José Saramago über eine Gesellschaft, in der niemand stirbt: spannend, kunstvoll, philosophisch.
Es ist der 1. Januar in einem nicht näher bezeichneten Land. Etwas, wofür es kein Beispiel in der Geschichte gibt, geschieht: An diesem Tag stirbt niemand. Und auch am folgenden Tag nicht, und am darauffolgenden. Selbst die Königinmutter, bei der es aussah, als würde sie den Jahreswechsel nicht mehr erleben, verharrt im Sterben. Der Tod streikt, so eine Reporterin. Die Regierung scheint entschlossen, den sich anbahnenden demographischen Problemen die Stirn zu bieten; die katholische Kirche ist in ihren Grundfesten erschüttert, denn ohne Tod keine Auferstehung. Die Gesellschaft spaltet sich: einerseits die Hoffnung, ewig zu leben, andererseits der Schrecken, nie zu sterben. Eines Tages findet der Direktor des nationalen Fernsehens einen Brief auf dem Tisch (der Umschlag ist violett, offenbar von einer Frau beschriftet), von dessen Inhalt er umgehend den Ministerpräsidenten in Kenntnis setzt ... Saramago führt seine in "Die Stadt der Blinden" begonnenen Experimente mit philosophisch-sozialen Fragen fort und erweist sich einmal mehr als großer literarischer Deuter der Welt. Seine Zeitzeugenschaft ist unerbittlich kritisch, künstlerisch gewagt und von einem skeptischen Humanismus geprägt.
Es ist der 1. Januar in einem nicht näher bezeichneten Land. Etwas, wofür es kein Beispiel in der Geschichte gibt, geschieht: An diesem Tag stirbt niemand. Und auch am folgenden Tag nicht, und am darauffolgenden. Selbst die Königinmutter, bei der es aussah, als würde sie den Jahreswechsel nicht mehr erleben, verharrt im Sterben. Der Tod streikt, so eine Reporterin. Die Regierung scheint entschlossen, den sich anbahnenden demographischen Problemen die Stirn zu bieten; die katholische Kirche ist in ihren Grundfesten erschüttert, denn ohne Tod keine Auferstehung. Die Gesellschaft spaltet sich: einerseits die Hoffnung, ewig zu leben, andererseits der Schrecken, nie zu sterben. Eines Tages findet der Direktor des nationalen Fernsehens einen Brief auf dem Tisch (der Umschlag ist violett, offenbar von einer Frau beschriftet), von dessen Inhalt er umgehend den Ministerpräsidenten in Kenntnis setzt ... Saramago führt seine in "Die Stadt der Blinden" begonnenen Experimente mit philosophisch-sozialen Fragen fort und erweist sich einmal mehr als großer literarischer Deuter der Welt. Seine Zeitzeugenschaft ist unerbittlich kritisch, künstlerisch gewagt und von einem skeptischen Humanismus geprägt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.11.2007Als plötzlich keiner mehr starb
Plauderei mit virtuosem Schluss: José Saramagos „Zeit ohne Tod”
José Saramago geht es wie beinahe allen Literatur-Nobelpreisträgern: Dieser Ruhm ist eine Spur zu groß. Vor der Verleihung war man noch gespannt, ob António Lobo Antunes der auserwählte Portugiese sein würde, oder eben Saramago. Hinterher wusste es jeder: Lobo Antunes wäre der bessere Kandidat gewesen.
Was die Sprache angeht: auf jeden Fall. Saramago ist, auch in seinem neuen Roman „Eine Zeit ohne Tod”, ein Autor, der mit vielen Versatzstücken schreibt, oft formelhaft. Dabei ist die Anlage auch dieses Buches spannend, der erste Satz möglicher Ausgangspunkt eines Meisterwerks: „Am darauffolgenden Tag starb niemand.” Wo, was ist am bisher letzten Tag geschehen, fragt man sich sofort, und ist schon auf die bloße Verankerung des Geschehens in Zeit und Raum gespannt: Wobei das Verblüffende des Satzes natürlich nur aus seiner Unbestimmtheit besteht. In Azingha, dem Dorf der Provinz Riabatejo, in dem Saramago 1922 geboren wurde, wird es wieder und wieder geschehen, das an einem Tag keiner stirbt. Aber in einem ganzen Land, wie hier?
Die Ausgangssituation wäre also da. Doch Saramago hat einen Hang zur gemütlichen Satire, der auch diesen ersten Satz klein machen wird. Eine Satire, das ist eines der Grundgesetze der Gattung, soll im Alltag verhaftet sein, jeder muss sich vorstellen können, was passiert, denn sie richtet sich auch an das gönnerisch so benannte „einfache Publikum”. Aber der Autor muss nicht etwa den wirklichen Alltag schildern. Nein, er muss nur alles gesprächig ausformulieren, die Verblüffung wieder zurück nehmen. Das beginnt im zweiten Satz: „Diese allen Lebensregeln zuwiderlaufende Tatsache löste bei den Menschen ungeheure Verwirrung aus, und die war in jeder Hinsicht gerechtfertigt, wenn wir uns vergegenwärtigen (…), dass nämlich ein kompletter Tag (…).”
Der nächste Schritt der Satire sollte das Ausmalen dessen sein, was in der gewöhnlichen Welt geschehen wird, wenn das Ungewöhnliche eintritt. Ein paar Seiten weiter heißt es denn auch: „Wenn auch das Wort Krise zur Beschreibung der einzigartigen, hier geschilderten Ereignisse gewiss nicht das passendste ist (…), ist es doch verständlich, dass einige Bürger ihr Recht auf unabhängige Information einfordernd, sich selbst und einander fragten, was zum Teufel mit der Regierung los sei, die bisher noch keinen Mucks von sich gegeben hatte.”
Vor allem die Phrase „ist es doch verständlich” versucht sich bei einem Leser, dem man nicht viel zutraut, einzuschmeicheln. Auch Saramagos Wille zur Politik wirkt hier lähmend. Und immer wieder erliegt er der Gefahr, zu erklären. Nun könnte man sagen: auch das sei Teil der Gattungskonvention. Und wenn einer so begonnen habe, müsse er diese eben bedienen. Warum nicht? Doch in gewisser Weise kommt sich Saramago auch dabei in die Quere. Immer wieder durchbrechen außergewöhnliche Ideen den Ablauf des müden Programms. Etwa als er die makabre Szene konzipiert, in der Leute ihre Verwandten nachts aus dem Land schaffen, damit sie sterben. Manchmal auf deren eigenen Wunsch hin. Doch dann, denkt sich der „politische” Saramago, braucht es einen, der daran verdient. Wie wäre es mit der „Maphia”?
Eine verführerische Dame
Zu oft erkennt man in diesem Buch den Autor, der sich eine Handlung ausdenkt; und dann zur Tat schreitet. Und das Politische, das unter der Salazar-Diktatur riskant war, hat sich in ein unverbindlich-lehrhaftes Plaudern zurückgezogen. So arbeitet man sich eher mühevoll durch diese Geschichte, bis auf einmal etwas Seltsames geschieht. Der Erzähler denkt nach, wer denn „die tod”, la muerte, sein könnte? Eine alte Matrone, wie bei Proust, denn sie hat ja schon viel gegessen? Oder doch eher eine schöne junge Frau? Der Erzähler macht eine Mitdreißigerin aus ihr, eine der schönsten, verführerisch und erfahren zugleich.
Mit dieser Personalisierung gewinnt der Roman neuen Schwung. Zuerst wird die Sterbelosigkeit aufgeklärt: Irgendwann hatte la muerte den Einfall, die Toten acht Tage vor dem Hinscheiden brieflich zu benachrichtigen. So hat sich am Jahresanfang jene achttägige Todespause ergeben, in der das betroffene Land seine gesamte Politik umstellen zu müssen glaubte, in der jeder Einzelne eine neue Stellung zum Leben finden musste, weil es keinen Tod mehr gab.
Dann die Rückkehr zum alten System. Doch Saramago beginnt auch eine schöne kleine Geschichte zwischen zwei Figuren: Einer der Todesbriefe hat einen Orchestercellisten nie erreicht, kommt mehrfach zurück. La muerte versteht nicht, warum, und beginnt dem Mann nachzuspüren. Er ist irritiert über diese Frau, die zu viel über ihn weiß. Und wie kommt sie damit klar, einen Menschen, den sie nicht mehr nur als Registerkarte kennt, töten zu müssen?
