Seit ihren Anfängen gehören Literatur und Globalisierung zusammen. Denn durch Autoren und Reisende, durch Weitererzähltes und Übersetztes beeinflussen sich Literaturen in vielen Dimensionen. Dieser Prozess hat sich seit der Moderne beschleunigt und intensiviert. Heute bündelt sich die Vielfalt von Lebenserfahrung, Lebensentwürfen und literarischen Traditionen in Werken, die in mehreren Kulturen wurzeln. Und doch wird Literaturgeschichte als Nationalgeschichte geschrieben. Die Literaturwissenschaftlerin Sandra Richter hingegen erzählt die Geschichte deutschsprachiger Literatur erstmals als Weltgeschichte und macht die unterschiedlichen Einflussfaktoren in den jeweiligen Epochen transparent - von den mittelalterlichen Minnesängern bis hin zu deutschen Nobelpreisträgern wie Herta Müller. Eine spannende Erkundung durch mehr als ein Jahrtausend Dichtung.
Ausstattung: s/w-Abb. im Text und farbige Karten
Ausstattung: s/w-Abb. im Text und farbige Karten
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2017Möge das die Programmschrift für Marbach sein
Mal Flaute, mal Sturm: Sandra Richter beschreibt die weltweite Rezeption deutschsprachiger Literatur seit der Frühen Neuzeit.
Von Ilija Trojanow
Neulich begrüßte mich in Freetown, Sierra Leone, eine vor kurzem abgeschobene Frau mit dem Satz: "Ick bin eine Berlinerin." Inmitten von Staub, Hitze und Stromausfall erklärte sie mir, sie fühle sich als Deutsche. In einem Brief des Malers August Macke von der Westfront steht der bemerkenswerte Satz: "Was mich aber am meisten quält, ist, dass ich auf jene schießen muss, von denen ich alles gelernt habe." Denn dem Bonner Künstler war die französische Malerei künstlerische Heimat. Solche vermeintlichen Paradoxien sind jenen, denen die multiplen Realitäten der Globalität vertraut sind, eine alltägliche Selbstverständlichkeit. Literaten, die schwer an einer Bindestrich-Identität tragen ("türkisch-deutsch", "russisch-deutsch", "äthiopisch-deutsch"), kennen das Anrennen gegen die trägen Windmühlen der rostigen Kategorien und Zuschreibungen zur Genüge. Wo gehört man hin, und muss man irgendwo dazugehören?
Man muss den provokanten Befund von Feridun Zaimoglu, die "Migrationsliteratur" sei ein "toter Kadaver" (zur Auswahl standen auch "leblose Leiche" oder "postmortale Mumie"), nicht teilen, um zu erkennen, dass die eingefahrenen Begriffe nicht greifen. Sandra Richter, Professorin für Germanistik in Stuttgart, schreibt in ihrer "Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur" daher zu Recht: "Das Etikett ,deutschsprachige Literatur' ist für solche Literatur, die aus zwei oder mehr Ländern kommt und mindestens in diese hineinwirken will, zu eng."
Um die hiesigen Literaturen aus dem nationalstaatlichen Getto zu befreien, holt Sandra Richter weit aus, beginnt mit der Erfindung des Buchdrucks und den ersten gedruckten Ausgaben von Tacitus' "Germania" in der Frühen Neuzeit. Im Parforceritt durch die Jahrhunderte und über Kontinente hinweg erzählt sie von der Wirkung auf Deutsch verfasster Literatur jenseits aller Landesgrenzen. Wobei sie gleich am Anfang den Begriff "Exportgut" einführt, um klarzustellen, dass sie zwar "eine weitläufige Rezeptionsund Adaptionsgeschichte" im Auge hat, ihren Schwerpunkt aber weniger - um im Bild zu bleiben - auf den Import legt. Die vielfältigen Einflüsse auf die deutschsprachige Literatur, die schon im Mittelalter von islamischen Muwashshala- und jüdischen Zajal-Liedern über die provenzalische Liebeslyrik zum Minnesang führten, werden bestimmt noch in anderen Werken nachgezeichnet werden, wenn denn Sandra Richters Buch, wie zu hoffen ist, in der noch zu selten über den eigenen Tellerrand schauenden Germanistik Schule macht.
Ihr Breitwandpanorama verzichtet auf ein ideengeschichtliches Destillat, auf die Beschreibung einer spezifischen DNA (es ist fraglich, ob dies überhaupt zu leisten ist, denn höchst populäre Gesamtschauen wie etwa Yuval Noah Hararis "Eine kurze Geschichte der Menschheit" wirken so, als würde sich ein Musiker mit einem einzigen Ton begnügen). Die Bewegung von Sandra Richters Untersuchung ist eher zentrifugal, das beschert den Lesern viele Überraschungen, aber kein konsistentes Narrativ. Wer selbiges erwartet, wird wohl eher enttäuscht die Lektüre beenden, wer sich aber einer historischen Reise anvertraut, auf der immer wieder an unvorhergesehenen Häfen Anker geworfen wird, der wird Mal ums Mal mit Gewinn anlanden.
Über die tatsächliche Wirkung deutschsprachiger Texte dürften sich die meisten Leser oft verwundert die Augen reiben. August von Kotzebue etwa war viel populärer als Friedrich Schiller, Salomon Gessners "Tod Abels" ein europäischer Bestseller (sogar Diderot und Rousseau "verfielen" diesem Werk), das einzige deutschsprachige Buch, das selbst kleine englische Buchläden führten - also der Timur Vermes des achtzehnten Jahrhunderts.
Einen ersten Höhepunkt erreicht diese Weltgeschichte mit der Schilderung der vielschichtigen Rezeption von Lessings "Nathan der Weise". Je nach Epoche und Kulturkreis wurde das Werk als Instrument oder gar Waffe verwendet, um sich etwa gegen jüdische Akkulturation oder faschistische Vereinnahmung deutscher Geistestradition zu wehren. Bedauerlicherweise wurde es eher selten als Plädoyer für ein gemeinsames spirituelles Erbe wahrgenommen, weswegen das Drama "in Israel unerwünscht, in der islamischen Welt fast unbekannt" sei.
Goethes "Werther" hingegen war international wirkungsmächtig, wenn auch auf fast skurrile Weise. So propagierten englische Autorinnen die Lektüre, um ihre männlichen Landsleute zu erweichen - quasi als Hausmittelchen für den Gefühlswuchs. Da konnte der Spott natürlich nicht ausbleiben. Neben unzähligen Wertheriaden erschienen bald satirische Umdeutungen und Burlesken - am Ende "schießt sich Werther in den Hut statt in den Kopf". "Faust" hingegen wurde allerorten verehrt, die amerikanischen Transzendentalisten erhoben ihn sogar "zur Kultfigur". Spannend ist in diesem Zusammenhang die Reflexion, inwieweit in Kulturen ohne Teufelsvorstellung die Essenz des Dramas übersetzbar ist. Obwohl der "Faust" in Japan von dem bedeutenden Romancier Mori Ogai übertragen wurde, erfolgte Breitenwirkung erst durch die Aneignung des Stoffs in mehreren Manga.
Sandra Richter zeigt erfrischenderweise keine Scheu vor der sogenannten Unterhaltungsliteratur sowie popkulturellen Bezügen. Charles Sealsfield, Karl May und Felix Dahn werden ebenso ausführlich behandelt wie das Phänomen Vicki Baum, der es als Exilantin gelang, erfolgreich ins Englische zu wechseln: "Sie verliebte sich auf der Stelle in New York, versuchte, sich anzupassen, setzte sich auf Diät, rasierte die Augenbrauen und färbte die Haare platinblond, um dem Chic der Zeit zu entsprechen. Ihr Alter mogelte sie um sechs Jahre herunter. ,Keine Goethezitate mehr' war die Devise - und fortan nannten die Zeitungen sie vertraulich ,Vicki' und verliebten sich endlich auch in sie. Baum wurde zur ,ersten multimedial vermarkteten Bestsellerautorin'." Das erinnert an die gegenwärtigen Inszenierungen von Christian Kracht, der sich mit Hilfe des marktbeherrschenden Agenten Andrew Wylie selbst als Weltautor inthronisiert.
