Durchaus mit systematischer Gründlichkeit geht H. M. E. vor, legt die allgemeinen, mathematischen Grundlagen dar, betrachtet historische, linguistische, literarische und medientheoretische Gesichtspunkte, macht sich über die Grenzen seines Programms keine Illusionen und gibt einen Ausblick auf vielleicht perfektere Versionen, für die er Programmierern schon einmal sachdienliche Hinweise gibt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2002Der Türke im Automaten oder Die verborgene Regel
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne und jedem Schluß ein Provisorium: Über einige Erfahrungen beim Schreiben von Lyrik / Von Harald Hartung
Eine politische Journalistin, an klassischer Musik interessiert, schrieb einem Lyriker von Rang: "Ich mache mir nichts aus Gedichten, aber schon gar nichts aus Lyrik." Der derart angemachte Autor notierte nüchtern: "Sie unterschied also diese beiden Typen." Gottfried Benn - denn er war der Adressat - erwähnt dies in seiner berühmt gewordenen Marburger Rede "Probleme der Lyrik". Ein zentraler Satz daraus lautet: "Das neue Gedicht, die Lyrik, ist ein Kunstprodukt." Eine über fünfzig Jahre alte These; doch an ihrer Wahrheit hat sich nichts geändert. Noch immer ist die Lyrik ein Kunstprodukt, was ihr einen leichten Stich ins Synthetische gibt. Wir bleiben also bei der Lyrik und beim Lyriker, denn sonst müßten wir uns Dichter nennen; ein Ehrentitel, der neuerdings wieder leichthin vergeben wird. Da halte ich es lieber mit Hilde Domin, die den Lyriker in die solide Nähe der Chemiker, Physiker, Mathematiker rückt. Ich denke eher noch an den Erfinder eines Fakes, an die Geschichte vom ersten Schachautomaten.
Der berühmte Automatenbauer Baron von Kempelen hatte ihn konstruiert und an den Wiener Musiker Mälzel für dessen Schaustellungen verkauft. Der Automat war ein großer, tuchüberschlagener Kasten, darin der Schachspieler in Gestalt eines Türken saß, der tatsächlich hervorragend Schach spielte. Vor jeder Demonstration leuchtete Mälzel ins Kasteninnere, um zu belegen, daß kein Mensch, sondern bloß Stangen und Zahnräder darin waren. War der Türke am Zug, machte er mit dem linken Arm ruckartige Bewegungen, die einen Mechanismus vortäuschten. In Baltimore mag Edgar Allan Poe den Automaten gesehen haben. Poe hat jedenfalls 1836 einen Essay über das Problem einer schachspielenden Maschine geschrieben, "Mälzels Schachspieler". Darin weist er nach, daß in der Maschine ein Mensch verborgen sein mußte, wenn auch in unbequemer Lage. Mehr noch, er schritt zur Frage fort, nach welchem Prinzip eine schachspielende Maschine zu konstruieren wäre, und zu der Hypothese, bestimmte Erweiterungen würden sie befähigen, alle Spiele zu gewinnen.
Nun haben wir bereits Schachcomputer, die gegen Großmeister eine Chance haben, und besitzen - dank Enzensberger - auch einen Poesie-Automaten, der mit Hilfe eines Zufallsgenerators Texte auswirft, die es mit manch konventionell erzeugter Lyrikware aufnehmen können. Freilich hat man nicht gehört, daß Enzensberger das Dichten aufgegeben hat, und auch Poe hat seinerzeit der Versuchung widerstanden, seine poetologische Überlegung auf einen Automaten zu richten.