Die letzten zwanzig Seiten des Romans sind wieder eine erstaunliche Sache. Sie erinnern in ihrer Qualität an den ersten Satz. Saramago auf der Höhe seines Könnens. Und man fragt sich auf einmal, wofür er diesen Nobelpreis bekommen hat? Für seine Neigung zum gesprächig-durchsichtigen Bezug auf die Gegenwart, für das Bemühen um Verständlichkeit? Oder doch für den virtuosen Schluss? HANS-PETER KUNISCH
JOSÉ SARAMAGO: Eine Zeit ohne Tod. Roman. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Marianne Gareis. Rowohlt Verlag, Reinbek 2007. 253 S., 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Plauderei mit virtuosem Schluss: José Saramagos „Zeit ohne Tod”
José Saramago geht es wie beinahe allen Literatur-Nobelpreisträgern: Dieser Ruhm ist eine Spur zu groß. Vor der Verleihung war man noch gespannt, ob António Lobo Antunes der auserwählte Portugiese sein würde, oder eben Saramago. Hinterher wusste es jeder: Lobo Antunes wäre der bessere Kandidat gewesen.
Was die Sprache angeht: auf jeden Fall. Saramago ist, auch in seinem neuen Roman „Eine Zeit ohne Tod”, ein Autor, der mit vielen Versatzstücken schreibt, oft formelhaft. Dabei ist die Anlage auch dieses Buches spannend, der erste Satz möglicher Ausgangspunkt eines Meisterwerks: „Am darauffolgenden Tag starb niemand.” Wo, was ist am bisher letzten Tag geschehen, fragt man sich sofort, und ist schon auf die bloße Verankerung des Geschehens in Zeit und Raum gespannt: Wobei das Verblüffende des Satzes natürlich nur aus seiner Unbestimmtheit besteht. In Azingha, dem Dorf der Provinz Riabatejo, in dem Saramago 1922 geboren wurde, wird es wieder und wieder geschehen, das an einem Tag keiner stirbt. Aber in einem ganzen Land, wie hier?
Die Ausgangssituation wäre also da. Doch Saramago hat einen Hang zur gemütlichen Satire, der auch diesen ersten Satz klein machen wird. Eine Satire, das ist eines der Grundgesetze der Gattung, soll im Alltag verhaftet sein, jeder muss sich vorstellen können, was passiert, denn sie richtet sich auch an das gönnerisch so benannte „einfache Publikum”. Aber der Autor muss nicht etwa den wirklichen Alltag schildern. Nein, er muss nur alles gesprächig ausformulieren, die Verblüffung wieder zurück nehmen. Das beginnt im zweiten Satz: „Diese allen Lebensregeln zuwiderlaufende Tatsache löste bei den Menschen ungeheure Verwirrung aus, und die war in jeder Hinsicht gerechtfertigt, wenn wir uns vergegenwärtigen (…), dass nämlich ein kompletter Tag (…).”
Der nächste Schritt der Satire sollte das Ausmalen dessen sein, was in der gewöhnlichen Welt geschehen wird, wenn das Ungewöhnliche eintritt. Ein paar Seiten weiter heißt es denn auch: „Wenn auch das Wort Krise zur Beschreibung der einzigartigen, hier geschilderten Ereignisse gewiss nicht das passendste ist (…), ist es doch verständlich, dass einige Bürger ihr Recht auf unabhängige Information einfordernd, sich selbst und einander fragten, was zum Teufel mit der Regierung los sei, die bisher noch keinen Mucks von sich gegeben hatte.”
Vor allem die Phrase „ist es doch verständlich” versucht sich bei einem Leser, dem man nicht viel zutraut, einzuschmeicheln. Auch Saramagos Wille zur Politik wirkt hier lähmend. Und immer wieder erliegt er der Gefahr, zu erklären. Nun könnte man sagen: auch das sei Teil der Gattungskonvention. Und wenn einer so begonnen habe, müsse er diese eben bedienen. Warum nicht? Doch in gewisser Weise kommt sich Saramago auch dabei in die Quere. Immer wieder durchbrechen außergewöhnliche Ideen den Ablauf des müden Programms. Etwa als er die makabre Szene konzipiert, in der Leute ihre Verwandten nachts aus dem Land schaffen, damit sie sterben. Manchmal auf deren eigenen Wunsch hin. Doch dann, denkt sich der „politische” Saramago, braucht es einen, der daran verdient. Wie wäre es mit der „Maphia”?
