Produktdetails
  • Verlag: Brill Fink
  • Artikelnr. des Verlages: 1883147
  • 1998.
  • Seitenzahl: 215
  • Deutsch
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 298g
  • ISBN-13: 9783770533039
  • ISBN-10: 3770533038
  • Artikelnr.: 07407238

Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.1999

Ein Etwas, das nach nichts aussieht
Der Nihilismus sagt Nein und entzieht sich dem Zugriff seines Deuters Federico Vercellone

Nihilismus ist ein mephistophelischer Begriff: Alle Versuche, ihn denkend zu umgrenzen, sind vergebens. Seine Bedeutung irrlichtert, seine Gehalte sind widersprüchlich, er ist auf dem Jahrmarkt der Meinungen nicht weniger zu Hause als in philosophischen Seminaren. Im Kampf der Weltanschauungen verkommt er zum ideenpolitischen Schmäh- und Schandwort - und scheint doch entbehrlich, wenn gelehrte Deutungen der geistigen Situation der Zeit anstehen. Bislang blieben die Versuche der Forschung, dem Nichtigen denkend beizukommen, so schillernd und ungewiss wie das Phänomen selbst. Noch immer gibt es keine ideengeschichtliche Gesamtschau.

Vielleicht hat diese Lage einer faszinierten Verlegenheit Federico Vercellone herausgefordert. Der 1955 in Turin geborene Professor für Ästhetik an der Universität von Udine wagt mit einer (in Italien 1992 erschienenen) "Einführung in den Nihilismus" einen übergreifenden Blick auf das verschlungene, zwischen den Disziplinen oszillierende Phänomen. Auch er gerät auf schwankenden Boden. Schon die doppelsinnige Komik des Titels zeigt das heikle Problem an: Wer Nihilismus zum Gegenstand des Forschens und Lehrens macht, nimmt irgendwie doch an seiner magnetischen Wirklichkeit teil. Weder lässt sich solide in eine Begriffsgeschichte des Nihilismus einführen, weil es terminologische Deutlichkeit nicht gibt, noch lassen sich die Stadien einer Phänomenologie des Nihilismus exakt nachbilden, weil das Phänomen immer im Ungefähren zwischen Weltanschauungsinteresse und Ideenkritik schwankt.

Dieser Zwiespalt führt das Buch in eine vielsagende Undeutlichkeit. Wohlweislich hat sich Vercellone nicht für eine typologische Gliederung - etwa nach den geläufigen Mustern des "relativen" und des "absoluten" Nichts, des Nihilismus der Leere und des Nihilismus der Negativität - entschieden; Verstehensrastern dieser Art entschlüpfen gar zu viele Gestalten; und andererseits würde sogleich die Grenze ins Weltreich der Religionen geöffnet, die Topographie der europäischen Ideengeschichte gesprengt. Mit solcher Eingrenzung hat Vercellone ohnehin alle Hände voll zu tun. Es ist bezeichnend, dass er Schopenhauer, den Meister einer nihilistischen Lebenskunst, in verlegener Kürze abhandelt und seinen heiter-grimmigen "Buddhaismus" übergeht, weil sonst ein religionsphilosophisches Tor geöffnet würde, durch das die Unermesslichkeit religiöser Schöpfung und Bewältigung der Urfrage nach dem Nichts und nach der Seinsbehauptung trotz des Nichtseins dringen würde.

Doch der Verzicht auf vorgängige Begriffserhellung und Ideenreflexion führt in ein neues Dilemma. Ideen des Nichtigen und Programme des Negativen ordnet der Verfasser lediglich und mit grobem Raster den historischen Phasen zu, in denen und durch die sie sich ereigneten. Er setzt, wie es üblich ist, mit Jacobis Briefkritik am romantisch-idealistischen Ichkult Fichtes ein, streift den Desillusionismus, Naturalismus und Solipsismus der Heine, Büchner und Stirner, wendet sich abrupt dem ganz anders gestimmten russischen Nihilismus zu, wechselt zu Nietzsches antinihilistisch-nihilistischem Abbruchs- und Heilungsversuch und kommt sodann im Weltanschauungsdschungel unseres Jahrhunderts an.

Dabei gelingen Vercellone eigenwillige Ideenporträts und anregende Deutungsskizzen - so wenn Dostojewskijs philosophische Romane als Demaskierung und Abwehr einer Säkularisierung aufgefasst werden, die einem religiös verschuldeten Riss zwischen Diesseits und Jenseits entspringt: Die immer währende Vertagung der Erlösung trennt Ereignis und Sinn, Welt und Bedeutung, nimmt das Sein aus der Zeit und entleert die Herzen; Gott wird zum Abstraktum, die Kirche verliert sich an die Weltverhältnisse und paktiert mit einer Tatsächlichkeit, die nur noch Logik, aber keinen Sinn mehr hat - das ist die Stunde des Großinquisitors.

Aber so originell die Facetten der Deutung oft sind - sie finden doch selten zueinander, bleiben jeweils Bruchstück, ordnen sich nicht wenigstens zur Proportion einer Denkbewegung, die am Ende ein Panorama des abendländischen Nihilismus erahnen ließe. Weil die Darstellung das geschichtlich Gegebene nur als grobes Raster nutzt und keinen Durchblick anstrebt, bildet sich kein Spannungsfeld, in dem die Nihilismen, bei aller Differenz, in ein Verhältnis zueinander geraten könnten. Vercellone macht gar nicht den Versuch, einen Leitfaden auszulegen, der einer von ihm repräsentierten Deutungsidee folgte. Stattdessen strebt er eine ideengeschichtliche Objektivität an, die, das muss er wie andere Nihilismusforscher vor ihm einstecken, dieser philosophische Mephisto nicht zulässt. Doppelsinnig führt das (durch blamabel viele Druckfehler entstellte) Buch in den Nihilismus ein: Es ist ein durch Eigenwilligkeit anregendes Sammelsurium geistesgeschichtlicher Nihilismen - und es hat darin teil am Vexierspiel eines Phänomens, das der Philosoph Georg Picht mit dem Totalverlust der Wahrheit gleichsetzt und das sich deshalb immer mehr als die negative Wahrheit der bewegungssüchtigen Gegenwart zu erkennen gibt.

ULRICH WANNER.

Federico Vercellone: "Einführung in den Nihilismus". Aus dem Italienischen von Norbert Bickert. Wilhelm Fink Verlag, München 1998. 215 S., br., 48,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr