Wie führt man am besten in die Geschichtswissenschaft ein? Es gibt natürlich verschiedene Wege. Der Leser dieser Einführung lernt, geschichtswissenschaftlich zu denken und zu arbeiten, indem er von Anfang an in geschichtswissenschaftliches Argumentieren hineingezogen wird. Nicht allgemeine Informationen bietet das Buch, sondern es ist eine Einführung, die sich auf methodische Grundfragen konzentriert und in die Praxis hineinführt. Volker Sellin vermittelt Denkweisen und Argumentationsformen, zugleich einen Begriff von Arbeitsweise und Verfahren des Historikers und macht so mit der geschichtswissenschaftlichen Praxis vertraut.
Hierbei nehmen Beispiele einen breiten Raum ein. An Beispielen und den Schwierigkeiten ihrer Interpretation wird immer wieder die Notwendigkeit methodischer Reflexion dargetan, die Beispiele ermöglichen aber auch, eine Reihe von Methoden und Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft vorzustellen. Einzelne geschichtswissenschaftliche Probleme werden aus Alltagserfahrungen entwickelt. Historische Vorkenntnisse, ein spezielles Wissen muß man nicht mitbringen: »Das Buch setzt nichts voraus als die Bereitschaft, die vorgetragenen Gedankengänge mitzudenken.« Jedem Kapitel folgen ganz knappe Literaturangaben, ein bibliographischer Essay nennt weiterführende Literatur.
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung
1. Die historische Tatsache
2. Das historische Urteil
3. Quellen, Quellenkritik, Quellen
4. Archive, Bibliotheken, Museen
5. Frage und Antwort
6. Über Methode
7. Verstehen und Erklären
8. Die wissenschaftliche Literatur
9. Die Sprache des Historikers
10. Typus und Struktur
11. Mentalität und Ideologie
12. Geschichte und andere Geschichten
13. Über Objektivität
14. Vom Sinn der Historie
15. Weiterführende Literatur
Hierbei nehmen Beispiele einen breiten Raum ein. An Beispielen und den Schwierigkeiten ihrer Interpretation wird immer wieder die Notwendigkeit methodischer Reflexion dargetan, die Beispiele ermöglichen aber auch, eine Reihe von Methoden und Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft vorzustellen. Einzelne geschichtswissenschaftliche Probleme werden aus Alltagserfahrungen entwickelt. Historische Vorkenntnisse, ein spezielles Wissen muß man nicht mitbringen: »Das Buch setzt nichts voraus als die Bereitschaft, die vorgetragenen Gedankengänge mitzudenken.« Jedem Kapitel folgen ganz knappe Literaturangaben, ein bibliographischer Essay nennt weiterführende Literatur.
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung
1. Die historische Tatsache
2. Das historische Urteil
3. Quellen, Quellenkritik, Quellen
4. Archive, Bibliotheken, Museen
5. Frage und Antwort
6. Über Methode
7. Verstehen und Erklären
8. Die wissenschaftliche Literatur
9. Die Sprache des Historikers
10. Typus und Struktur
11. Mentalität und Ideologie
12. Geschichte und andere Geschichten
13. Über Objektivität
14. Vom Sinn der Historie
15. Weiterführende Literatur
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995Aufgalopp der Historie
Volker Sellins Reitlehre für Anfänger / Von Winfried Schulze
Man wird den historischen Studien die Anerkennung nicht versagen, daß auch sie in der lebhaften wissenschaftlichen Bewegung unseres Zeitalters ihre Stelle haben, daß sie tätig sind, Neues zu entdecken, das Alte neu zu durchforschen, das Gefundene in angemessener Weise darzustellen." Als Johann Gustav Droysen 1858 mit diesen Worten seinen "Grundriß der Historik" eröffnete, ging es ihm darum, die für ihn defizitäre "wissenschaftliche Rechtfertigung" historischen Forschens zu liefern. Mit Droysens - damals wenig populären - Vorlesungen zur "Enzyklopädie der Geschichte" war das Grundmuster für alle nachfolgenden Einführungen in die Grundfragen historischen Arbeitens gegeben.