Eine verführerische Dame
Zu oft erkennt man in diesem Buch den Autor, der sich eine Handlung ausdenkt; und dann zur Tat schreitet. Und das Politische, das unter der Salazar-Diktatur riskant war, hat sich in ein unverbindlich-lehrhaftes Plaudern zurückgezogen. So arbeitet man sich eher mühevoll durch diese Geschichte, bis auf einmal etwas Seltsames geschieht. Der Erzähler denkt nach, wer denn „die tod”, la muerte, sein könnte? Eine alte Matrone, wie bei Proust, denn sie hat ja schon viel gegessen? Oder doch eher eine schöne junge Frau? Der Erzähler macht eine Mitdreißigerin aus ihr, eine der schönsten, verführerisch und erfahren zugleich.
Mit dieser Personalisierung gewinnt der Roman neuen Schwung. Zuerst wird die Sterbelosigkeit aufgeklärt: Irgendwann hatte la muerte den Einfall, die Toten acht Tage vor dem Hinscheiden brieflich zu benachrichtigen. So hat sich am Jahresanfang jene achttägige Todespause ergeben, in der das betroffene Land seine gesamte Politik umstellen zu müssen glaubte, in der jeder Einzelne eine neue Stellung zum Leben finden musste, weil es keinen Tod mehr gab.
Dann die Rückkehr zum alten System. Doch Saramago beginnt auch eine schöne kleine Geschichte zwischen zwei Figuren: Einer der Todesbriefe hat einen Orchestercellisten nie erreicht, kommt mehrfach zurück. La muerte versteht nicht, warum, und beginnt dem Mann nachzuspüren. Er ist irritiert über diese Frau, die zu viel über ihn weiß. Und wie kommt sie damit klar, einen Menschen, den sie nicht mehr nur als Registerkarte kennt, töten zu müssen?
Die letzten zwanzig Seiten des Romans sind wieder eine erstaunliche Sache. Sie erinnern in ihrer Qualität an den ersten Satz. Saramago auf der Höhe seines Könnens. Und man fragt sich auf einmal, wofür er diesen Nobelpreis bekommen hat? Für seine Neigung zum gesprächig-durchsichtigen Bezug auf die Gegenwart, für das Bemühen um Verständlichkeit? Oder doch für den virtuosen Schluss? HANS-PETER KUNISCH
JOSÉ SARAMAGO: Eine Zeit ohne Tod. Roman. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Marianne Gareis. Rowohlt Verlag, Reinbek 2007. 253 S., 19,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2007Gevatter Tod macht Ferien
Gestorben wird nicht mehr: José Saramagos morbide Fabel / Von Anja Hirsch
Man stelle sich vor, alle würden erblinden - Als-ob-Spiele dieser Art, wie etwa in "Die Stadt der Blinden", liebt der portugiesische Schriftsteller José Saramago, mit ihnen erprobt er Möglichkeiten und erzählt an ihnen Gleichnisse. In seinem neuen Roman "Eine Zeit ohne Tod" treibt der fast Fünfundachtzigjährige dieses Spiel vergnügt auf die Spitze und lebt eine kühne Allmachtsphantasie aus: Er schafft den Tod kurzerhand ab. Es wird einfach nicht mehr gestorben, und zwar um Schlag zwölfe in einer Silvesternacht in einem ganzen Land.
Feuerwehrmänner ziehen Sterbende aus brennenden Häusern, doch die atmen einfach weiter, über Tage, Wochen, Monate. Unfallopfer weigern sich plötzlich zu sterben. Lebenstüchtige dagegen atmen spontan auf, weil kein drohendes Ende sie bremst. Nur die Kirchenvertreter sind ratlos und bangen um ihren theologischen Kern, denn wo kein Tod, da keine Auferstehung. Und von den Bestattern hört man Klagen, ganz zu schweigen von den Versicherungsunternehmern. Saramago exerziert seine kühne Idee wie eine Etüde mit wechselnder Klangfarbe, so wie er in früheren Romanen andere Szenarien mit anderen Prämissen durchkonjugierte.
