Maria Frisé wuchs auf einem Gut nahe der Grenze zu Polen auf. Für die Erzählung »Eine schlesische Kindheit« erhielt sie zwei Literaturpreise. Nach der Flucht 1945 lebte sie in Schleswig-Holstein und Hamburg, ihre drei Söhne wurden in anfangs bedrückende Verhältnisse geboren. Nach dem Scheitern ihrer Ehe begann sie an der Seite des Schriftstellers und Herausgebers der Werke Robert Musils ein neues Leben als Journalistin und Autorin von Kurzgeschichten, Essays und Reportagen, die vorwiegend in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen. Dreiundzwanzig Jahre war sie dort als Redakteurin im Feuilleton tätig. Sie veröffentlichte mehrere Bände mit Kurzgeschichten und nach dem Tod ihres Mannes ihre viel gelobte Autobiografie »Meine schlesische Familie und ich«.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Laut Rezensentin Christiane Pöhlmann ist in den Erzählungen der FAZ-Feuilletonkollegin Maria Frisé für jeden was dabei. Frisés sachliche Sprache allein macht Pöhlmann schon Freude. Wenn die Texte "anschaulich" von einsamen Menschen, familiären Rollen, biografischen Brüchen und vom Altern erzählen, staunt Pöhlmann über die Zeitlosigkeit der Geschichten. Gut gefällt ihr außerdem, dass Frisé das Ende jeweils offenlässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2021Stillleben mit Schreibmaschine
Schnörkellos: Neue Erzählungen von Maria Frisé
Schöner Wohnen ist heute gern leerer Wohnen. Weiße Sitzlandschaft vor weißer Wand, als Farbklecks eine Grünpflanze. Keine Bücherregale, kein "lächerliches Stillleben" mit Schreibmaschine und Tabakspfeife, denn all das ist die Welt von gestern. Maria Frisé scheut sich nicht, genau dieses wimmelbildhafte Ambiente zum Schauplatz der ersten ihrer insgesamt sieben Erzählungen des Bandes "Einer liebt immer mehr" zu machen. Für die Gestaltung des Interieurs wählt sie eine schnörkellose, an der Neuen Sachlichkeit geschulte Sprache. Es ist eine Freude, das klare Deutsch zu lesen. Dieser Ton prägt alle Geschichten, doch hier bildet er einen besonders reizvollen Kontrast zum Inhalt, auch wenn der Auftakttext insgesamt nicht der beste der Sammlung ist. Ein alternder Wissenschaftler wird aus Anlass eines runden Geburtstags von einer jungen Journalistin interviewt. Frisé stellt ihn als in sich verkapselten einsamen Mann vor. Ähnliche Charakterzüge weisen die meisten ihrer Figuren auf. Sie überzeugen, weil Frisé ihre Entwicklungswege anschaulich nachzeichnet. Der Wissenschaftler will einerseits seine Privatsphäre wahren, seine Eltern, die er für "spießig und kulturell indolent" hält, "nicht vor einer Fremden denunzieren". Andererseits hütet er ein Geheimnis: Zu Beginn seiner Karriere hat er die Ideen eines toten Kollegen für seine eigenen ausgegeben. Obwohl ihm Scham, nicht Angst vor dem Rücktritt zusetzt, liest sich dieser Aspekt wie ein Schielen nach der Gegenwart. Das hat Frisé gar nicht nötig.
Den äußerlichen Kontrapunkt zur akademischen Bücherwelt bildet das stylische Appartement im vierzehnten Stock aus der Geschichte "Zu dritt", die beste des Bandes. Hier wartet die schicke Küche samt Beziehung nach Reißbrett. Beim ersten Kind ist die Rollenverteilung klar: "Er strebte gar nicht erst an, zu den modernen, pflegevernarrten Vätern zu gehören." Entsprechend distanziert ist das Verhältnis zum neugeborenen Sohn. Als der Mann ihm dann doch das Fläschchen gibt, spornt die Frau ihn an: "Du lernst es schnell", wobei es geschickt in der Schwebe bleibt, ob sich wirklich eine Veränderung abzeichnet. Mit der Schwebehaltung klingen alle Erzählungen aus, die gerade durch offene Schlüsse überzeugen.