Die vorliegende Einführung trifft in eine veränderte Situation der Geschichtswissenschaft. Ihr Ton hat sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt. Während in den siebziger Jahren scharfe Auseinandersetzungen die Szene prägten, hat sich in den letzten Jahren ein Pragmatismus durchgesetzt, der unaufgeregt und vom eigenen Tun überzeugt das Geschäft des Historikers betreiben läßt. Nicht zuletzt die wieder etablierte gesellschaftliche Funktion der Geschichtswissenschaft hat dazu einen Beitrag geliefert: Auf der Basis öffentlicher Anerkennung und guter Verkaufszahlen historischer Werke, steigender Besucherzahlen historischer Ausstellungen und eines allenthalben spürbaren Interesses an historischer Vergegenwärtigung ist die Lust auf grundlegende Auseinandersetzungen geringer geworden, wenn nicht vergangen.
Gewiß wird solcher Pragmatismus auch durch die Binnenentwicklung der Geschichtswissenschaft gefördert. Nicht mehr der "Kampf" zwischen Politik- und Sozialgeschichte bestimmt die Szene, vielfältige Sonderrichtungen historischen Forschens haben sich ihre Nischen erobert, haben Zeitschriften gegründet, haben damit auch die Diskussionslagen undeutlich gemacht und die Grenzen zwischen methodisch Solidem und eher Suspektem verfließen lassen. Werner Conzes Wort von der "Sozialgeschichte in der Erweiterung" von 1974 ist geradezu zum Programm des Fachs geworden, immer neue Themen werden entdeckt, generieren kleine Arbeitskreise, finden Anhänger und drängen mit ihren Forschungsergebnissen auf den unnübersehbar gewordenen Markt. All dies zunächst Widersprüchliche hat aber die kürzlich formulierte Einsicht gefördert: "Geschichte hat im Getümmel an Wichtigkeit gewonnen."
Für den - übrigens erheblich gewachsenen - akademischen Markt hat sich eine neue Situation ergeben, die gerade im Vergleich mit den sechziger und siebziger Jahren ins Auge fällt. War man damals auf wenige, anspruchsvolle Werke (etwa Theodor Schieder und Karl Georg Faber) angewiesen, wenn man sich in die Geschichtswissenschaft einführen lassen wollte, so ist das Angebot heute erheblich reichhaltiger, aber auch viel pragmatischer geworden. Fast alle Spezialdisziplinen (Wirtschaftsgeschichte, Mittelalterliche und Neuere Geschichte, Zeitgeschichte, Osteuropäische Geschichte usw.) verfügen über eigene Einführungen, die meist inhaltliche Schwerpunkte und methodische Zugriffe mischen. Von daher mag man sich fragen, ob eine "Einführung in die Geschichtswissenschaft" noch ihren Platz finden kann. Die Reflexion über das Gesamtfach Geschichte im Sinne einer "Historik" hat sich von den eben genannten fachlichen "Einführungen" weitgehend getrennt, die Methodendiskussion konzentriert sich weniger auf Grundsätzliches, sondern vertieft sich eher in bestimmte Verfahren zur Auswertung bestimmter Quellengruppen, die für ein bestimmtes Thema wichtig sind, während die Relevanzfrage kaum mehr diskutiert wird.
In dieser offenen Situation unternimmt der Heidelberger Neuzeithistoriker Volker Sellin den Versuch, auf etwa 200 Seiten in die gesamte Geschichtswissenschaft einzuführen, auch wenn die Beispiele überwiegend aus dem Bereich der Neueren Geschichte gewählt wurden: das 17. Jahrhundert, die Amerikanische und die Französische Revolution, die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, aber auch Bismarck, der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik nehmen einen prominenten Platz ein, Gegenständliches wird meist mit dem ergiebigen Heidelberger Baubestand unterlegt. Dabei wird besonders deutlich, daß sich das Unternehmen Heidelberger Vorlesungen verdankt, wo der "Blick aus dem Fenster" manches erläutern konnte. Ohne Zweifel gelingt dem Verfasser aber ein anschaulicher Einstieg in sein Thema.
