Es waren kleine Fotografien, aufgenommen von ihrem Vater in den Fünfzigerjahren, die Angela Krauß zu diesem ungewöhnlichen Bekenntnis bewegten. Aus Mutter, Vater, Kind tritt der Mensch in die Welt. Mit der ihr eigenen sublimierenden Kraft erkennt Angela Krauß ihn inmitten seiner Geborgen- und Verlorenheit. Mit diesem Buch wagt sie »die einzig ersehnte Konsequenz des Dichtens: dass meine Person in ihrer poetischen Gestalt restlos auf- also untergeht«.Eine Wiege ist eine Rede in Versen, die uns daran erinnert, wo wir inmitten rasanter Bewegungen zuhause sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.2015Als die Schildkröte einmal beinahe gestorben wäre
"Eine Wiege" von Angela Krauß schaukelt den Leser zwischen den großen Fragen des Daseins hin und her
Wo ein Weg zu Ende geht, der eines Lebens, womöglich sogar der eines Zeitalters, da richtet sich der Blick oftmals sehnsüchtig noch einmal auf den Anfang. Angela Krauß' schmaler Band "Eine Wiege" ist ein solcher Blick zurück auf die Anfänge des eigenen Daseins. Ein suchender, tastender, fragender Blick ist diese "Rede in Versen", wie das Buch in einer der vorangestellten Zeilen genannt wird. Kein klassischer Gedichtband mithin, sondern ein zusammenhängender, wenngleich nicht fließender Text, der mit Fotos aus den frühen Kinderjahren von Angela Krauß durchzogen ist. Ob Krauß diese Bilder, die ihr zum Schreibanlass werden, nach dem Tod ihrer Mutter entdeckt hat, mit dem das Buch endet, bleibt offen, liegt aber nahe.
Momentaufnahmen vom Beginn der eigenen Biographie werden hier betrachtet in der leisen Hoffnung, dass sich daraus mit einer sinnstiftenden Zwangsläufigkeit alles Folgende hat ergeben mögen und dass man es nun entdecken, herauslesen könne aus den Fotos.
Es sind nur wenige, kleinformatige Schwarzweißaufnahmen aus den fünfziger Jahren. Verschiedene von ihnen zeigen auf einer von Bäumen gesäumten, ansonsten leeren Straße ein kleines Mädchen, das einen Holzroller über das Pflaster schiebt: die Autorin selbst. Dazu gibt es Fotos der Mutter, wie sie im Gras schläft oder mit ihren Kindern einen Feldweg entlangspaziert. Auf zwei Aufnahmen nur ist der Vater von Angela Krauß zu erkennen. Nicht nur, weil er sich, wenige Jahre nachdem die Fotos entstanden sind, das Leben nahm, erscheint er in den Versen als eine fragile, gefährdete Gestalt. Eindrücklich die Episode, als er, der leidenschaftliche und gute Schwimmer, eines Tages unter seinem gekenterten Boot vor der Küste treibt, die Familie kann vom Strand die Not nur hilflos und voller Angst beobachten.
Angela Krauß lässt, verstärkt wohl nicht zuletzt durch die Leere, die auf den Bildern gerade in den verschiedenen Straßenszenen herrscht, Szenen einer universellen Verlorenheit entstehen. Das Wissen um den Tod scheint dieses Dasein zu begleiten - oder ist es eher umgekehrt: In der rückblickenden Betrachtung schreibt er sich in die Verse ein? So bricht sich einmal die Erinnerung an eine geliebte Schildkröte Bahn. Stolz wird sie beim Besuch der Verwandten präsentiert. Aber wie groß ist das Erschrecken, als einer der Anwesenden zu bemerken meint, dass das Tier tot sei. Auf wenige Verse verdichtet, enthüllt sich an dieser vordergründig nur in den Augen des Kindes bedeutsamen Szene die Ambivalenz des Daseins, das beständig zwischen Hoffnung und Enttäuschung, Glück und Trauer oszilliert: "Das war am ersten Sonntag im März 1957, / als meine Schildkröte beinahe gestorben war. Und ich in ein Schreien ausbrach." Dieses Schreien vertreibt die Gäste, der Leser wiederum mag schon lächeln in Erwartung der frohen Auflösung dieser Episode. Die allerdings bleibt ihm verwehrt: "Dabei war mein kleines Kind / an diesem ersten Sonntag im März gar nicht gestorben. / Es war heimlich schon seit dem Winter tot."