Er hätte sonst nicht die Kriminalgeschichte erfunden; und auch nicht - in Analogie zum perfekten Mord - das perfekte Gedicht. Poe dürfte den Satz des Novalis nicht gekannt haben, wonach Schönheit "ein Erzeugnis von Vernunft und Calcul" ist, aber er handelte danach oder gab doch vor, es zu tun. Das entscheidende Dokument ist seine "Philosophy of Composition" von 1846. Dort wendet er sich gegen die Auffassung, Poesie entstehe aus dem schönen Wahn oder entrückter Inspiration. Er setzt dagegen, was er den "modus operandi" nennt, das heißt eine methodische Herstellung, und demonstriert sie an der Verfertigung seines Gedichts "The Raven" (Der Rabe). Er sagt: "Meine Absicht ist, eindeutig festzustellen, daß sich keine Einzelheit dieses Gedichts aus Zufall oder Intuition ergeben hat; es entstand vielmehr, Schritt um Schritt bis zum Abschluß, mit der Präzision und der ungebrochenen Folgerichtigkeit einer mathematischen Berechnung."
Der geniale Einfall Poes bestand darin, die von der älteren Poetik angenommene Reihenfolge der dichterischen Akte umzukehren: Was Resultat scheint, die Form, ist somit der Ursprung des Gedichts. Der Anfang des dichterischen Prozesses ist für Poe die Wahl des Umfangs, des Effekts, eines gewissen Tons - und dann erst des Themas, das nach den älteren Regeln am Anfang stünde. Poes Schlußfolgerung wirkt wie ein Rezept: "Nun hatte ich also zwei Vorstellungen miteinander zu verbinden: die eines Liebenden, der den Tod seiner Geliebten beklagt, und die eines Raben, der ständig das Wort ,nevermore' wiederholt."
Nun - so könnte man meinen - war nur noch das Gedicht selbst zu schreiben. Aber künstlerisch fängt ja die Sache erst an. Wollen wir Poe seinen Entstehungsbericht abnehmen? Oder haben wir eine seiner Kriminalgeschichten vor uns, übertragen auf den Bereich der ästhetischen Theorie? Entscheidend ist: Der Lyriker Poe wartete nicht auf einen Schach- oder Poesie-Automaten. Er nahm die Sache selbst in die Hand und insinuierte, poetische Perfektion sei eine Frage der poetologischen Reflexion. Er mimte selbst den Türken. Und da auch ich nicht auf das Schachspiel, sondern auf die Lyrik hinauswill, lautet meine These: In jedem Gedicht, so artifiziell es sich gibt, sitzt ein Mensch. Die ruckartigen Bewegungen, die Mechanik vortäuschen, sind die Bewegungen der Poetologie.
War Poes "Philosophy" eine Mystifikation, seine Vorstellung von der totalen Machbarkeit eine Falle? Wenn ja, dann tappten auch Paul Valéry und Gottfried Benn hinein oder taten doch so.
Sagen wir es bescheidener: Lyrik ist also auch Handwerk, immer noch Werk der Hände. Dem Romanautor verübelt niemand, daß er von Thema, Plot und Hauptfiguren redet - das sind solide Begriffe. Sie setzen einen Plan, ein Konzept voraus, eine bestimmte Abfolge der Kapitel, womöglich ein graphisches Schaubild - man kennt dergleichen von Doderer oder Johnson, detailreich, gar farbig illuminiert. Und der Lyriker? Er soll wohl singen, wie der Vogel singet. Ganze Serien von Selbstinterpretationen haben das Klischee nicht beseitigt, daß des Dichter Aug' immer noch im schönen Wahnsinn rollt. Selbst Kritiker mißtrauen der poetologischen Reflexion, sie hätten sonst nicht das Wort "Kopflastigkeit" erfunden. Nun wird man dort, wo es an Köpfen nicht mangelt, über solche Vorurteile hinweg und zur Tagesordnung übergehen. Diese will ich durch ein paar Fragen bezeichnen: Woher kommen Gedichte, und kann man Gedichte planen? Was ist ihr Stoff? Kommen sie aus der Sprache oder aus der Welt? Geht die Form dem Gehalt voraus oder umgekehrt? Wann arbeitet man mit freien, wann mit vorgegebenen Formen? Kann man heute noch reimen? Wie steht das einzelne Gedicht zum Zyklus und wie der Zyklus zum Buch? Der Romancier schreibt Romane, der Dichter Gedichtbände. Er selbst ist ihr Protagonist.