Seit Droysens erwähntem "Grundriß" ist das Programm der "Historik" etabliert, und auch Sellin folgt dieser Vorgabe: Methodik - Systematik - Topik. Da geht es um Tatsachen als historische Urteile, die gezielte Befragung der Quellen, die Frage nach "der" historischen Methode, Verstehen und Erklären, die Sprache des Historikers, die Objektivität. Aber auch praktische Fragen werden eingeschoben: Archive und Bibliotheken oder die "wissenschaftliche Literatur" und der Umgang mit Quelleneditionen. Mit "Typus und Struktur", "oral history" und "Mentalitäten und Ideologien" betritt der Verfasser das Feld der neueren Theoriediskussion. Nun könnte man zu all diesen Themen tief in die Literatur der letzten 150 Jahre eintauchen, um Wandel oder auch Konstanz zwischen Niebuhr und Ranke einerseits und den zeitgenössischen Historikern andererseits herauszuarbeiten. Diesem Verfahren entzieht Sellin sich konsequent, er wählt statt dessen einen Zugang, den er "argumentativ" nennt. Er glaubt, sich eines Verfahrens bedienen zu können, das beim (vermutlich doch studentischen) Leser nichts voraussetzt als die Bereitschaft, sich der Argumentation des Verfassers anzuvertrauen und die "Suche nach brauchbaren Lösungen" aufzunehmen. Das spiegelt eine falsche Offenheit der Lösung vor, tatsächlich weist der Verfasser seine Leser immer wieder auf seinen richtigen Weg, aber auch auf das Abwegige hin, das vermieden werden sollte.
So entsteht eine etwas artifizielle Atmosphäre, wenn neben viel Alltagslogik immer wieder historische Begriffe - freilich ohne jeden Kontext - erläuternd herangezogen werden, die dem Leser vermutlich nicht bekannt sein werden. Die Erörterungen etwa zur Deutung der Absichten Ludwigs XIV. bei Eröffnung des Feldzugs von 1688 wird ein Studienanfänger kaum richtig einordnen können. Ebenso wird er sich der Führung des Verfassers durch die ausführliche Restaurations- bzw. Stabilitätsdiskussion für die nachrevolutionäre Epoche wohl oder übel anvertrauen müssen, andernfalls ist er verloren. Insofern ist mit dem Konzept eines voraussetzungslosen Argumentierens über Geschichtswissenschaft ein problematischer Weg beschritten worden. Die vom Verfasser als Mittelweg anvisierte Balance zwischen der abstrakten Theorie und der reinen Sachdarstellung wird oft zu einem letztlich vom Verfasser vorgegebenen Weg durch die Neuere Geschichte.
Ohne Zweifel greift diese Einführung wichtige Probleme auf, zwei wesentliche Perspektiven vermißt man jedoch. Getreu seinem Programm, möglichst wenig Autoritäten heranzuziehen, sondern den fiktiven Leser selbst (mit-)argumentieren zu lassen, mangelt es dieser Einführung in die Geschichtswissenschaft an der historischen Dimension. Mit Verweis auf Descartes' (zu) optimistische Bemerkung zum gesunden Menschenverstand wird der Eindruck erweckt, als erschließe sich der vom Verfasser entwickelte Zugang jedem vernünftig denkenden Menschen, wenn er sich nur recht bemühe. Damit wird einer riskanten Enthistorisierung der Geschichtswissenschaft das Wort geredet. Nicht etwa, weil der gute Historiker sich unbedingt in der Geschichte seines Fachs auskennen muß, sondern weil erst die Einsicht in die sich entwickelnden Motive und Verfahren der Menschen zu historischer Vergegenwärtigung den Blick schulen können für die Problemlagen, die uns heute beschäftigen.