Ein besonderer Reiz liegt im Auftritt vieler Nebenfiguren, die bei entsprechender Ausrichtung der Wissenschaft in zukünftigen Publikationen eine Hauptrolle spielen könnten, etwa des vornehmen Miguel Sáenz als spanischer Übersetzer von Grass und Bernhard, der wie mit einem Stethoskop jahrzehntelang die deutschsprachige Literatur abgehorcht hat. Wie viele andere Übersetzerinnen und Übersetzer zählt er zu den bislang zu selten besungenen Helden dieser Geschichte.
Eine derartige Kärrnerarbeit kann natürlich nicht ohne Fehler gelingen, was Sandra Richter bewusst ist; ihr Werk sei "auch eine Geschichte von Wissenslücken, von historischen und aktuellen Missverständnissen - und ist selbst nicht vor solchen Wissenslücken und Missverständnissen gefeit". So war etwa Hermann Hesse nie in Indien, ein Missverständnis von durchaus exemplarischer Bedeutung, denn 1913 erschien zwar sein Buch "Aus Indien", in dem er aber von einer mehrmonatigen Tour nach Indonesien erzählt, mit kurzem Stopp im damaligen Ceylon (ein Rezeptionist in Kandy hat vor einigen Jahren stolz darauf bestanden, mich in Hesses damaligem Zimmer unterzubringen). In Indonesien fand Hesse - welche Überraschung - das von seinem Großvater verklärte Indien nicht wieder. Trotzdem erschien 1922 "Siddhartha", ein Buch, das in Indien weiterhin sehr geschätzt wird. Allerdings ist es kein "Indien-Epos", sondern eine an den Jatakas angelehnte moderne Heiligenlegende über den Buddha.
Sandra Richters Mut zur Lücke ist verständlich, aber nicht immer nachvollziehbar. Als meine literarisch gebildeten Eltern als Asylanten in Deutschland ankamen, sprachen sie ihre ersten deutschen Bekannten voller Begeisterung auf Erich Maria Remarque und seinen Roman "Im Westen nichts Neues" an, nur um verwundert zu erfahren, dass dieser Autor im eigenen Land keineswegs jene Hochachtung genoss, die sie in ihrem kleinen Koffer mitgebracht hatten. Remarque war der deutsche Weltbestsellerautor und galt in Ländern wie Bulgarien als ein Gigant der deutschen Literatur. Er hätte einen Platz in dieser Abhandlung verdient.
In dem leider sehr kurzen Kapitel über Afrika fehlt ein Hinweis auf die hierzulande fast unbekannte deutschsprachige Literatur aus Namibia, an erster Stelle auf den jüngst verstorbenen Giselher Hoffmann, der mit "Die Erstgeborenen" einen der bedeutendsten transkulturellen Romane der letzten Jahrzehnte verfasst hat. Es wird auch außerhalb Mitteleuropas auf Deutsch geschrieben, wie das faszinierende Beispiel des Argentiniers Robert(o) Schopflocher ebenfalls belegt.
Aber solche Unschärfen stören nicht weiter, weil sie den Impetus des Buches nicht schmälern, das etwas miefige deutsche Haus zu lüften, die Gardinen aufzuziehen, die Fenster zu öffnen und die wechselhaften Monsunund Passatwinde von Geschichte und Gegenwart hereinzulassen (an dieser Stelle sei der Vollständigkeit halber vermerkt, dass der Rezensent sich und seinen Roman "Der Weltensammler" gewürdigt fand). Noch sind wir beim Umgang mit deutschsprachiger Literatur weit entfernt von einem selbstverständlichen weltliterarischen Blick, aber mit diesem Buch immerhin auf dem richtigen Weg.
Vom nächsten Jahr an wird Sandra Richter die Nachfolge von Ulrich Raulff als Leiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach antreten. Man kann guter Dinge sein, dass die Schubladen des dortigen Archivs aufspringen werden, damit sich Gleiches zu Fremdem gesellen kann, denn dies ist die natürliche Nachbarschaft literarischer Produktion, wie ihr Buch nachdrücklich belegt.
Sandra Richter: "Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur".