Mit beinahe beiläufigen Szenen rührt Angela Krauß immer wieder an etwas ganz Wesentlichem. Deshalb wirken diese Momente sehr viel stärker als jene Passagen, in denen Krauß unmittelbar und mit einem etwas aus der Bahn schlagenden Furor die Fragen der Existenz diskutieren möchte.
Gerade aber mit den stillen Szenen, die auf eine vollends unprätentiöse Weise mit den privaten Aufnahmen korrespondieren, häufig allein durch das Arrangement auf den Seiten, setzt Krauß beim Leser etwas in Gang. Die Eingangsverse etwa, die allein für sich auf einer Seite stehen, lauten: "Ich bin ein Kind, / aber nicht dieses. / Ich bin das andere, / das mich bewohnt." Blättert man eine Seite weiter, wartet dort das erste der Fotos, zum ersten Mal steht dort das kleine blonde Mädchen mit seinem Roller, das dem Betrachter ins Gesicht blickt. Das Rätselhafte und zugleich Verlorene, das die Verse genauso wie das Bild grundiert, schickt den Leser auf eine gedankliche Reise, deren Ziel kaum zu benennen ist. Wohl auch deshalb nicht, weil die folgenden Verse das Denken wieder in eine andere Richtung tragen. Wie es der Titel verheißt, ist die Lektüre dieses Bandes wie eine sanfte Wiegebewegung, die mal hier, mal da die großen existentiellen Fragen streift.
Unvermeidlich scheint, dass Bücher wie diese, die ihre poetische Kraft gerade aus der Bescheidenheit des Materials - den wenigen Kinderfotos - schöpfen, immer seltener werden in Zeiten, in denen jeder Moment der Kindheit auf den Speicherkarten der Smartphones festgehalten und häufig wenig später sogleich auch in die Welt geblasen wird. Mag sein, dass das Wissen um das Ende dieser Möglichkeit den melancholischen Blick, den Angela Krauß offenbart, noch einmal intensiviert.
WIEBKE POROMBKA
Angela Krauß: "Eine Wiege".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 120 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Eine Wiege" von Angela Krauß schaukelt den Leser zwischen den großen Fragen des Daseins hin und her
Wo ein Weg zu Ende geht, der eines Lebens, womöglich sogar der eines Zeitalters, da richtet sich der Blick oftmals sehnsüchtig noch einmal auf den Anfang. Angela Krauß' schmaler Band "Eine Wiege" ist ein solcher Blick zurück auf die Anfänge des eigenen Daseins. Ein suchender, tastender, fragender Blick ist diese "Rede in Versen", wie das Buch in einer der vorangestellten Zeilen genannt wird. Kein klassischer Gedichtband mithin, sondern ein zusammenhängender, wenngleich nicht fließender Text, der mit Fotos aus den frühen Kinderjahren von Angela Krauß durchzogen ist. Ob Krauß diese Bilder, die ihr zum Schreibanlass werden, nach dem Tod ihrer Mutter entdeckt hat, mit dem das Buch endet, bleibt offen, liegt aber nahe.
Momentaufnahmen vom Beginn der eigenen Biographie werden hier betrachtet in der leisen Hoffnung, dass sich daraus mit einer sinnstiftenden Zwangsläufigkeit alles Folgende hat ergeben mögen und dass man es nun entdecken, herauslesen könne aus den Fotos.
Es sind nur wenige, kleinformatige Schwarzweißaufnahmen aus den fünfziger Jahren. Verschiedene von ihnen zeigen auf einer von Bäumen gesäumten, ansonsten leeren Straße ein kleines Mädchen, das einen Holzroller über das Pflaster schiebt: die Autorin selbst. Dazu gibt es Fotos der Mutter, wie sie im Gras schläft oder mit ihren Kindern einen Feldweg entlangspaziert. Auf zwei Aufnahmen nur ist der Vater von Angela Krauß zu erkennen. Nicht nur, weil er sich, wenige Jahre nachdem die Fotos entstanden sind, das Leben nahm, erscheint er in den Versen als eine fragile, gefährdete Gestalt. Eindrücklich die Episode, als er, der leidenschaftliche und gute Schwimmer, eines Tages unter seinem gekenterten Boot vor der Küste treibt, die Familie kann vom Strand die Not nur hilflos und voller Angst beobachten.