Thematisiert werden das Altern, die Fremd- und Eigenwahrnehmung dieses Prozesses, biographische Brüche durch Scheidung oder Vertreibung sowie die familiäre Rollenverteilung. Faszinierend ist, wie zeitlos Frisé das gelingt. Der Akademiker und das junge Paar stehen für verschiedene Generationen, doch die Probleme sind so unterschiedlich nicht. Ein Blick ins Leben von Maria Frisé ist vor allem für die letzte Geschichte, "Stationen einer Ehe", interessant, die auf den Tod des älteren Mannes nach fast fünfzig Jahren gemeinsam verbrachten Lebens hinläuft. Für die Frau ist es die zweite Ehe - Frisé selbst war zunächst mit Hans-Conrad Stahlberg, später mit Adolf Frisé verheiratet. Protagonistin wie Autorin haben Kinder mit in die zweite Ehe gebracht, beide sind literarisch interessiert und berufstätig, Frisé hat mehr als zwanzig Jahre als feste und länger als freie Mitarbeiterin für diese Zeitung geschrieben.
Doch die inzwischen fünfundneunzigjährige Autorin blickt keineswegs nur zurück. Ihr Text kann auch als Kommentar auf gegenwärtige Fragestellungen gelesen werden. Jeder Einstimmigkeit zieht sie den Streit vor: "Die abendlichen Gespräche gerieten deshalb nicht selten zu Debatten, bei denen die Wege zu Kompromissen weit waren und immer wieder in Sackgassen endeten", denn sich "mit zunächst konträren Standpunkten zu reizen machte ihnen offensichtlich Spaß, was Außenstehende mitunter befremdete". Da ist Patchwork ebenso ein Thema wie Rollenzuschreibung: "Einer liebt immer mehr, sagte er resigniert, aber du müsstest mich nicht so rücksichtslos spüren lassen, dass du zeitweise ohne mich besser zurechtkommst." Und dann die urvertraute Szene: "Bücher waren oft der Anlass, dass sie die Schule schwänzte", dass Husten oder Kopfweh vorgetäuscht wurden, "um die spannende Lektüre nicht unterbrechen zu müssen". Mancher wird andere Passagen mehr lieben. Das heißt nur, dass der schmale Band etliche Möglichkeiten bietet, fündig zu werden.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Maria Frisé: "Einer liebt immer mehr". Erzählungen.
Literareon, München 2021. 138 S., br., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schnörkellos: Neue Erzählungen von Maria Frisé
Schöner Wohnen ist heute gern leerer Wohnen. Weiße Sitzlandschaft vor weißer Wand, als Farbklecks eine Grünpflanze. Keine Bücherregale, kein "lächerliches Stillleben" mit Schreibmaschine und Tabakspfeife, denn all das ist die Welt von gestern. Maria Frisé scheut sich nicht, genau dieses wimmelbildhafte Ambiente zum Schauplatz der ersten ihrer insgesamt sieben Erzählungen des Bandes "Einer liebt immer mehr" zu machen. Für die Gestaltung des Interieurs wählt sie eine schnörkellose, an der Neuen Sachlichkeit geschulte Sprache. Es ist eine Freude, das klare Deutsch zu lesen. Dieser Ton prägt alle Geschichten, doch hier bildet er einen besonders reizvollen Kontrast zum Inhalt, auch wenn der Auftakttext insgesamt nicht der beste der Sammlung ist. Ein alternder Wissenschaftler wird aus Anlass eines runden Geburtstags von einer jungen Journalistin interviewt. Frisé stellt ihn als in sich verkapselten einsamen Mann vor. Ähnliche Charakterzüge weisen die meisten ihrer Figuren auf. Sie überzeugen, weil Frisé ihre Entwicklungswege anschaulich nachzeichnet. Der Wissenschaftler will einerseits seine Privatsphäre wahren, seine Eltern, die er für "spießig und kulturell indolent" hält, "nicht vor einer Fremden denunzieren". Andererseits hütet er ein Geheimnis: Zu Beginn seiner Karriere hat er die Ideen eines toten Kollegen für seine eigenen ausgegeben. Obwohl ihm Scham, nicht Angst vor dem Rücktritt zusetzt, liest sich dieser Aspekt wie ein Schielen nach der Gegenwart. Das hat Frisé gar nicht nötig.