Auch "Eine Zeit ohne Tod" will etwas lehren. Doch spart sich Saramago den erhobenen Zeigefinger - und liefert stattdessen ein bizarres Kabinettstück, das man selbst entschlüsseln darf. Zunächst, um das gewaltige Ausmaß zu sichten, ohne viel Pathos aus der Vogelperspektive: Der ausbleibende Tod bewirkt eine nationale Katastrophe, die zu kollabieren droht, als erst Einzelne, dann Massen auf die naheliegende Lösung verfallen, ihre halbtoten Verwandten über die Grenze zu tragen, wo sie flugs die Augen schließen und ruhen können in fremder Erde; später trägt man sie einfach tot zurück. Manche dieser Fälle aber bleiben dubios: Ist das nun Mord oder legale Sterbehilfe? Die angrenzenden Staaten betrachten das unheimliche Szenario äußerst skeptisch. Doch wie wehrt man sich, nachdem Verhandlungen gescheitert sind, gegen Feinde, die nicht sterben, wenn man sie erschießt?
Der Stoff tangiert philosophische Fragen, und Saramago dreht und wendet sie gewohnt souverän aus der Distanz eines auktorialen Erzählers, wenn nicht gar eines ganzen Erzählerkollektivs. Das weiß um die natürlichen Widersprüche dieser konjunktivistischen Konstruktion, zeigt aber Fabulierlust am Gedankenexperiment, und so folgt dem Überblick aus der Totalen die Naheinstellung, das Einzelschicksal. Auch dieses Mittel, Mitleid zu erwirken, kennt man aus Romanen des Nobelpreisträgers.
Noch kühner nun als die Idee, den Tod zu beurlauben, ist die Figur, auf die Saramago jetzt überblendet: Er stellt sich "Tod" höchstpersönlich vor und verleiht ihm menschliche Züge. Das wirkt entwaffnend naiv und berührt - sagen wir - auf archaischer Ebene. Tod teilt nach einem Jahr brieflich mit, dass ab Neujahr wieder "normal" gestorben werde. Das Töten habe Tod unterbrochen, um den Menschen eine Lektion zu erteilen. Die "kostenlose Probephase" sei aber nun vorbei, doch gestehe Tod seinen Fehler ein, bislang allzu schreckhaft überrumpelt zu haben, und informiere künftig eine Woche vor Ablauf der Lebensfrist jeden Einzelnen per violettem Brief. Das gebe Zeit, alles zu ordnen. So spielt Saramago auch dieses durch und schreibt auf seine spitzbübische Art eine kurze Chronik nicht des ausbleibenden, dafür nun des angekündigten Todes. Jetzt streift er nicht mehr die aktuellen Diskurse, Überalterung und demographische Probleme, stattdessen aber die Tücken der Bürokratie, und das ist vielleicht die größte Entmachtung, die er dem Tod jetzt zuzufügen gedenkt: Er degradiert ihn einfach zum Buchhalter, zur ausführenden Gewalt einer Organisation, die normalerweise zuverlässig tötet.
Einmal jedoch nicht. Ein Mensch wird schlicht vergessen - ein banales Datenspeicherproblem im Zettelkasten, der die Lebenszeit vermerkt. Tod wandelt sich also ein drittes Mal, nun vom beleidigten Buchhalter mit Erziehungsauftrag, der seinen Ruf verbessern will, in die anziehende, unerkannt bleibende "dame tod", die ihre ganz eigenen Sorgen hat. Sie, die doch eigentlich töten soll, droht sich in jenen vergessenen Mann zu verlieben. Der Roman läuft zielstrebig auf eine Vereinigungsszene hin - "dame tod", derart schwach geworden, schläft zum ersten Mal (in ihrem "Leben"?) erschöpft ein, was selbstredend arge Folgen hat. "Am darauffolgenden Tag starb niemand" - das Buch endet mit dem Satz, mit dem es so kühn begann.
"Eine Zeit ohne Tod" ist einerseits ein Reflexionsstück ganz im Stile von Saramagos älteren Romanen. Ein literarischer Totentanz, der, weil er mit dem Sterben versöhnt, indem er veranschaulicht, wie es ohne den Tod wäre, auch in der Tradition des memento mori steht, diese aber spielerisch bricht. Noch ein weiteres Panorama öffnet sich, führt man sich die verführte "dame tod" vor Augen, die, so vermenschlicht, die Geschichte einer kollektiven Abwehr dokumentiert, das Entstehen von naivem Bildrepertoire, das Menschen brauchen, um dem Horror vor dem letzten Atemzug das Unheimlich-Verschwommene zu nehmen.
