bearbeitungen, die frühere Herausgeber - angefangen von Hermann Hesse - vorgenommen hatten, gibt es in diesen beiden Bänden nicht.
Die für Wagner charakteristische, eigenwillige Interpunktion und Orthographie wird respektiert, zum Teil auch die besondere Verbindung von Prosatexten und Gedichten in den Sammlungen der „Sonntagsgänge”. Der Herausgeber Ulrich Keicher bringt viele autobiografische Texte, manche erstmals, Briefe und Erinnerungen, in denen Dichtersorgen, Beamtenschelte, Klage über Raubbau an der Natur und Viehnöte seltsam nebeneinander stehen. Überraschend mutet in ihnen eine Distanz, ja beinahe Rohheit gegenüber Nachbarn und Dörflern an. Sie korrigiert diejenigen, die das Bild des Sektierers, Pazifisten und Tierschützers Wagner allzu oft geschönt haben.
So begegnet in diesen Auswahl-Bänden ein faszinierender Dichter, Eigenbrötler und Ethiker, der „eine möglichste Schonung alles Lebendigen” forderte und praktizierte, deshalb auch nie in Kriegsbegeisterung verfiel wie so viele gebildetere Kollegen. Er erkannte „das Heldentum des Nitroglyzerins nicht an”. Seine Kunst steht allein in ihrer Zeit, außerhalb des Betriebs und der Tradition, wenngleich sich Assoziationen zu Goethes Liedern, zur Radikalität des späten Rückert oder Rilkes Versen einstellen. Ein schwäbischer Bauerndichter aber war er nicht. Das betonte schon kurz nach Wagners Tod im Februar 1918 Kurt Tucholsky: „Er war allerdings ein Landmann; er hat die Natur gekannt, aber das Hälmchen war ihm kein Anlaß Duliöh zu schreien oder ein knallig angestrichenes Gemüt leuchten zu lassen. Er war ein in sich gekehrter Künstler und wohl wert, daß wir ihn alle läsen und verehrten.”
ROLF-BERNHARD ESSIG
CHRISTIAN WAGNER: Eine Welt von einem Namenlosen. Das dichterische Werk. Lebenszeugnisse und Rezeption. Herausgegeben von Ulrich Keicher. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. Zwei Bände, zus. 528 Seiten, 49 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Dichter Christian Wagner in einer neuen Werkausgabe
Alles kommt bei Dichtern auf den eigenen Ton, die eigene Stimme an. Ihre Klarheit kann alle dämpfenden Effekte zeitlichen oder gedanklichen Abstands durchdringen, das Ohr des Lesers noch nach hundert Jahren erreichen: Ja, laßt mich klagen meine eigne Klag / Die eigne Klag des ausgebrannten Lichts, / Die eigne Klag, daß ich nicht mehr vermag / Lichtwellen neu zu werfen in den Tag,/ Lichtsonnen neu zu streuen in das Nichts. Dies Trauerlied („Am Abend des Lebens”) über das Verlöschen poetischer Kraft stimmte Christian Wagner an, der Dichter aus dem schwäbischen Warmbronn, 1835 geboren, kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges gestorben, damals weit bekannt, viel verehrt.
Ein Sonderling war er, ein Sonderfall ist er der Literaturgeschichte geblieben. Wagner arbeitete sein Lebtag als Bauer mit wenig Vieh und wenig Land, verdingte sich auch mal als Holzhauer und Eisenbahnbauer. Schuften und Schulden, viermaliges Kindersterben, der Tod seiner ersten, seiner zweiten Frau, so lebte er hin und dichtete doch. Dabei hatte er in der Kindheit kaum mehr als die üblich kärgliche Dorfschul-Bildung erhalten, und danach als Autodidakt weitere Wege in die Gedankenparadiese gesucht.
