Eine Heilige im Hinterland
"Das Wunder ist für die Anderen bestimmt, nicht für die Heiligen, die brauchen es nicht mehr, die glauben bereits, und deswegen kommt das Wunder für sie meist zu spät."
Dass sie ihren Kopf ziemlich weit oben trage, fanden die Alten. Sie sei begabt aber auch gefährdet, meinten die Lehrer. Den pöbelnden Jungs im Zug schlug sie mit der flachen Hand ins Gesicht und zu Hause klebte sie Heiligenbilder in ein Heft. Und heute? Zehn Jahre später sitzt Johanna hinter einem Schreibtisch der örtlichen Krankenkasse, Thermoskanne und Pausenbrot neben sich, und schaut nur kurz auf, als ihre ehemals beste Freundin Annemut den Raum betritt. Was ist nur aus Johanna geworden? Annemut versucht zu verstehen. Sie erinnert sich an den Sommer im Gartenhaus, die gemeinsamen Ausgehnächte und jene Morgendämmerung, in der sie dabeistanden und zusahen, wie die verrufene Pension Malinowski niederbrannte. Erklärungen findet Annemut nicht, doch eine Frage wird dringlicher: Was ist eigentlich aus mir geworden?
"Das Wunder ist für die Anderen bestimmt, nicht für die Heiligen, die brauchen es nicht mehr, die glauben bereits, und deswegen kommt das Wunder für sie meist zu spät."
Dass sie ihren Kopf ziemlich weit oben trage, fanden die Alten. Sie sei begabt aber auch gefährdet, meinten die Lehrer. Den pöbelnden Jungs im Zug schlug sie mit der flachen Hand ins Gesicht und zu Hause klebte sie Heiligenbilder in ein Heft. Und heute? Zehn Jahre später sitzt Johanna hinter einem Schreibtisch der örtlichen Krankenkasse, Thermoskanne und Pausenbrot neben sich, und schaut nur kurz auf, als ihre ehemals beste Freundin Annemut den Raum betritt. Was ist nur aus Johanna geworden? Annemut versucht zu verstehen. Sie erinnert sich an den Sommer im Gartenhaus, die gemeinsamen Ausgehnächte und jene Morgendämmerung, in der sie dabeistanden und zusahen, wie die verrufene Pension Malinowski niederbrannte. Erklärungen findet Annemut nicht, doch eine Frage wird dringlicher: Was ist eigentlich aus mir geworden?
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Christoph Schröder ruft mal wieder das Ende der Ironie aus (wieso eigentlich?). Jedenfalls hat er bei dieser Autorin das Gefühl, dass sie Ernst macht. Ernst mit ihrer Wut, etwa die eigene provinzielle Herkunft betreffend, eine Wut, die laut Schröder bis in den Satzrhythmus und ins Wort reicht. Auf kraftvolle Sätze stößt er in diesem, wie er findet, starken Debüt allenthalben. Und auch auf das "grundsätzliche Problem" der Anti-Heimat-Literatur: die alle provinzielle Ignoranz reproduzierende Perspektive. Bemerkenswert aber scheint Schröder dann doch der Umstand, dass der Erzählerin kein Refugium gegönnt wird, kein positiver Raum, auch nicht in der Stadt. Aber im Ernst.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.2012Provinzverächterinnen
Stephanie Gleißner hat ihre oberbayerische Jugendzeit in einen Roman verwandelt, in dem zwei Mädchen von der Provinz ziemlich bedient sind. Annemut und Johanna fühlen sich von den "Hinterland"-Bewohnern unverstanden, besonders von ihren staubsaugenden Müttern, deren einzige Sehnsucht sich auf den Vorwerk-Vertreter richtet. Sich selbst und ihre Freundin, stets mit dem Buch "Das Leben der Heiligen" in der Hand, hält die Ich-Erzählerin dagegen für geist- und einsichtsreich. Typisch Adoleszenz! Leider löst sich die erwachsene, auf diese Lebensphase zurückblickende Erzählerin nicht von der Pubertätsperspektive, sondern möchte uns das jugendliche Erleben als eigensinnig und ganz schön wild verkaufen: Daher reihen sich unbeholfene Schulszenen, sinnlich schöne Sommermonate und Münchner Discobesuche der Landschönen aneinander, die allesamt zeigen sollen, wie unerbittlich die Suche nach einem Jenseits der engen Herkunftswelt ausfallen kann. Aus der Frage: "Wer sind wir?" schält sich langsam die Frage: "Was ist aus uns geworden?" Denn die Erzählerin Annemut steht nach Jahren der Weltenfahrt wieder in ihrem Elternhaus. Liebesenttäuschungen, Zusammenbrüche und jede Menge Weltekel hat sie hinter sich, als sie auf die ehemalige Freundin trifft. Die hochmütige Jeanne d'Arc des Hinterlandes sitzt nun hinter dem Schalter einer Versicherung und greift zur bedruckten Kaffeetasse. "Begabt" und "gefährdet" hatte ein Lehrer das Mädchen genannt - das scheinen auch die Attribute zu sein, um die sich die Autorin mit ihrem Debüt bewirbt. (Stephanie Gleißner: "Einen solchen Himmel im Kopf". Roman. Aufbau Verlag. Berlin 2012. 225 S., geb., 16,99 [Euro].) sake
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Stephanie Gleißner hat ihre oberbayerische Jugendzeit in einen Roman verwandelt, in dem zwei Mädchen von der Provinz ziemlich bedient sind. Annemut und Johanna fühlen sich von den "Hinterland"-Bewohnern unverstanden, besonders von ihren staubsaugenden Müttern, deren einzige Sehnsucht sich auf den Vorwerk-Vertreter richtet. Sich selbst und ihre Freundin, stets mit dem Buch "Das Leben der Heiligen" in der Hand, hält die Ich-Erzählerin dagegen für geist- und einsichtsreich. Typisch Adoleszenz! Leider löst sich die erwachsene, auf diese Lebensphase zurückblickende Erzählerin nicht von der Pubertätsperspektive, sondern möchte uns das jugendliche Erleben als eigensinnig und ganz schön wild verkaufen: Daher reihen sich unbeholfene Schulszenen, sinnlich schöne Sommermonate und Münchner Discobesuche der Landschönen aneinander, die allesamt zeigen sollen, wie unerbittlich die Suche nach einem Jenseits der engen Herkunftswelt ausfallen kann. Aus der Frage: "Wer sind wir?" schält sich langsam die Frage: "Was ist aus uns geworden?" Denn die Erzählerin Annemut steht nach Jahren der Weltenfahrt wieder in ihrem Elternhaus. Liebesenttäuschungen, Zusammenbrüche und jede Menge Weltekel hat sie hinter sich, als sie auf die ehemalige Freundin trifft. Die hochmütige Jeanne d'Arc des Hinterlandes sitzt nun hinter dem Schalter einer Versicherung und greift zur bedruckten Kaffeetasse. "Begabt" und "gefährdet" hatte ein Lehrer das Mädchen genannt - das scheinen auch die Attribute zu sein, um die sich die Autorin mit ihrem Debüt bewirbt. (Stephanie Gleißner: "Einen solchen Himmel im Kopf". Roman. Aufbau Verlag. Berlin 2012. 225 S., geb., 16,99 [Euro].) sake
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