Angela Krauß lässt, verstärkt wohl nicht zuletzt durch die Leere, die auf den Bildern gerade in den verschiedenen Straßenszenen herrscht, Szenen einer universellen Verlorenheit entstehen. Das Wissen um den Tod scheint dieses Dasein zu begleiten - oder ist es eher umgekehrt: In der rückblickenden Betrachtung schreibt er sich in die Verse ein? So bricht sich einmal die Erinnerung an eine geliebte Schildkröte Bahn. Stolz wird sie beim Besuch der Verwandten präsentiert. Aber wie groß ist das Erschrecken, als einer der Anwesenden zu bemerken meint, dass das Tier tot sei. Auf wenige Verse verdichtet, enthüllt sich an dieser vordergründig nur in den Augen des Kindes bedeutsamen Szene die Ambivalenz des Daseins, das beständig zwischen Hoffnung und Enttäuschung, Glück und Trauer oszilliert: "Das war am ersten Sonntag im März 1957, / als meine Schildkröte beinahe gestorben war. Und ich in ein Schreien ausbrach." Dieses Schreien vertreibt die Gäste, der Leser wiederum mag schon lächeln in Erwartung der frohen Auflösung dieser Episode. Die allerdings bleibt ihm verwehrt: "Dabei war mein kleines Kind / an diesem ersten Sonntag im März gar nicht gestorben. / Es war heimlich schon seit dem Winter tot."
Mit beinahe beiläufigen Szenen rührt Angela Krauß immer wieder an etwas ganz Wesentlichem. Deshalb wirken diese Momente sehr viel stärker als jene Passagen, in denen Krauß unmittelbar und mit einem etwas aus der Bahn schlagenden Furor die Fragen der Existenz diskutieren möchte.
Gerade aber mit den stillen Szenen, die auf eine vollends unprätentiöse Weise mit den privaten Aufnahmen korrespondieren, häufig allein durch das Arrangement auf den Seiten, setzt Krauß beim Leser etwas in Gang. Die Eingangsverse etwa, die allein für sich auf einer Seite stehen, lauten: "Ich bin ein Kind, / aber nicht dieses. / Ich bin das andere, / das mich bewohnt." Blättert man eine Seite weiter, wartet dort das erste der Fotos, zum ersten Mal steht dort das kleine blonde Mädchen mit seinem Roller, das dem Betrachter ins Gesicht blickt. Das Rätselhafte und zugleich Verlorene, das die Verse genauso wie das Bild grundiert, schickt den Leser auf eine gedankliche Reise, deren Ziel kaum zu benennen ist. Wohl auch deshalb nicht, weil die folgenden Verse das Denken wieder in eine andere Richtung tragen. Wie es der Titel verheißt, ist die Lektüre dieses Bandes wie eine sanfte Wiegebewegung, die mal hier, mal da die großen existentiellen Fragen streift.
Unvermeidlich scheint, dass Bücher wie diese, die ihre poetische Kraft gerade aus der Bescheidenheit des Materials - den wenigen Kinderfotos - schöpfen, immer seltener werden in Zeiten, in denen jeder Moment der Kindheit auf den Speicherkarten der Smartphones festgehalten und häufig wenig später sogleich auch in die Welt geblasen wird. Mag sein, dass das Wissen um das Ende dieser Möglichkeit den melancholischen Blick, den Angela Krauß offenbart, noch einmal intensiviert.
WIEBKE POROMBKA
Angela Krauß: "Eine Wiege".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 120 S., geb., 18,- [Euro].
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»Der Strom des Lebens ist von Angela Krauß in den Zustand zartester Poesie überführt. Eine Empfehlung für Leserinnen und Leser, die Kunststücke zu schätzen wissen.« Michael Hametner MDR 20190211