Zeitlebens war er dabei ein Glücksaufschlager (wie Thomas Mann es nannte) und fand bei der unsystematischen Lektüre, welche die geringe Freizeit zuließ, in Pfennigmagazinen, im Buchbestand von Pfarrern oder Verwandten und später in Bibliotheken Anregung und Einkleidung für seine Kunst: Indisches über Wiedergeburt und die Gemeinschaft alles Lebendigen, Mystisches, Gedichtformen der Romantik und Klassik, die er nach eigenem Empfinden modifizierte, Botanisches, Sagen aus der Heimat, der Antike. Als „Märchenerzähler, Bramine und Seher” (so hieß sein erstes Werk von 1884) verstand er sich, wobei er in die Wiedergeburtsspiralen auch die unbelebte Natur einbezog.
Seine geringe Herkunft und Bildung drückte ihn zwar zuzeiten, doch meist sprach Stolz aus ihm: Ich hatt nicht Wissenschaft, nicht Kunst,/ Mir wurde beides durch der Götter Gunst, / Und Königen und Fürsten steh ich gleich, / Doch in der Zukunft schlummert noch mein Reich. Dieser grundlegende, aber uneitle Stolz - an Gustav Landauer schrieb Wagner den Ausruf „Bei meiner Göttlichkeit” - rührte auch daher, dass er Bedeutenderes noch als in den Werken aus Papier im Buch der Natur lesen konnte. Bei den Gängen durch die Umgebung Warmbronns hielt er Zwiesprache mit Blumen und Tieren, sah Sinnbilder und Verwandtschaften, fühlte sich aufgehoben im großen Kreislauf des Werdens und Vergehens.
Ein manchmal grober Pazifist
So waren ihm die Zeichen nahenden Todes vertraut, sah er in den frühen Anemonen „bleiche Zionstöchter”, schrieb Pflanzen Dankbarkeit und Verteidigungsmut zu. Gerühmt wurden, von Karl Kraus bis Wulf Kirsten, seine Naturgedichte wie „Blühender Kirschbaum oder Apfelbaum” und „Syringe”. Kirsten ist es auch, der die neue Werkausgabe (samt Lebens- und Rezeptionszeugnissen) einleitet. Es scheint, als bedürfe Wagner der Krücke großer Namen von Gustav Landauer über Theodor Heuss bis Peter Handke. Dabei haben das seine kunst- und sinnreichen Anklangsverse, wiewohl nicht alles daran gelungen oder frei von Konventionalismen ist, gar nicht nötig. Anders als in den Auswahlbänden zuvor ertönt Wagners Stimme endlich unverfälscht. Bearbeitungen, die frühere Herausgeber - angefangen von Hermann Hesse - vorgenommen hatten, gibt es in diesen beiden Bänden nicht.
Die für Wagner charakteristische, eigenwillige Interpunktion und Orthographie wird respektiert, zum Teil auch die besondere Verbindung von Prosatexten und Gedichten in den Sammlungen der „Sonntagsgänge”. Der Herausgeber Ulrich Keicher bringt viele autobiografische Texte, manche erstmals, Briefe und Erinnerungen, in denen Dichtersorgen, Beamtenschelte, Klage über Raubbau an der Natur und Viehnöte seltsam nebeneinander stehen. Überraschend mutet in ihnen eine Distanz, ja beinahe Rohheit gegenüber Nachbarn und Dörflern an. Sie korrigiert diejenigen, die das Bild des Sektierers, Pazifisten und Tierschützers Wagner allzu oft geschönt haben.
So begegnet in diesen Auswahl-Bänden ein faszinierender Dichter, Eigenbrötler und Ethiker, der „eine möglichste Schonung alles Lebendigen” forderte und praktizierte, deshalb auch nie in Kriegsbegeisterung verfiel wie so viele gebildetere Kollegen. Er erkannte „das Heldentum des Nitroglyzerins nicht an”. Seine Kunst steht allein in ihrer Zeit, außerhalb des Betriebs und der Tradition, wenngleich sich Assoziationen zu Goethes Liedern, zur Radikalität des späten Rückert oder Rilkes Versen einstellen. Ein schwäbischer Bauerndichter aber war er nicht. Das betonte schon kurz nach Wagners Tod im Februar 1918 Kurt Tucholsky: „Er war allerdings ein Landmann; er hat die Natur gekannt, aber das Hälmchen war ihm kein Anlaß Duliöh zu schreien oder ein knallig angestrichenes Gemüt leuchten zu lassen. Er war ein in sich gekehrter Künstler und wohl wert, daß wir ihn alle läsen und verehrten.”