Verlag C. Bertelsmann, München 2017.728 S., Abb., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mal Flaute, mal Sturm: Sandra Richter beschreibt die weltweite Rezeption deutschsprachiger Literatur seit der Frühen Neuzeit.
Von Ilija Trojanow
Neulich begrüßte mich in Freetown, Sierra Leone, eine vor kurzem abgeschobene Frau mit dem Satz: "Ick bin eine Berlinerin." Inmitten von Staub, Hitze und Stromausfall erklärte sie mir, sie fühle sich als Deutsche. In einem Brief des Malers August Macke von der Westfront steht der bemerkenswerte Satz: "Was mich aber am meisten quält, ist, dass ich auf jene schießen muss, von denen ich alles gelernt habe." Denn dem Bonner Künstler war die französische Malerei künstlerische Heimat. Solche vermeintlichen Paradoxien sind jenen, denen die multiplen Realitäten der Globalität vertraut sind, eine alltägliche Selbstverständlichkeit. Literaten, die schwer an einer Bindestrich-Identität tragen ("türkisch-deutsch", "russisch-deutsch", "äthiopisch-deutsch"), kennen das Anrennen gegen die trägen Windmühlen der rostigen Kategorien und Zuschreibungen zur Genüge. Wo gehört man hin, und muss man irgendwo dazugehören?
Man muss den provokanten Befund von Feridun Zaimoglu, die "Migrationsliteratur" sei ein "toter Kadaver" (zur Auswahl standen auch "leblose Leiche" oder "postmortale Mumie"), nicht teilen, um zu erkennen, dass die eingefahrenen Begriffe nicht greifen. Sandra Richter, Professorin für Germanistik in Stuttgart, schreibt in ihrer "Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur" daher zu Recht: "Das Etikett ,deutschsprachige Literatur' ist für solche Literatur, die aus zwei oder mehr Ländern kommt und mindestens in diese hineinwirken will, zu eng."
Um die hiesigen Literaturen aus dem nationalstaatlichen Getto zu befreien, holt Sandra Richter weit aus, beginnt mit der Erfindung des Buchdrucks und den ersten gedruckten Ausgaben von Tacitus' "Germania" in der Frühen Neuzeit. Im Parforceritt durch die Jahrhunderte und über Kontinente hinweg erzählt sie von der Wirkung auf Deutsch verfasster Literatur jenseits aller Landesgrenzen. Wobei sie gleich am Anfang den Begriff "Exportgut" einführt, um klarzustellen, dass sie zwar "eine weitläufige Rezeptionsund Adaptionsgeschichte" im Auge hat, ihren Schwerpunkt aber weniger - um im Bild zu bleiben - auf den Import legt. Die vielfältigen Einflüsse auf die deutschsprachige Literatur, die schon im Mittelalter von islamischen Muwashshala- und jüdischen Zajal-Liedern über die provenzalische Liebeslyrik zum Minnesang führten, werden bestimmt noch in anderen Werken nachgezeichnet werden, wenn denn Sandra Richters Buch, wie zu hoffen ist, in der noch zu selten über den eigenen Tellerrand schauenden Germanistik Schule macht.
Ihr Breitwandpanorama verzichtet auf ein ideengeschichtliches Destillat, auf die Beschreibung einer spezifischen DNA (es ist fraglich, ob dies überhaupt zu leisten ist, denn höchst populäre Gesamtschauen wie etwa Yuval Noah Hararis "Eine kurze Geschichte der Menschheit" wirken so, als würde sich ein Musiker mit einem einzigen Ton begnügen). Die Bewegung von Sandra Richters Untersuchung ist eher zentrifugal, das beschert den Lesern viele Überraschungen, aber kein konsistentes Narrativ. Wer selbiges erwartet, wird wohl eher enttäuscht die Lektüre beenden, wer sich aber einer historischen Reise anvertraut, auf der immer wieder an unvorhergesehenen Häfen Anker geworfen wird, der wird Mal ums Mal mit Gewinn anlanden.
Über die tatsächliche Wirkung deutschsprachiger Texte dürften sich die meisten Leser oft verwundert die Augen reiben. August von Kotzebue etwa war viel populärer als Friedrich Schiller, Salomon Gessners "Tod Abels" ein europäischer Bestseller (sogar Diderot und Rousseau "verfielen" diesem Werk), das einzige deutschsprachige Buch, das selbst kleine englische Buchläden führten - also der Timur Vermes des achtzehnten Jahrhunderts.