Den äußerlichen Kontrapunkt zur akademischen Bücherwelt bildet das stylische Appartement im vierzehnten Stock aus der Geschichte "Zu dritt", die beste des Bandes. Hier wartet die schicke Küche samt Beziehung nach Reißbrett. Beim ersten Kind ist die Rollenverteilung klar: "Er strebte gar nicht erst an, zu den modernen, pflegevernarrten Vätern zu gehören." Entsprechend distanziert ist das Verhältnis zum neugeborenen Sohn. Als der Mann ihm dann doch das Fläschchen gibt, spornt die Frau ihn an: "Du lernst es schnell", wobei es geschickt in der Schwebe bleibt, ob sich wirklich eine Veränderung abzeichnet. Mit der Schwebehaltung klingen alle Erzählungen aus, die gerade durch offene Schlüsse überzeugen.
Thematisiert werden das Altern, die Fremd- und Eigenwahrnehmung dieses Prozesses, biographische Brüche durch Scheidung oder Vertreibung sowie die familiäre Rollenverteilung. Faszinierend ist, wie zeitlos Frisé das gelingt. Der Akademiker und das junge Paar stehen für verschiedene Generationen, doch die Probleme sind so unterschiedlich nicht. Ein Blick ins Leben von Maria Frisé ist vor allem für die letzte Geschichte, "Stationen einer Ehe", interessant, die auf den Tod des älteren Mannes nach fast fünfzig Jahren gemeinsam verbrachten Lebens hinläuft. Für die Frau ist es die zweite Ehe - Frisé selbst war zunächst mit Hans-Conrad Stahlberg, später mit Adolf Frisé verheiratet. Protagonistin wie Autorin haben Kinder mit in die zweite Ehe gebracht, beide sind literarisch interessiert und berufstätig, Frisé hat mehr als zwanzig Jahre als feste und länger als freie Mitarbeiterin für diese Zeitung geschrieben.
Doch die inzwischen fünfundneunzigjährige Autorin blickt keineswegs nur zurück. Ihr Text kann auch als Kommentar auf gegenwärtige Fragestellungen gelesen werden. Jeder Einstimmigkeit zieht sie den Streit vor: "Die abendlichen Gespräche gerieten deshalb nicht selten zu Debatten, bei denen die Wege zu Kompromissen weit waren und immer wieder in Sackgassen endeten", denn sich "mit zunächst konträren Standpunkten zu reizen machte ihnen offensichtlich Spaß, was Außenstehende mitunter befremdete". Da ist Patchwork ebenso ein Thema wie Rollenzuschreibung: "Einer liebt immer mehr, sagte er resigniert, aber du müsstest mich nicht so rücksichtslos spüren lassen, dass du zeitweise ohne mich besser zurechtkommst." Und dann die urvertraute Szene: "Bücher waren oft der Anlass, dass sie die Schule schwänzte", dass Husten oder Kopfweh vorgetäuscht wurden, "um die spannende Lektüre nicht unterbrechen zu müssen". Mancher wird andere Passagen mehr lieben. Das heißt nur, dass der schmale Band etliche Möglichkeiten bietet, fündig zu werden.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Maria Frisé: "Einer liebt immer mehr". Erzählungen.
Literareon, München 2021. 138 S., br., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main