ROLF-BERNHARD ESSIG
CHRISTIAN WAGNER: Eine Welt von einem Namenlosen. Das dichterische Werk. Lebenszeugnisse und Rezeption. Herausgegeben von Ulrich Keicher. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. Zwei Bände, zus. 528 Seiten, 49 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2003Katzen steigen auf und ab
Der ländliche Dichter Christian Wagner ist neu zu entdecken
Zu den weniger bekannten Tätigkeiten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gehört die Edition von wichtigen Werken, "deren sich der Verlagsbuchhandel nicht annehmen kann", wie es in der Satzung heißt. Die ersten Autoren der 1954 begonnenen Reihe waren Hans Schiebelhuth, Florens Christian Rang, Franz Baermann Steiner, Werner Kraft, Oskar Loerke, Gertrud Kolmar und Jesse Thoor: Es zeigt sich hier, alles in allem, eine erstaunliche Sicherheit der Wahl, die sich bis heute bewährt hat.
Mit keinem Text ist die Akademie so weit in die Vergangenheit der deutschen Literatur zurückgegangen wie mit den zwei jetzt erschienenen Bänden von und über Christian Wagner (1835 bis 1918). Die Lyrik dieses Mannes, den als "Bauerndichter" zu bezeichnen richtig, aber ganz unzulänglich wäre, ist immer noch weitgehend unbekannt, obwohl es an Versuchen, ihren Rang aufzuzeigen, und Signalen in Anthologien nicht gefehlt hat; obwohl 1980 ein Band "Gedichte" in der Bibliothek Suhrkamp mit einem Nachwort von Peter Handke erschien. Dem könnte die Neuerscheinung endlich abhelfen.
Wagner hat sein Leben in dem kleinen Ort Warmbronn bei Leonberg in der Nähe von Stuttgart verbracht, wo er, "geistig vereinsamt", zu dichten begann und schließlich ein Werk schuf, das ungleichmäßig, singulär und großartig ist. Ein hohles Nekrolog-Wort füllt sich im Falle seines Lebens wieder mit Bedeutung: daß jemand um etwas "gerungen" hat. Wie Werner Kraft (dem wir den bedeutendsten Aufsatz über den Dichter verdanken) schrieb: Es lasse sich sagen, "es gebe in dieser dichterischen Welt viel sprachlich Unbewältigtes, aber überhaupt keine unerlebten Metaphern". Der erste Band enthält eine Auswahl der Gedichte, die kleine, lokal gefärbte Geschichtensammlung "Eigenbrötler" und eine Reihe kurzer Aufzeichnungen wie "Das Verhältnis des ländlichen Dichters zu seiner Umgebung" oder "Eindruck des entsetzlichen Weltkriegs auf friedliche Menschen".
Der zweite Band "Lebenszeugnisse und Rezeption" bietet neben den wichtigen autobiographischen Aufzeichnungen und einer Lebenschronik die Zeugnisse von Wagners Wirkung, darunter den Briefwechsel mit Hermann Hesse. Der Herausgeber, den die Akademie für das Unternehmen gewonnen hat, ist der in Warmbronn lebende Verleger und Sammler Ulrich Keicher; er hat seine Auswahl als Leseausgabe konzipiert, nicht als kritische Edition eines Werkes, das, wie er zu Recht betont, von ganz unterschiedlicher Qualität ist - so daß eine umfassend angelegte Edition eher den Blick auf das Großartige des OEuvres hätte verstellen können. Man mag es bedauern, daß deshalb nun Wagners eigenartige Praxis, seine Gedichte oft in einen lehrhaft-utopischen Erzählzusammenhang zu stellen, nur an wenigen Beispielen demonstriert wird. Es ist dies aber eine bewußte Entscheidung des Herausgebers, und sie ist legitim. Wulf Kirsten hat dem dichterischen Werk ein Vorwort geschrieben, das mit dem Satz schließt, Wagner gehöre "zu jenen kühnen Vorausdenkern und -schreibern, die der deutschen Poesie eine ,neue Provinz' im Sinne Walt Whitmans hinzugewonnen haben". Friedrich Pfäfflin hat, von Karl Kraus' Würdigung des Dichters ausgehend, den zweiten Band eingeleitet.