Bekanntlich unterlag die Beschäftigung mit Geschichte seit der frühen Neuzeit dramatischen Veränderungen: Die Aufgabe der exemplarischen Geschichte im Sinne der "historia magistra vitae", die Entdeckung der historischen Entwicklung und damit der "Geschichte" als substantivischer Begriff, die als revolutionär empfundene, methodisch kontrollierte, genetisch verfahrende Arbeitsweise des Historismus, die aus den Umbrüchen des späten 19. Jahrhunderts zu deutende Historismuskritik, ganz zu schweigen von den Innovationen und Irrungen dieses Jahrhunderts, all dies ist dieser Einführung kein eigentliches Thema. Manchmal berührt sie einzelne dieser Fragestellungen, aber sie preßt sie in das "argumentative" Grundmuster und nimmt ihnen damit ihre Historizität. Gerade die aktuelle Diskussion der Geschichtswissenschaft kann aber auf die Thematisierung der Geschichte unserer eigenen Disziplin nicht verzichten. Es geht immer weniger um die Ermittlung der reinen Tatsachen, immer wichtiger wird die komplizierte Geschichte von Rezeptionen und Deutungsgeschichten, von Zitatketten und Inszenierungen, die Geschichte der Konstruktion historischer Mythen und ihrer Wirkungen, die sich gerade in diesen Jahren so unbarmherzig aufdrängen. Für diese Sicht der Geschichte bedarf es mehr denn je einer fundierten Kenntnis der Grundzüge der Historiographie.
Natürlich wird man von einer knappen Einführung nicht die Berücksichtigung aller Fragen erwarten dürfen, auch nicht der neueren Diskussion, aber es geht um die Perspektiven, die man mit einem solchen Text dem Leser eröffnen kann. In Hinsicht auf die neuere Methodendiskussion verhält sich die Einführung eher zurückhaltend, gibt sich letztlich verfasserzentriert. Damit soll die dem Unternehmen eigene Art bezeichnet werden, die komplizierten älteren und neueren Diskussionsstränge wegzublenden und stark die eigene Argumentation in den Mittelpunkt zu stellen.
Demgegenüber kommt es gerade für den Historiker darauf an, das komplexe Ineinanderverwobensein von Tatsachen, Deutungen, Prozessen und kontroversen Interpretationen zu entwirren. Mit Mentalität und Ideologie werden zwar Fragen der neueren Debatte ansatzweise einbezogen, doch die Diskussion um Erfahrungs- und Alltagsgeschichte oder Mikrohistorie wird nicht beachtet. Wieder soll hier nicht aus enzyklopädischen Gründen das Fehlen vermerkt werden, wichtiger scheint die sich hinter den Begriffen auftuende Diskussion um eine neue Geschichtswissenschaft. Unter dem Druck postmoderner Fragestellungen (Dezentrierung, linguistic turn etc.) und dem Bedürfnis nach der je eigenen Geschichte sozialer, ethnischer oder religiöser Gruppen hat sich eine zunehmende Partikularisierung der Geschichtswissenschaft ergeben, die die Frage ihrer Funktion und der regulativen Funktion des klassischen Objektivitätsaxioms in neuer Weise stellt.
Zu Beginn will Sellin den Leser für sein Verfahren einnehmen, indem er sagt, das Reiten lerne man, indem man reite, der Reitlehrer gebe nur Ratschläge, wie man das Pferd in die Hand bekomme. Den Rezensenten, der über einige Erfahrung in der Reiterei wie in der Geschichte verfügt, hat das Bild nicht recht überzeugt. Wenn man reiten lernt, hat man immerhin ein Pferd, das einen trägt oder abwirft. Wenn man noch keine Geschichte kennt, deren Verfahren aber nur argumentativ-selektiv entwickelt werden, wird man Mühe haben, sie in die Hand zu bekommen.
Volker Sellin: "Einführung in die Geschichtswissenschaft". Verlag Vanden hoeck & Ruprecht, Göttingen 1995. 223 S., kt., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Volker Sellins Reitlehre für Anfänger / Von Winfried Schulze
Man wird den historischen Studien die Anerkennung nicht versagen, daß auch sie in der lebhaften wissenschaftlichen Bewegung unseres Zeitalters ihre Stelle haben, daß sie tätig sind, Neues zu entdecken, das Alte neu zu durchforschen, das Gefundene in angemessener Weise darzustellen." Als Johann Gustav Droysen 1858 mit diesen Worten seinen "Grundriß der Historik" eröffnete, ging es ihm darum, die für ihn defizitäre "wissenschaftliche Rechtfertigung" historischen Forschens zu liefern. Mit Droysens - damals wenig populären - Vorlesungen zur "Enzyklopädie der Geschichte" war das Grundmuster für alle nachfolgenden Einführungen in die Grundfragen historischen Arbeitens gegeben.