Einen ersten Höhepunkt erreicht diese Weltgeschichte mit der Schilderung der vielschichtigen Rezeption von Lessings "Nathan der Weise". Je nach Epoche und Kulturkreis wurde das Werk als Instrument oder gar Waffe verwendet, um sich etwa gegen jüdische Akkulturation oder faschistische Vereinnahmung deutscher Geistestradition zu wehren. Bedauerlicherweise wurde es eher selten als Plädoyer für ein gemeinsames spirituelles Erbe wahrgenommen, weswegen das Drama "in Israel unerwünscht, in der islamischen Welt fast unbekannt" sei.
Goethes "Werther" hingegen war international wirkungsmächtig, wenn auch auf fast skurrile Weise. So propagierten englische Autorinnen die Lektüre, um ihre männlichen Landsleute zu erweichen - quasi als Hausmittelchen für den Gefühlswuchs. Da konnte der Spott natürlich nicht ausbleiben. Neben unzähligen Wertheriaden erschienen bald satirische Umdeutungen und Burlesken - am Ende "schießt sich Werther in den Hut statt in den Kopf". "Faust" hingegen wurde allerorten verehrt, die amerikanischen Transzendentalisten erhoben ihn sogar "zur Kultfigur". Spannend ist in diesem Zusammenhang die Reflexion, inwieweit in Kulturen ohne Teufelsvorstellung die Essenz des Dramas übersetzbar ist. Obwohl der "Faust" in Japan von dem bedeutenden Romancier Mori Ogai übertragen wurde, erfolgte Breitenwirkung erst durch die Aneignung des Stoffs in mehreren Manga.
Sandra Richter zeigt erfrischenderweise keine Scheu vor der sogenannten Unterhaltungsliteratur sowie popkulturellen Bezügen. Charles Sealsfield, Karl May und Felix Dahn werden ebenso ausführlich behandelt wie das Phänomen Vicki Baum, der es als Exilantin gelang, erfolgreich ins Englische zu wechseln: "Sie verliebte sich auf der Stelle in New York, versuchte, sich anzupassen, setzte sich auf Diät, rasierte die Augenbrauen und färbte die Haare platinblond, um dem Chic der Zeit zu entsprechen. Ihr Alter mogelte sie um sechs Jahre herunter. ,Keine Goethezitate mehr' war die Devise - und fortan nannten die Zeitungen sie vertraulich ,Vicki' und verliebten sich endlich auch in sie. Baum wurde zur ,ersten multimedial vermarkteten Bestsellerautorin'." Das erinnert an die gegenwärtigen Inszenierungen von Christian Kracht, der sich mit Hilfe des marktbeherrschenden Agenten Andrew Wylie selbst als Weltautor inthronisiert.
Ein besonderer Reiz liegt im Auftritt vieler Nebenfiguren, die bei entsprechender Ausrichtung der Wissenschaft in zukünftigen Publikationen eine Hauptrolle spielen könnten, etwa des vornehmen Miguel Sáenz als spanischer Übersetzer von Grass und Bernhard, der wie mit einem Stethoskop jahrzehntelang die deutschsprachige Literatur abgehorcht hat. Wie viele andere Übersetzerinnen und Übersetzer zählt er zu den bislang zu selten besungenen Helden dieser Geschichte.
Eine derartige Kärrnerarbeit kann natürlich nicht ohne Fehler gelingen, was Sandra Richter bewusst ist; ihr Werk sei "auch eine Geschichte von Wissenslücken, von historischen und aktuellen Missverständnissen - und ist selbst nicht vor solchen Wissenslücken und Missverständnissen gefeit". So war etwa Hermann Hesse nie in Indien, ein Missverständnis von durchaus exemplarischer Bedeutung, denn 1913 erschien zwar sein Buch "Aus Indien", in dem er aber von einer mehrmonatigen Tour nach Indonesien erzählt, mit kurzem Stopp im damaligen Ceylon (ein Rezeptionist in Kandy hat vor einigen Jahren stolz darauf bestanden, mich in Hesses damaligem Zimmer unterzubringen). In Indonesien fand Hesse - welche Überraschung - das von seinem Großvater verklärte Indien nicht wieder. Trotzdem erschien 1922 "Siddhartha", ein Buch, das in Indien weiterhin sehr geschätzt wird. Allerdings ist es kein "Indien-Epos", sondern eine an den Jatakas angelehnte moderne Heiligenlegende über den Buddha.
Sandra Richters Mut zur Lücke ist verständlich, aber nicht immer nachvollziehbar. Als meine literarisch gebildeten Eltern als Asylanten in Deutschland ankamen, sprachen sie ihre ersten deutschen Bekannten voller Begeisterung auf Erich Maria Remarque und seinen Roman "Im Westen nichts Neues" an, nur um verwundert zu erfahren, dass dieser Autor im eigenen Land keineswegs jene Hochachtung genoss, die sie in ihrem kleinen Koffer mitgebracht hatten. Remarque war der deutsche Weltbestsellerautor und galt in Ländern wie Bulgarien als ein Gigant der deutschen Literatur. Er hätte einen Platz in dieser Abhandlung verdient.
In dem leider sehr kurzen Kapitel über Afrika fehlt ein Hinweis auf die hierzulande fast unbekannte deutschsprachige Literatur aus Namibia, an erster Stelle auf den jüngst verstorbenen Giselher Hoffmann, der mit "Die Erstgeborenen" einen der bedeutendsten transkulturellen Romane der letzten Jahrzehnte verfasst hat. Es wird auch außerhalb Mitteleuropas auf Deutsch geschrieben, wie das faszinierende Beispiel des Argentiniers Robert(o) Schopflocher ebenfalls belegt.
Aber solche Unschärfen stören nicht weiter, weil sie den Impetus des Buches nicht schmälern, das etwas miefige deutsche Haus zu lüften, die Gardinen aufzuziehen, die Fenster zu öffnen und die wechselhaften Monsunund Passatwinde von Geschichte und Gegenwart hereinzulassen (an dieser Stelle sei der Vollständigkeit halber vermerkt, dass der Rezensent sich und seinen Roman "Der Weltensammler" gewürdigt fand). Noch sind wir beim Umgang mit deutschsprachiger Literatur weit entfernt von einem selbstverständlichen weltliterarischen Blick, aber mit diesem Buch immerhin auf dem richtigen Weg.
Vom nächsten Jahr an wird Sandra Richter die Nachfolge von Ulrich Raulff als Leiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach antreten. Man kann guter Dinge sein, dass die Schubladen des dortigen Archivs aufspringen werden, damit sich Gleiches zu Fremdem gesellen kann, denn dies ist die natürliche Nachbarschaft literarischer Produktion, wie ihr Buch nachdrücklich belegt.
Sandra Richter: "Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur".
Verlag C. Bertelsmann, München 2017.728 S., Abb., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Ilija Trojanow ist hocherfreut über Sandra Richters elanvolles Aufreißen verstaubter Schubladen, um die weltweite Rezeption deutschsprachiger Literatur seit der Neuzeit zu präsentieren. Das weite Ausholen der Autorin, ihr geschwinder Schritt durch die Jahrhunderte und ihr Blick über den Tellerrand machen hoffentlich Schule in der Germanistik, meint Trojanow. Dass dem Buch kein konsistentes Narrativ zugrunde liegt, kann der Rezensent verkraften, ebenso manche Lücke in der Erzählung (Remarque!). Zu sehr beglücken ihn die vielen überraschenden, bei uns eher unbekannten Autoren, die durch ihre enorme Wirkung im Ausland plötzlich ins Licht rücken, oder einfach die Schilderung der Rezeption von Lessings Nathan durch die Epochen und Kulturkreise. Auch dass Richter vor Unterhaltungsliteratur (Karl May!) nicht Halt macht, gefällt ihm.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Dies ist nicht einfach nur eine Literaturgeschichte, sondern eine erhellende Analyse der Wechselbeziehung zwischen Globalisierung und literarischer Genese.« DIE ZEIT