Daneben vernimmt man Saramagos Lieblingsthemen, seine Rede gegen starre Ordnungssysteme und falsch verstandene Demokratien. Doch ist der Roman keineswegs theorielastig, sondern leicht federnd geschrieben, mit einer Freude am Fabulieren, am Ausdenken immer neuer Nuancen, die Saramago nur einer kleinen Weichenstellung am Anfang seiner folgenden Geschichte abgewinnt und die man lesend mitüberlegt, die morbiden, absurden Szenerien nachbildend, die sich ins Gedächtnis einprägen, als Warn-Imagos und Aufforderung, künftig mehr an den Tod zu denken.
José Saramago: "Eine Zeit ohne Tod". Roman. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Marianne Gareis. Rowohlt Verlag, Reinbek 2007. 253 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gestorben wird nicht mehr: José Saramagos morbide Fabel / Von Anja Hirsch
Man stelle sich vor, alle würden erblinden - Als-ob-Spiele dieser Art, wie etwa in "Die Stadt der Blinden", liebt der portugiesische Schriftsteller José Saramago, mit ihnen erprobt er Möglichkeiten und erzählt an ihnen Gleichnisse. In seinem neuen Roman "Eine Zeit ohne Tod" treibt der fast Fünfundachtzigjährige dieses Spiel vergnügt auf die Spitze und lebt eine kühne Allmachtsphantasie aus: Er schafft den Tod kurzerhand ab. Es wird einfach nicht mehr gestorben, und zwar um Schlag zwölfe in einer Silvesternacht in einem ganzen Land.
Feuerwehrmänner ziehen Sterbende aus brennenden Häusern, doch die atmen einfach weiter, über Tage, Wochen, Monate. Unfallopfer weigern sich plötzlich zu sterben. Lebenstüchtige dagegen atmen spontan auf, weil kein drohendes Ende sie bremst. Nur die Kirchenvertreter sind ratlos und bangen um ihren theologischen Kern, denn wo kein Tod, da keine Auferstehung. Und von den Bestattern hört man Klagen, ganz zu schweigen von den Versicherungsunternehmern. Saramago exerziert seine kühne Idee wie eine Etüde mit wechselnder Klangfarbe, so wie er in früheren Romanen andere Szenarien mit anderen Prämissen durchkonjugierte.
Auch "Eine Zeit ohne Tod" will etwas lehren. Doch spart sich Saramago den erhobenen Zeigefinger - und liefert stattdessen ein bizarres Kabinettstück, das man selbst entschlüsseln darf. Zunächst, um das gewaltige Ausmaß zu sichten, ohne viel Pathos aus der Vogelperspektive: Der ausbleibende Tod bewirkt eine nationale Katastrophe, die zu kollabieren droht, als erst Einzelne, dann Massen auf die naheliegende Lösung verfallen, ihre halbtoten Verwandten über die Grenze zu tragen, wo sie flugs die Augen schließen und ruhen können in fremder Erde; später trägt man sie einfach tot zurück. Manche dieser Fälle aber bleiben dubios: Ist das nun Mord oder legale Sterbehilfe? Die angrenzenden Staaten betrachten das unheimliche Szenario äußerst skeptisch. Doch wie wehrt man sich, nachdem Verhandlungen gescheitert sind, gegen Feinde, die nicht sterben, wenn man sie erschießt?
Der Stoff tangiert philosophische Fragen, und Saramago dreht und wendet sie gewohnt souverän aus der Distanz eines auktorialen Erzählers, wenn nicht gar eines ganzen Erzählerkollektivs. Das weiß um die natürlichen Widersprüche dieser konjunktivistischen Konstruktion, zeigt aber Fabulierlust am Gedankenexperiment, und so folgt dem Überblick aus der Totalen die Naheinstellung, das Einzelschicksal. Auch dieses Mittel, Mitleid zu erwirken, kennt man aus Romanen des Nobelpreisträgers.