Der Leser, der die Texte in sich aufnimmt, erblickt eine der seltsamsten und bewegendsten geistigen Physiognomien unserer Literatur. Nirgendwo anders ist in einem der Theosophie gewogenen Zeitalter das "Brahmanische" so unmittelbar zur Dichtung geworden: "Keine Mühe sollst du jemals scheuen, / Vögel und Gefangene zu befreien; / Keine Kosten, auf den Markt zu wandeln, / Junge zu den Müttern rückzuhandeln." In einer Parallelisierung wie "Vögel und Gefangene" scheint Wagners Ethos auf: Was dem Tier, was der Pflanze widerfährt, hat dasselbe Gewicht wie das Schicksal des Menschen, denn alle Lebensformen sind durch einen Atomismus der Wiederverkörperung verknüpft. In Farbe und Duft der Blumen tritt dem Menschen vielleicht ein Teil seiner einstigen Existenz entgegen, dem "in dieser blauen Kühle / der Blumenwolke" Stehenden, der sich fragt, ob sein "einstig Erdenwesen / nun auch einmal zu solchem Glanz genesen?" ("Syringen" - ein Gedicht, das Karl Kraus 1922 in die "Fackel" aufgenommen hat, zu einem Zeitpunkt, da die Zeitschrift prinzipiell schon längst keine Texte von Gegenwartsautoren mehr druckte. Kraus schrieb dazu: "Es wird in deutscher Sprache nicht viele Wunder von der Art der dritten und der letzten Strophe des Gedichts ,Syringen' geben.")
Die Dichtung Wagners ist in einem Sinne epigonal, der das Pejorative dieser Kategorie völlig sprengt. Er eignet sich den Hexameter an, und er endet den Nachruf auf eine Katze mit "Du auch gingest von mir. - Du nicht die geringste von meinen / Freundinnen rings in der Welt, du schöne getigerte Katze", er endet das Gedicht "Aufrichtung" mit dem Anblick der Kassiopeia am Nachthimmel, der den Dichter tröstet: "... flammte das ewige W des geringen und eigenen Namens. - / Heiß durch die Adern mir rann die Gewißheit göttlichen Beistands."
Auf einem bekannten Foto sieht man den Dichter auf einem Stuhl im Freien sitzend, vor einem großen Haufen aufgeschichteten Reisigs, in die Kamera lachend, in den Armen eine Katze. Im Buch ist diesem Bild das schöne Briefzitat von Hans Erich Blaich ("Dr. Owlglaß") an Tucholsky zugeordnet: "Die Katzen steigen an ihm auf und ab wie die Engel an der Jakobsleiter; von Zeit zu Zeit zwitschert er geheimnisvoll vor sich hin und spielt mit bunten metaphysischen Seidenflocken." Das ist der Dichter im hohen Alter, dem noch ein Maß an öffentlicher Anerkennung, Bewunderung und Unterstützung zuteil geworden war, dem sich schließlich einige Verbindungen knüpften, zu Hesse, zum "Oberdada" Johannes Baader, zu Gustav Landauer, zu manchen anderen, und dem Mäzene zwei Italien-Reisen ermöglicht hatten - denen wir Gedichte verdanken wie "Im Garten des Albergo del Sole (Pompeji)".