Die vorliegende Einführung trifft in eine veränderte Situation der Geschichtswissenschaft. Ihr Ton hat sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt. Während in den siebziger Jahren scharfe Auseinandersetzungen die Szene prägten, hat sich in den letzten Jahren ein Pragmatismus durchgesetzt, der unaufgeregt und vom eigenen Tun überzeugt das Geschäft des Historikers betreiben läßt. Nicht zuletzt die wieder etablierte gesellschaftliche Funktion der Geschichtswissenschaft hat dazu einen Beitrag geliefert: Auf der Basis öffentlicher Anerkennung und guter Verkaufszahlen historischer Werke, steigender Besucherzahlen historischer Ausstellungen und eines allenthalben spürbaren Interesses an historischer Vergegenwärtigung ist die Lust auf grundlegende Auseinandersetzungen geringer geworden, wenn nicht vergangen.
Gewiß wird solcher Pragmatismus auch durch die Binnenentwicklung der Geschichtswissenschaft gefördert. Nicht mehr der "Kampf" zwischen Politik- und Sozialgeschichte bestimmt die Szene, vielfältige Sonderrichtungen historischen Forschens haben sich ihre Nischen erobert, haben Zeitschriften gegründet, haben damit auch die Diskussionslagen undeutlich gemacht und die Grenzen zwischen methodisch Solidem und eher Suspektem verfließen lassen. Werner Conzes Wort von der "Sozialgeschichte in der Erweiterung" von 1974 ist geradezu zum Programm des Fachs geworden, immer neue Themen werden entdeckt, generieren kleine Arbeitskreise, finden Anhänger und drängen mit ihren Forschungsergebnissen auf den unnübersehbar gewordenen Markt. All dies zunächst Widersprüchliche hat aber die kürzlich formulierte Einsicht gefördert: "Geschichte hat im Getümmel an Wichtigkeit gewonnen."
Für den - übrigens erheblich gewachsenen - akademischen Markt hat sich eine neue Situation ergeben, die gerade im Vergleich mit den sechziger und siebziger Jahren ins Auge fällt. War man damals auf wenige, anspruchsvolle Werke (etwa Theodor Schieder und Karl Georg Faber) angewiesen, wenn man sich in die Geschichtswissenschaft einführen lassen wollte, so ist das Angebot heute erheblich reichhaltiger, aber auch viel pragmatischer geworden. Fast alle Spezialdisziplinen (Wirtschaftsgeschichte, Mittelalterliche und Neuere Geschichte, Zeitgeschichte, Osteuropäische Geschichte usw.) verfügen über eigene Einführungen, die meist inhaltliche Schwerpunkte und methodische Zugriffe mischen. Von daher mag man sich fragen, ob eine "Einführung in die Geschichtswissenschaft" noch ihren Platz finden kann. Die Reflexion über das Gesamtfach Geschichte im Sinne einer "Historik" hat sich von den eben genannten fachlichen "Einführungen" weitgehend getrennt, die Methodendiskussion konzentriert sich weniger auf Grundsätzliches, sondern vertieft sich eher in bestimmte Verfahren zur Auswertung bestimmter Quellengruppen, die für ein bestimmtes Thema wichtig sind, während die Relevanzfrage kaum mehr diskutiert wird.