Doch wer ist der Dichter? "Le poète - c'est moi"; derjenige, der hier schreibt und seine Schwierigkeit hat, "Ich" zu sagen. Zum Glück ist dieses Ich nicht privat, sondern, mit Rimbauds berühmter Formel, ein anderer - hilfsweise "lyrisches Ich" benannt. Unter dieser Maske rede ich über Erfahrungen beim Schreiben von Lyrik. Doch wer Erfahrung sagt, hat schon geschrieben und veröffentlicht. Warum also nicht gleich beim Weiterschreiben beginnen? Da ist der hermeneutische Kreisel schon in Schwung. Weiterschreiben ist zudem das probate Remedium für die Frage: Warum nicht aufhören?
Zunächst aber: Wie schreibt man weiter? Im Frühjahr 1996 erschien mein Band "Jahre mit Windrad". Für den Autor nicht bloß das Dokument einer Arbeitsphase, sondern auch das der historischen Zäsur von 1989, präsentiert mit gehöriger Verzögerung. Geschichte braucht Zeit, eh sie - wie man so schön sagt - ihren Niederschlag im Gedicht findet. Dafür ein Beispiel aus der Gedichtgruppe "In der Nähe der Glienicker Brücke", aus dem Jahr 1992:
Zu den Akten
Wir wissen, sagt der Mann, grinst und fixiert mich
wir wissen alles über Sie! (Soll wohl
ein schlechter Scherz sein, denk ich an dem Abend
vor wieviel? dreizehn Jahren; rätsele
daran herum bis ichs vergesse) Gestern
in eine Menge Leute eingeklemmt
(der Redner langweilte) von irgendwo
fühl ich mich angestarrt: es war von damals
der Mann, ich kenn ihn unter Tausenden
Ich seh ihn fragend an, er weicht mir aus
als wüßte ich nun alles über ihn.
Der Text - in prosanahen Blankversen - ist eine lyrische Nachschrift: die Begegnung mit einem IM aus der West-Berliner Kulturszene ist authentisch. Der Autor hat die Situation und ihre untergründige Symbolik sprechen lassen. Bei dem Titel "Zu den Akten" darf der Leser, außer an die Gauck-Behörde, auch an den gleichnamigen Gedichtband von Günter Eich denken.
Nicht zu verkennen ist, daß Lyrik hier als Biographie traktiert wird. Gedichte als Selberlebensbeschreibung ist das Stichwort. Mein Stichwort. Ich bemühe dazu zwei Eideshelfer: Giuseppe Ungaretti, für das Pathos von Biographie, und Philip Larkin, für seine Ernüchterung. Mich hat immer Ungarettis Wort bewegt, der Ehrgeiz des Dichters sei seine schöne Biographie.
Lyrik kann eine nüchterne Wahrheit haben; aber auch die wird immer paradox sein, eben weil sie zugleich Poesie ist. Deshalb liebe ich auch die kaustische Nüchternheit Philip Larkins: "Ich glaube, ich versuche immer, die Wahrheit zu schreiben, und würde kein Gedicht schreiben wollen, das suggerierte, daß ich ein anderer sei als der, der ich bin (. . .) Nehmen Sie zum Beispiel Liebesgedichte. Ich würde es als falsch empfinden, ein Gedicht zu schreiben, das vor Liebe für jemanden überschäumt, wenn man nicht gleichzeitig die Person heiratet und mit ihr einen Hausstand gründet."
Wie Poe benötigt auch Larkin eine Produktionshypothese, ohne die kein Lyriker auskommt. Sie liefert ihm ein Phantom, dem er lebenslänglich nachläuft. Sie ermöglicht, nach allen Anfängen, das Weiterschreiben. Sie führt hinein in die Fragen des Handwerks, führt hinein in die Dialektik von Machen und Entstehenlassen. Mein erstes Stichwort dazu heißt Notizbuch. "Nur keine Notizen, keine verräterischen Einblicke", meinte Gottfried Benn und verriet so, wie wichtig Notate und Vorarbeiten sind. Aber auch: aus welch unscheinbaren Formulierungen Gedichte hervorgehen können, welch peinliche Erdenreste dem ausgeglühten Gebilde vorangehen.