Sein ganzes langes Leben aber wäre eher zu schildern wie in seinem Gedicht "Wochenkalender", wo der Nennung jedes einzelnen Wochentages ein hallend-lakonisches "Entsetzlich!" antwortet. Hinter diesem ländlichen, entbehrungsreichen, wunderlichen Dasein (und von ihm unabtrennbar) liegt der klare Umriß intensiver geistiger Existenz. Landauer hat sie in in der Momentaufnahme eines Briefes erhellt: "Wie er sich da, der kleine verhutzelte Mann, erhob und ohne Rückhalt ausrief - es war am Wirtshaustisch bei gleichgültigen Philistern: ,Wir müssen die Weltmacht in unseren Dienst zwingen! Es ist schwer, und mit Gewalt geht's nicht, nicht mit Gewalt.'"
Auf einer Metallplatte an einem Stein vor dem Christian-Wagner-Haus in Warmbronn kann man seit einiger Zeit das Gedicht "Lied der Bitterkeit" lesen: "Sie fragten nach meiner Bestallung. / Das brachte mein Blut in Wallung. / ,Ich werde den Gott euch künden / Auf Fluren und Wiesengründen! / Das Recht des Lebens euch lehren / Und ewiges Wiederkehren! / Ich werde die Raben scheuchen - / Erwartet kein anderes Zeichen!'" Zur Verkündung der Gott-Natur und der "Wiederkehr" (denen man auch anderswo begegnet) tritt bei Wagner die souveräne, rätselhafte Gebärde des Poeten: der die Raben scheucht. Er war ein genuiner Dichter, einer der wenigen in der Öde der deutschen Lyrik des späten neunzehnten Jahrhunderts.
JOACHIM KALKA
Christian Wagner: "Eine Welt von einem Namenlosen". Das dichterische Werk / Lebenszeugnisse und Rezeption. Herausgegeben von Ulrich Keicher. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 272 u. 252 S., geb., zus. 49,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der ländliche Dichter Christian Wagner ist neu zu entdecken
Zu den weniger bekannten Tätigkeiten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gehört die Edition von wichtigen Werken, "deren sich der Verlagsbuchhandel nicht annehmen kann", wie es in der Satzung heißt. Die ersten Autoren der 1954 begonnenen Reihe waren Hans Schiebelhuth, Florens Christian Rang, Franz Baermann Steiner, Werner Kraft, Oskar Loerke, Gertrud Kolmar und Jesse Thoor: Es zeigt sich hier, alles in allem, eine erstaunliche Sicherheit der Wahl, die sich bis heute bewährt hat.
Mit keinem Text ist die Akademie so weit in die Vergangenheit der deutschen Literatur zurückgegangen wie mit den zwei jetzt erschienenen Bänden von und über Christian Wagner (1835 bis 1918). Die Lyrik dieses Mannes, den als "Bauerndichter" zu bezeichnen richtig, aber ganz unzulänglich wäre, ist immer noch weitgehend unbekannt, obwohl es an Versuchen, ihren Rang aufzuzeigen, und Signalen in Anthologien nicht gefehlt hat; obwohl 1980 ein Band "Gedichte" in der Bibliothek Suhrkamp mit einem Nachwort von Peter Handke erschien. Dem könnte die Neuerscheinung endlich abhelfen.
Wagner hat sein Leben in dem kleinen Ort Warmbronn bei Leonberg in der Nähe von Stuttgart verbracht, wo er, "geistig vereinsamt", zu dichten begann und schließlich ein Werk schuf, das ungleichmäßig, singulär und großartig ist. Ein hohles Nekrolog-Wort füllt sich im Falle seines Lebens wieder mit Bedeutung: daß jemand um etwas "gerungen" hat. Wie Werner Kraft (dem wir den bedeutendsten Aufsatz über den Dichter verdanken) schrieb: Es lasse sich sagen, "es gebe in dieser dichterischen Welt viel sprachlich Unbewältigtes, aber überhaupt keine unerlebten Metaphern". Der erste Band enthält eine Auswahl der Gedichte, die kleine, lokal gefärbte Geschichtensammlung "Eigenbrötler" und eine Reihe kurzer Aufzeichnungen wie "Das Verhältnis des ländlichen Dichters zu seiner Umgebung" oder "Eindruck des entsetzlichen Weltkriegs auf friedliche Menschen".