In dieser offenen Situation unternimmt der Heidelberger Neuzeithistoriker Volker Sellin den Versuch, auf etwa 200 Seiten in die gesamte Geschichtswissenschaft einzuführen, auch wenn die Beispiele überwiegend aus dem Bereich der Neueren Geschichte gewählt wurden: das 17. Jahrhundert, die Amerikanische und die Französische Revolution, die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, aber auch Bismarck, der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik nehmen einen prominenten Platz ein, Gegenständliches wird meist mit dem ergiebigen Heidelberger Baubestand unterlegt. Dabei wird besonders deutlich, daß sich das Unternehmen Heidelberger Vorlesungen verdankt, wo der "Blick aus dem Fenster" manches erläutern konnte. Ohne Zweifel gelingt dem Verfasser aber ein anschaulicher Einstieg in sein Thema.
Seit Droysens erwähntem "Grundriß" ist das Programm der "Historik" etabliert, und auch Sellin folgt dieser Vorgabe: Methodik - Systematik - Topik. Da geht es um Tatsachen als historische Urteile, die gezielte Befragung der Quellen, die Frage nach "der" historischen Methode, Verstehen und Erklären, die Sprache des Historikers, die Objektivität. Aber auch praktische Fragen werden eingeschoben: Archive und Bibliotheken oder die "wissenschaftliche Literatur" und der Umgang mit Quelleneditionen. Mit "Typus und Struktur", "oral history" und "Mentalitäten und Ideologien" betritt der Verfasser das Feld der neueren Theoriediskussion. Nun könnte man zu all diesen Themen tief in die Literatur der letzten 150 Jahre eintauchen, um Wandel oder auch Konstanz zwischen Niebuhr und Ranke einerseits und den zeitgenössischen Historikern andererseits herauszuarbeiten. Diesem Verfahren entzieht Sellin sich konsequent, er wählt statt dessen einen Zugang, den er "argumentativ" nennt. Er glaubt, sich eines Verfahrens bedienen zu können, das beim (vermutlich doch studentischen) Leser nichts voraussetzt als die Bereitschaft, sich der Argumentation des Verfassers anzuvertrauen und die "Suche nach brauchbaren Lösungen" aufzunehmen. Das spiegelt eine falsche Offenheit der Lösung vor, tatsächlich weist der Verfasser seine Leser immer wieder auf seinen richtigen Weg, aber auch auf das Abwegige hin, das vermieden werden sollte.
So entsteht eine etwas artifizielle Atmosphäre, wenn neben viel Alltagslogik immer wieder historische Begriffe - freilich ohne jeden Kontext - erläuternd herangezogen werden, die dem Leser vermutlich nicht bekannt sein werden. Die Erörterungen etwa zur Deutung der Absichten Ludwigs XIV. bei Eröffnung des Feldzugs von 1688 wird ein Studienanfänger kaum richtig einordnen können. Ebenso wird er sich der Führung des Verfassers durch die ausführliche Restaurations- bzw. Stabilitätsdiskussion für die nachrevolutionäre Epoche wohl oder übel anvertrauen müssen, andernfalls ist er verloren. Insofern ist mit dem Konzept eines voraussetzungslosen Argumentierens über Geschichtswissenschaft ein problematischer Weg beschritten worden. Die vom Verfasser als Mittelweg anvisierte Balance zwischen der abstrakten Theorie und der reinen Sachdarstellung wird oft zu einem letztlich vom Verfasser vorgegebenen Weg durch die Neuere Geschichte.
Ohne Zweifel greift diese Einführung wichtige Probleme auf, zwei wesentliche Perspektiven vermißt man jedoch. Getreu seinem Programm, möglichst wenig Autoritäten heranzuziehen, sondern den fiktiven Leser selbst (mit-)argumentieren zu lassen, mangelt es dieser Einführung in die Geschichtswissenschaft an der historischen Dimension. Mit Verweis auf Descartes' (zu) optimistische Bemerkung zum gesunden Menschenverstand wird der Eindruck erweckt, als erschließe sich der vom Verfasser entwickelte Zugang jedem vernünftig denkenden Menschen, wenn er sich nur recht bemühe. Damit wird einer riskanten Enthistorisierung der Geschichtswissenschaft das Wort geredet. Nicht etwa, weil der gute Historiker sich unbedingt in der Geschichte seines Fachs auskennen muß, sondern weil erst die Einsicht in die sich entwickelnden Motive und Verfahren der Menschen zu historischer Vergegenwärtigung den Blick schulen können für die Problemlagen, die uns heute beschäftigen.