Noch kühner nun als die Idee, den Tod zu beurlauben, ist die Figur, auf die Saramago jetzt überblendet: Er stellt sich "Tod" höchstpersönlich vor und verleiht ihm menschliche Züge. Das wirkt entwaffnend naiv und berührt - sagen wir - auf archaischer Ebene. Tod teilt nach einem Jahr brieflich mit, dass ab Neujahr wieder "normal" gestorben werde. Das Töten habe Tod unterbrochen, um den Menschen eine Lektion zu erteilen. Die "kostenlose Probephase" sei aber nun vorbei, doch gestehe Tod seinen Fehler ein, bislang allzu schreckhaft überrumpelt zu haben, und informiere künftig eine Woche vor Ablauf der Lebensfrist jeden Einzelnen per violettem Brief. Das gebe Zeit, alles zu ordnen. So spielt Saramago auch dieses durch und schreibt auf seine spitzbübische Art eine kurze Chronik nicht des ausbleibenden, dafür nun des angekündigten Todes. Jetzt streift er nicht mehr die aktuellen Diskurse, Überalterung und demographische Probleme, stattdessen aber die Tücken der Bürokratie, und das ist vielleicht die größte Entmachtung, die er dem Tod jetzt zuzufügen gedenkt: Er degradiert ihn einfach zum Buchhalter, zur ausführenden Gewalt einer Organisation, die normalerweise zuverlässig tötet.
Einmal jedoch nicht. Ein Mensch wird schlicht vergessen - ein banales Datenspeicherproblem im Zettelkasten, der die Lebenszeit vermerkt. Tod wandelt sich also ein drittes Mal, nun vom beleidigten Buchhalter mit Erziehungsauftrag, der seinen Ruf verbessern will, in die anziehende, unerkannt bleibende "dame tod", die ihre ganz eigenen Sorgen hat. Sie, die doch eigentlich töten soll, droht sich in jenen vergessenen Mann zu verlieben. Der Roman läuft zielstrebig auf eine Vereinigungsszene hin - "dame tod", derart schwach geworden, schläft zum ersten Mal (in ihrem "Leben"?) erschöpft ein, was selbstredend arge Folgen hat. "Am darauffolgenden Tag starb niemand" - das Buch endet mit dem Satz, mit dem es so kühn begann.
"Eine Zeit ohne Tod" ist einerseits ein Reflexionsstück ganz im Stile von Saramagos älteren Romanen. Ein literarischer Totentanz, der, weil er mit dem Sterben versöhnt, indem er veranschaulicht, wie es ohne den Tod wäre, auch in der Tradition des memento mori steht, diese aber spielerisch bricht. Noch ein weiteres Panorama öffnet sich, führt man sich die verführte "dame tod" vor Augen, die, so vermenschlicht, die Geschichte einer kollektiven Abwehr dokumentiert, das Entstehen von naivem Bildrepertoire, das Menschen brauchen, um dem Horror vor dem letzten Atemzug das Unheimlich-Verschwommene zu nehmen.
Daneben vernimmt man Saramagos Lieblingsthemen, seine Rede gegen starre Ordnungssysteme und falsch verstandene Demokratien. Doch ist der Roman keineswegs theorielastig, sondern leicht federnd geschrieben, mit einer Freude am Fabulieren, am Ausdenken immer neuer Nuancen, die Saramago nur einer kleinen Weichenstellung am Anfang seiner folgenden Geschichte abgewinnt und die man lesend mitüberlegt, die morbiden, absurden Szenerien nachbildend, die sich ins Gedächtnis einprägen, als Warn-Imagos und Aufforderung, künftig mehr an den Tod zu denken.
José Saramago: "Eine Zeit ohne Tod". Roman. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Marianne Gareis. Rowohlt Verlag, Reinbek 2007. 253 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dieser Roman des portugiesischen Nobelpreisträgers hat Rezensentin Anja Hirsch rundum Vergnügen bereitet. Sie freut sich an der "kühnen Idee", mit der Saramago anhebt, und an den Variationen, durch die er sein "Gedankenexperiment" dann schickt. Dabei attestiert sie dem Autor "Fabulierlust" und eine souveräne Naivität, mit der er an die archaische Angst vor dem Tode rührt. Die Freude der Rezensentin an den narrativen Verwicklungen wird in ihrer Besprechung außerdem grundiert von ihrem Respekt für dieses saramago-typische "Reflexionsstück" über totalitäre Bürokratien und "falsch verstandene Demokratien" (was immer das sein soll). Saramagos kluges Spiel mit der Erzählperspektive hat Hirsch ebenso überzeugt wie seine souveräne Darstellung von Macht und Ohnmacht des Todes als personifizierte 'dame tod'. Ein "literarischer Totentanz", urteilt sie, der den Leser mahnt, sich mehr mit dem Tod zu beschäftigen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Bei allem Realismus, bei allem Engagement ist Saramagos Kosmos das Terrain der großen Geheimnisse, der wahren Mirakel, die resistent sind gegen Deutung, Aufschluss, Klärung Frankfurter Rundschau