Gedichte kommen also selten aus heiterem Himmel, eher von einem Zettel auf dem Nachttisch. Auf einem dieser Zettel lese ich die Zeile: "Oft fehlt ein einziges Korn den Uhren der Toten." Rätselvoll genug ist sie. 13 Silben, leicht rhythmisiert. Aber sind sie auch verwendbar in einem Gedicht? Vielleicht ließe sich ein Kontext, eine Erweiterung finden. Wahrscheinlich ist es falsch, diesen Keim dem Licht der Öffentlichkeit zu exponieren. Er könnte im Notizheft oder auf einem PC-Speicherplatz ruhen wie andere Zeilen, Reimpaarungen, Schnappschüsse, Epiphanien. Das Entscheidende ist das produktive Chaos dieser Notizen, ihr Nichtgeordnetsein. Nur keine Systematik. Nur keine Zensur, das heißt keine Frage nach der Qualität. Der lyrische Stoff wartet auf das punktuelle Zünden der Welt im Subjekt, wie es Friedrich Theodor Vischer nannte. Auf den Moment, wo Rilkes Vers gilt: "Die Hand ist leicht, das Werkzeug ist gestählt."
Das ist der Moment der Fähigkeit. Man hat lange in diesen Notizen geblättert, mißmutig, deprimiert, aber dann schließt sich an eine Zeile eine andere an, oder zwei Bilder treten miteinander in Beziehung, und man ist mitten in der Fabrikation. Valéry hat das unnachahmlich präzis formuliert: "Es gibt Verse, die man findet. - Die anderen macht man. - Man vervollkommnet diejenigen, die man findet. - Die andern ,naturalisiert' man. - Zwei Manöver in entgegengesetzter Richtung, um die Fälschung zu erreichen: die ,Vollkommenheit'."
Aber damit ist die Frage nicht berücksichtigt, ob die beiden Manöver sich auf einen Plan beziehen, auf ein Konzept, das bereits bestand oder sich jetzt, im aktuellen Prozeß, entwickelt. Sieht das, was ich da zu machen im Begriff bin, nach einem künftigen Sonett aus und - wenn ja - soll es also eins werden? Oder - schwieriger und weiter gezielt - soll aus diesem entstehenden Text ein weiteres Sonett in jener Reihe werden, die ich schon begonnen habe? Ich weiß, daß etliche Lyriker das Sonett nicht mögen. Aber es ist das Modell für vorgegebene Form, Exempel für lyrische Planung. Will sagen: Man schreibt nicht nur das, was kommt, nämlich im Suchen, Finden und Machen; man schreibt auch, was man schreiben möchte, im Planen und Konstruieren. Wer dabei die Poesie selbst kommandieren lassen will oder auf den Primat des Erlebens, der Erfahrung, der persönlichen Biographie setzt, wird nicht - wie es etwa die dänische Lyrikerin Inger Christensen in seiner "Systemdichtung" tut - nach äußeren, etwa naturwissenschaftlichen Gesetzen, sondern nach Prinzipien in der Poesie selbst suchen; nach ästhetischen Momenten wie Zahl, Proportion, Klang, Rhythmus, Bild und Logos. Ich komme in diesem Kontext aufs Sonett zurück - auch aus dem Grund, weil es die Frage nach dem Reim aufwirft.