Der zweite Band "Lebenszeugnisse und Rezeption" bietet neben den wichtigen autobiographischen Aufzeichnungen und einer Lebenschronik die Zeugnisse von Wagners Wirkung, darunter den Briefwechsel mit Hermann Hesse. Der Herausgeber, den die Akademie für das Unternehmen gewonnen hat, ist der in Warmbronn lebende Verleger und Sammler Ulrich Keicher; er hat seine Auswahl als Leseausgabe konzipiert, nicht als kritische Edition eines Werkes, das, wie er zu Recht betont, von ganz unterschiedlicher Qualität ist - so daß eine umfassend angelegte Edition eher den Blick auf das Großartige des OEuvres hätte verstellen können. Man mag es bedauern, daß deshalb nun Wagners eigenartige Praxis, seine Gedichte oft in einen lehrhaft-utopischen Erzählzusammenhang zu stellen, nur an wenigen Beispielen demonstriert wird. Es ist dies aber eine bewußte Entscheidung des Herausgebers, und sie ist legitim. Wulf Kirsten hat dem dichterischen Werk ein Vorwort geschrieben, das mit dem Satz schließt, Wagner gehöre "zu jenen kühnen Vorausdenkern und -schreibern, die der deutschen Poesie eine ,neue Provinz' im Sinne Walt Whitmans hinzugewonnen haben". Friedrich Pfäfflin hat, von Karl Kraus' Würdigung des Dichters ausgehend, den zweiten Band eingeleitet.
Der Leser, der die Texte in sich aufnimmt, erblickt eine der seltsamsten und bewegendsten geistigen Physiognomien unserer Literatur. Nirgendwo anders ist in einem der Theosophie gewogenen Zeitalter das "Brahmanische" so unmittelbar zur Dichtung geworden: "Keine Mühe sollst du jemals scheuen, / Vögel und Gefangene zu befreien; / Keine Kosten, auf den Markt zu wandeln, / Junge zu den Müttern rückzuhandeln." In einer Parallelisierung wie "Vögel und Gefangene" scheint Wagners Ethos auf: Was dem Tier, was der Pflanze widerfährt, hat dasselbe Gewicht wie das Schicksal des Menschen, denn alle Lebensformen sind durch einen Atomismus der Wiederverkörperung verknüpft. In Farbe und Duft der Blumen tritt dem Menschen vielleicht ein Teil seiner einstigen Existenz entgegen, dem "in dieser blauen Kühle / der Blumenwolke" Stehenden, der sich fragt, ob sein "einstig Erdenwesen / nun auch einmal zu solchem Glanz genesen?" ("Syringen" - ein Gedicht, das Karl Kraus 1922 in die "Fackel" aufgenommen hat, zu einem Zeitpunkt, da die Zeitschrift prinzipiell schon längst keine Texte von Gegenwartsautoren mehr druckte. Kraus schrieb dazu: "Es wird in deutscher Sprache nicht viele Wunder von der Art der dritten und der letzten Strophe des Gedichts ,Syringen' geben.")
Die Dichtung Wagners ist in einem Sinne epigonal, der das Pejorative dieser Kategorie völlig sprengt. Er eignet sich den Hexameter an, und er endet den Nachruf auf eine Katze mit "Du auch gingest von mir. - Du nicht die geringste von meinen / Freundinnen rings in der Welt, du schöne getigerte Katze", er endet das Gedicht "Aufrichtung" mit dem Anblick der Kassiopeia am Nachthimmel, der den Dichter tröstet: "... flammte das ewige W des geringen und eigenen Namens. - / Heiß durch die Adern mir rann die Gewißheit göttlichen Beistands."
Auf einem bekannten Foto sieht man den Dichter auf einem Stuhl im Freien sitzend, vor einem großen Haufen aufgeschichteten Reisigs, in die Kamera lachend, in den Armen eine Katze. Im Buch ist diesem Bild das schöne Briefzitat von Hans Erich Blaich ("Dr. Owlglaß") an Tucholsky zugeordnet: "Die Katzen steigen an ihm auf und ab wie die Engel an der Jakobsleiter; von Zeit zu Zeit zwitschert er geheimnisvoll vor sich hin und spielt mit bunten metaphysischen Seidenflocken." Das ist der Dichter im hohen Alter, dem noch ein Maß an öffentlicher Anerkennung, Bewunderung und Unterstützung zuteil geworden war, dem sich schließlich einige Verbindungen knüpften, zu Hesse, zum "Oberdada" Johannes Baader, zu Gustav Landauer, zu manchen anderen, und dem Mäzene zwei Italien-Reisen ermöglicht hatten - denen wir Gedichte verdanken wie "Im Garten des Albergo del Sole (Pompeji)".
Sein ganzes langes Leben aber wäre eher zu schildern wie in seinem Gedicht "Wochenkalender", wo der Nennung jedes einzelnen Wochentages ein hallend-lakonisches "Entsetzlich!" antwortet. Hinter diesem ländlichen, entbehrungsreichen, wunderlichen Dasein (und von ihm unabtrennbar) liegt der klare Umriß intensiver geistiger Existenz. Landauer hat sie in in der Momentaufnahme eines Briefes erhellt: "Wie er sich da, der kleine verhutzelte Mann, erhob und ohne Rückhalt ausrief - es war am Wirtshaustisch bei gleichgültigen Philistern: ,Wir müssen die Weltmacht in unseren Dienst zwingen! Es ist schwer, und mit Gewalt geht's nicht, nicht mit Gewalt.'"
Auf einer Metallplatte an einem Stein vor dem Christian-Wagner-Haus in Warmbronn kann man seit einiger Zeit das Gedicht "Lied der Bitterkeit" lesen: "Sie fragten nach meiner Bestallung. / Das brachte mein Blut in Wallung. / ,Ich werde den Gott euch künden / Auf Fluren und Wiesengründen! / Das Recht des Lebens euch lehren / Und ewiges Wiederkehren! / Ich werde die Raben scheuchen - / Erwartet kein anderes Zeichen!'" Zur Verkündung der Gott-Natur und der "Wiederkehr" (denen man auch anderswo begegnet) tritt bei Wagner die souveräne, rätselhafte Gebärde des Poeten: der die Raben scheucht. Er war ein genuiner Dichter, einer der wenigen in der Öde der deutschen Lyrik des späten neunzehnten Jahrhunderts.
JOACHIM KALKA
Christian Wagner: "Eine Welt von einem Namenlosen". Das dichterische Werk / Lebenszeugnisse und Rezeption. Herausgegeben von Ulrich Keicher. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 272 u. 252 S., geb., zus. 49,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein "faszinierender Dichter, Eigenbrötler und Ethiker " ist Rolf-Bernhard Essig in dieser von Wulf Kirsten herausgegebenen Auswahl begegnet: Christian Wagner mag ein Bauer gewesen sein, ein Bauerndichter war er nicht, stellt der Rezensent auch mit einem Zitat von Kurt Tucholsky klar: "Er hat die Natur gekannt, aber das Hälmchen war ihm kein Anlass, 'duliöh' zu schreien." Besonders freut den Rezensenten, dass er aus diesem Band Wagners gänzlich "unverfälscht" heraushören dürfen, unbearbeitet und mit Wagners "eigenwilliger Interpunktion und Orthografie". Zwar will Rezensent Essig einen gewissen Konventionalismus der Gedichte nicht verhehlen, doch rühmt er ihre Klarheit wie ihre "kunst- und sinnreichen Anklangverse". Kleine Kostprobe: "Ich hatt nicht Wissenschaft, nicht Kunst,/ Mir wurde beides durch der Götter Gunst, / Und Königen und Fürsten steh ich gleich, / Doch in der Zukunft schlummert noch mein Reich."
© Perlentaucher Medien GmbH
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