Bekanntlich unterlag die Beschäftigung mit Geschichte seit der frühen Neuzeit dramatischen Veränderungen: Die Aufgabe der exemplarischen Geschichte im Sinne der "historia magistra vitae", die Entdeckung der historischen Entwicklung und damit der "Geschichte" als substantivischer Begriff, die als revolutionär empfundene, methodisch kontrollierte, genetisch verfahrende Arbeitsweise des Historismus, die aus den Umbrüchen des späten 19. Jahrhunderts zu deutende Historismuskritik, ganz zu schweigen von den Innovationen und Irrungen dieses Jahrhunderts, all dies ist dieser Einführung kein eigentliches Thema. Manchmal berührt sie einzelne dieser Fragestellungen, aber sie preßt sie in das "argumentative" Grundmuster und nimmt ihnen damit ihre Historizität. Gerade die aktuelle Diskussion der Geschichtswissenschaft kann aber auf die Thematisierung der Geschichte unserer eigenen Disziplin nicht verzichten. Es geht immer weniger um die Ermittlung der reinen Tatsachen, immer wichtiger wird die komplizierte Geschichte von Rezeptionen und Deutungsgeschichten, von Zitatketten und Inszenierungen, die Geschichte der Konstruktion historischer Mythen und ihrer Wirkungen, die sich gerade in diesen Jahren so unbarmherzig aufdrängen. Für diese Sicht der Geschichte bedarf es mehr denn je einer fundierten Kenntnis der Grundzüge der Historiographie.
Natürlich wird man von einer knappen Einführung nicht die Berücksichtigung aller Fragen erwarten dürfen, auch nicht der neueren Diskussion, aber es geht um die Perspektiven, die man mit einem solchen Text dem Leser eröffnen kann. In Hinsicht auf die neuere Methodendiskussion verhält sich die Einführung eher zurückhaltend, gibt sich letztlich verfasserzentriert. Damit soll die dem Unternehmen eigene Art bezeichnet werden, die komplizierten älteren und neueren Diskussionsstränge wegzublenden und stark die eigene Argumentation in den Mittelpunkt zu stellen.
Demgegenüber kommt es gerade für den Historiker darauf an, das komplexe Ineinanderverwobensein von Tatsachen, Deutungen, Prozessen und kontroversen Interpretationen zu entwirren. Mit Mentalität und Ideologie werden zwar Fragen der neueren Debatte ansatzweise einbezogen, doch die Diskussion um Erfahrungs- und Alltagsgeschichte oder Mikrohistorie wird nicht beachtet. Wieder soll hier nicht aus enzyklopädischen Gründen das Fehlen vermerkt werden, wichtiger scheint die sich hinter den Begriffen auftuende Diskussion um eine neue Geschichtswissenschaft. Unter dem Druck postmoderner Fragestellungen (Dezentrierung, linguistic turn etc.) und dem Bedürfnis nach der je eigenen Geschichte sozialer, ethnischer oder religiöser Gruppen hat sich eine zunehmende Partikularisierung der Geschichtswissenschaft ergeben, die die Frage ihrer Funktion und der regulativen Funktion des klassischen Objektivitätsaxioms in neuer Weise stellt.
Zu Beginn will Sellin den Leser für sein Verfahren einnehmen, indem er sagt, das Reiten lerne man, indem man reite, der Reitlehrer gebe nur Ratschläge, wie man das Pferd in die Hand bekomme. Den Rezensenten, der über einige Erfahrung in der Reiterei wie in der Geschichte verfügt, hat das Bild nicht recht überzeugt. Wenn man reiten lernt, hat man immerhin ein Pferd, das einen trägt oder abwirft. Wenn man noch keine Geschichte kennt, deren Verfahren aber nur argumentativ-selektiv entwickelt werden, wird man Mühe haben, sie in die Hand zu bekommen.
Volker Sellin: "Einführung in die Geschichtswissenschaft". Verlag Vanden hoeck & Ruprecht, Göttingen 1995. 223 S., kt., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main