Der Reim ist - maritim und mit Karl Kraus gesprochen - das "Ufer, wo sie landen, / sind zwei Gedanken einverstanden". Was noch der reimende Dilettant beweist. Das Selbstgereimte ist der Versuch, diese Identität - und damit die eigene - sprachlich zu retten. Den Artisten reizt die Diskrepanz, die Möglichkeit, aus der Differenz der Gedanken Funken zu schlagen. Das heißt: Ironie wird unvermeidlich. Kein Zweifel aber auch, daß Ironie eine Schwundstufe von Pathos ist und daß dem Fremdwort in dieser Pathosreduktion eine wichtige Rolle zugewiesen ist. Gottfried Benn hat diese Möglichkeit exzessiv genutzt, aber er war wohl auch der letzte, der, um den Preis von Sentiment und Sentimentalität, den Reim als Form von Ernst, ja Pathos eingesetzt hat.
Mein Beispiel betreibt diese ironische Reduktion auch in der Verkürzung seiner Zeilen. Das Sonett wird zum ironischen Lied.
Satura
Der Puls ist noch palbabel
das Hirn noch sporogen
Doch zwischen Kalb und Kabel
will uns kein Gott erstehn
Schon leichtes Magendrücken
verändert den Diskurs
Wir sehen in den Lücken
den Schatten des Komturs
Vom Ein- zum Appenzeller
da war wohl ein Moment
als würde alles heller
Nun lesen wir die Daten
die uns an uns verraten
als unser Testament
Auch Kommunikation verfällt dieser Ironie, ist aber in ihr - säkularisiert - vielleicht noch einmal möglich. Wir sind die Gefangenen unserer Daten - unsere Codes sind unsere Testamente. Auch der Titel zielt auf die "Fülle" in der Ironie. "Satura" ist ursprünglich eine der Ceres dargebrachte Schüssel mit mannigfaltigen Erstlingsgaben (lanx satura). Von daher wird "satura" kulinarisch zum Mischgericht, zum "Allerlei", zur volkstümlichen dramatischen Mischform, schließlich zur beißenden oder lächelnden Satire im Sinne Horaz', Martials oder Iuvenals. Auch die Moderne kennt Satura, Satire. Eugenio Montale hat 1971 den Band, der sein Alterswerk eröffnet, "Satura" betitelt.
Andererseits liegt der Schluß nahe, daß die ernsten Töne ohne das Reimspiel auskommen müssen. Aber kommen sie ohne Versmaß aus? Verstheorie gilt als besonders unmusisch; dabei hat sie es gerade mit der Musik der Verse zu tun. Was aber kann an die Stelle des Reims und der abgemessenen Metren treten? Es ist eine alte Frage, seit Klopstock. Seit vierzig, fünfzig Jahren dominiert bei uns der freie Vers, der seine rhythmische Figur Zeile um Zeile neu findet, manchmal aber nur zu Zeilen abgeteilte Prosa ist, Flattersatz, wie der Drucker sagt. Dieser vers libre setzt nicht weniger Meisterschaft voraus als jede gebundene Form. Er spielt mit der Möglichkeit, Prosa in Vers und Vers in Prosa übergehen zu lassen. Doch ebendiese Geschmeidigkeit bietet der Willkür Vorschub. Zumal es das Prinzip des Freiverses ist, daß die Form an sich keinen Widerstand bietet. Sie ist Form von Fall zu Fall, Form ex post: Das fertige Gedicht kann rhythmische oder zahlenmäßige Analogien zeigen, muß es aber nicht. Man könnte also boshaft sagen: "Die Moderne gibt sich mit wenig zufrieden." Das war, wieder einmal, Valéry.
Was soll die Pointe dieser Bemerkungen zur Metrik sein? Ich zitiere eine Stelle aus Valérys "Cahiers". Er spricht dort von einem, wie er sagt, kaum bekannten ästhetischen Paradox: "Die äußerste Verschwisterung der Form mit dem Inhalt wird am besten verwirklicht, indem der Form Bedingungen auferlegt werden, willkürliche, präzise, von außen kommende - jedoch verborgen - , denen sich dann auch der Inhalt beugen muß - so wie ein Körper in einem Kraftfeld oder in einem gekrümmten Raum." Die Stelle ist zunächst so unerhört nicht, denn Valéry variiert einen Gedanken, der paradigmatisch aufs Sonett zutrifft. Was mich sensationiert, ist nicht der Preis der Regeln und ihrer zeugenden Willkür, sondern die Parenthese im eben zitierten Satz, das "jedoch verborgen".
Regeln ja - aber verborgene! Regeln, die auch der geübte Leser nicht sofort erkennt (Sonett, Hexameter, Blankvers). Regeln, die dem Blick der Gewohnheit, ja selbst des Trainings entgehen. Solche Regeln - und da schlägt das vernünftige Calcul in Magie und Mystizismus um - sind auch dann wirksam, wenn der Leser sie nicht bemerkt. Diese Valéry-Stelle erscheint mir als Bestätigung einer Praxis, die ich schon lange, nämlich seit den siebziger Jahren, betreibe. Es geht um eine bestimmte Regelung der Verszeile, die man nicht hören kann, von der ich aber hoffe, daß sie sich dennoch auf irgendeine Weise dem Hörer mitteilt. Etwa im Schlußstück aus einem Zyklus von sechs Gedichten, betitelt "Blätter für Zachäus":
Am Weg die Sykomore wächst schneller
als du hinaufgelangst auf diesen Baum
dich dem milden Mann zu empfehlen
der von der Menschenmenge erwartet wird
Sie werden auf den falschen tippen auf
die Tiara oder das gelbe Trikot
Doch gesetzt du tippst auf den richtigen -
da ist noch das Handicap mit dem Baum
Auch ist der Kühlschrank leer und kein Feuer
unter dem Herd
Der Evangelist Lukas (19, 1-6) erzählt die Geschichte von Zachäus, dem obersten der Zöllner, der begehrt, Christus zu sehen, und, da er zu klein ist, auf einen Maulbeerbaum steigt. Christus, der vorbeikommt, sieht ihn und ruft ihn herab, denn er will bei ihm einkehren. Zachäus nimmt ihn mit Freuden auf; und die, die dies sehen, wundern sich, daß Christus bei einem Zöllner, einem Sünder einkehrt. Meine Variante der Zachäusgeschichte ist etwas parodistisch geraten: Das lyrische Ich scheitert schon an seiner Unfähigkeit, den Maulbeerbaum zu besteigen; von den mangelnden Küchenvorräten und dem Feuer ganz zu schweigen. Wie zu dieser negativen Parabel des Verfassers metrische Technik paßt, kann ich nicht entscheiden. Das Gedicht besteht aus zehn Zeilen, die Zeile jeweils aus zehn Silben, die keinem vorgegebenen Rhythmus folgen, sondern eben nur gezählt sind. Eine Ausnahme macht Zeile zehn; Sie hat nur vier Silben. Der Text bricht ab: "Auch ist der Kühlschrank leer und kein Feuer / unter dem Herd." Der Poet exponiert - willentlich oder unwillentlich - seine Armut. Er gibt sich eine Regel und vermag nicht einmal die letzte Zeile zu füllen. Seine Pumpen und Röhren funktionieren nicht sonderlich gut. Aber vielleicht gehört das in sein System.
Je rigider die verborgene Regel, um so größer des Autors Hoffnung, daß sie den poetischen Geist freisetzt. Calcul ist die Ersatzhandlung, die diesen Geist hervorrufen möchte. Calcul als eine andere Art Beschwörung, als ein Tanzen in Ketten. Der weise Montale überschrieb das letzte Kapitel eines seiner Bände mit "Conclusioni provvisorie" (Provisorische Schlüsse). Die beiden Gedichte, die man dort findet, heißen "Piccolo testamento" und "Il sogno del prigioniero" (Der Traum des Gefangenen). Ein wunderbares Paradox: Der Dichter will den Abschluß, das Testament, doch jeder Schluß will ins Offene, will Befreiung.
Der Autor ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Berlin und regelmäßiger Mitarbeiter dieser Zeitung. Er ist Herausgeber der Anthologie "Luftfracht. Internationale Poesie 1940 bis 1990".
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne und jedem Schluß ein Provisorium: Über einige Erfahrungen beim Schreiben von Lyrik / Von Harald Hartung
Eine politische Journalistin, an klassischer Musik interessiert, schrieb einem Lyriker von Rang: "Ich mache mir nichts aus Gedichten, aber schon gar nichts aus Lyrik." Der derart angemachte Autor notierte nüchtern: "Sie unterschied also diese beiden Typen." Gottfried Benn - denn er war der Adressat - erwähnt dies in seiner berühmt gewordenen Marburger Rede "Probleme der Lyrik". Ein zentraler Satz daraus lautet: "Das neue Gedicht, die Lyrik, ist ein Kunstprodukt." Eine über fünfzig Jahre alte These; doch an ihrer Wahrheit hat sich nichts geändert. Noch immer ist die Lyrik ein Kunstprodukt, was ihr einen leichten Stich ins Synthetische gibt. Wir bleiben also bei der Lyrik und beim Lyriker, denn sonst müßten wir uns Dichter nennen; ein Ehrentitel, der neuerdings wieder leichthin vergeben wird. Da halte ich es lieber mit Hilde Domin, die den Lyriker in die solide Nähe der Chemiker, Physiker, Mathematiker rückt. Ich denke eher noch an den Erfinder eines Fakes, an die Geschichte vom ersten Schachautomaten.
Der berühmte Automatenbauer Baron von Kempelen hatte ihn konstruiert und an den Wiener Musiker Mälzel für dessen Schaustellungen verkauft. Der Automat war ein großer, tuchüberschlagener Kasten, darin der Schachspieler in Gestalt eines Türken saß, der tatsächlich hervorragend Schach spielte. Vor jeder Demonstration leuchtete Mälzel ins Kasteninnere, um zu belegen, daß kein Mensch, sondern bloß Stangen und Zahnräder darin waren. War der Türke am Zug, machte er mit dem linken Arm ruckartige Bewegungen, die einen Mechanismus vortäuschten. In Baltimore mag Edgar Allan Poe den Automaten gesehen haben. Poe hat jedenfalls 1836 einen Essay über das Problem einer schachspielenden Maschine geschrieben, "Mälzels Schachspieler". Darin weist er nach, daß in der Maschine ein Mensch verborgen sein mußte, wenn auch in unbequemer Lage. Mehr noch, er schritt zur Frage fort, nach welchem Prinzip eine schachspielende Maschine zu konstruieren wäre, und zu der Hypothese, bestimmte Erweiterungen würden sie befähigen, alle Spiele zu gewinnen.
Nun haben wir bereits Schachcomputer, die gegen Großmeister eine Chance haben, und besitzen - dank Enzensberger - auch einen Poesie-Automaten, der mit Hilfe eines Zufallsgenerators Texte auswirft, die es mit manch konventionell erzeugter Lyrikware aufnehmen können. Freilich hat man nicht gehört, daß Enzensberger das Dichten aufgegeben hat, und auch Poe hat seinerzeit der Versuchung widerstanden, seine poetologische Überlegung auf einen Automaten zu richten.
Er hätte sonst nicht die Kriminalgeschichte erfunden; und auch nicht - in Analogie zum perfekten Mord - das perfekte Gedicht. Poe dürfte den Satz des Novalis nicht gekannt haben, wonach Schönheit "ein Erzeugnis von Vernunft und Calcul" ist, aber er handelte danach oder gab doch vor, es zu tun. Das entscheidende Dokument ist seine "Philosophy of Composition" von 1846. Dort wendet er sich gegen die Auffassung, Poesie entstehe aus dem schönen Wahn oder entrückter Inspiration. Er setzt dagegen, was er den "modus operandi" nennt, das heißt eine methodische Herstellung, und demonstriert sie an der Verfertigung seines Gedichts "The Raven" (Der Rabe). Er sagt: "Meine Absicht ist, eindeutig festzustellen, daß sich keine Einzelheit dieses Gedichts aus Zufall oder Intuition ergeben hat; es entstand vielmehr, Schritt um Schritt bis zum Abschluß, mit der Präzision und der ungebrochenen Folgerichtigkeit einer mathematischen Berechnung."
Der geniale Einfall Poes bestand darin, die von der älteren Poetik angenommene Reihenfolge der dichterischen Akte umzukehren: Was Resultat scheint, die Form, ist somit der Ursprung des Gedichts. Der Anfang des dichterischen Prozesses ist für Poe die Wahl des Umfangs, des Effekts, eines gewissen Tons - und dann erst des Themas, das nach den älteren Regeln am Anfang stünde. Poes Schlußfolgerung wirkt wie ein Rezept: "Nun hatte ich also zwei Vorstellungen miteinander zu verbinden: die eines Liebenden, der den Tod seiner Geliebten beklagt, und die eines Raben, der ständig das Wort ,nevermore' wiederholt."
Nun - so könnte man meinen - war nur noch das Gedicht selbst zu schreiben. Aber künstlerisch fängt ja die Sache erst an. Wollen wir Poe seinen Entstehungsbericht abnehmen? Oder haben wir eine seiner Kriminalgeschichten vor uns, übertragen auf den Bereich der ästhetischen Theorie? Entscheidend ist: Der Lyriker Poe wartete nicht auf einen Schach- oder Poesie-Automaten. Er nahm die Sache selbst in die Hand und insinuierte, poetische Perfektion sei eine Frage der poetologischen Reflexion. Er mimte selbst den Türken. Und da auch ich nicht auf das Schachspiel, sondern auf die Lyrik hinauswill, lautet meine These: In jedem Gedicht, so artifiziell es sich gibt, sitzt ein Mensch. Die ruckartigen Bewegungen, die Mechanik vortäuschen, sind die Bewegungen der Poetologie.
War Poes "Philosophy" eine Mystifikation, seine Vorstellung von der totalen Machbarkeit eine Falle? Wenn ja, dann tappten auch Paul Valéry und Gottfried Benn hinein oder taten doch so.
Sagen wir es bescheidener: Lyrik ist also auch Handwerk, immer noch Werk der Hände. Dem Romanautor verübelt niemand, daß er von Thema, Plot und Hauptfiguren redet - das sind solide Begriffe. Sie setzen einen Plan, ein Konzept voraus, eine bestimmte Abfolge der Kapitel, womöglich ein graphisches Schaubild - man kennt dergleichen von Doderer oder Johnson, detailreich, gar farbig illuminiert. Und der Lyriker? Er soll wohl singen, wie der Vogel singet. Ganze Serien von Selbstinterpretationen haben das Klischee nicht beseitigt, daß des Dichter Aug' immer noch im schönen Wahnsinn rollt. Selbst Kritiker mißtrauen der poetologischen Reflexion, sie hätten sonst nicht das Wort "Kopflastigkeit" erfunden. Nun wird man dort, wo es an Köpfen nicht mangelt, über solche Vorurteile hinweg und zur Tagesordnung übergehen. Diese will ich durch ein paar Fragen bezeichnen: Woher kommen Gedichte, und kann man Gedichte planen? Was ist ihr Stoff? Kommen sie aus der Sprache oder aus der Welt? Geht die Form dem Gehalt voraus oder umgekehrt? Wann arbeitet man mit freien, wann mit vorgegebenen Formen? Kann man heute noch reimen? Wie steht das einzelne Gedicht zum Zyklus und wie der Zyklus zum Buch? Der Romancier schreibt Romane, der Dichter Gedichtbände. Er selbst ist ihr Protagonist.
Doch wer ist der Dichter? "Le poète - c'est moi"; derjenige, der hier schreibt und seine Schwierigkeit hat, "Ich" zu sagen. Zum Glück ist dieses Ich nicht privat, sondern, mit Rimbauds berühmter Formel, ein anderer - hilfsweise "lyrisches Ich" benannt. Unter dieser Maske rede ich über Erfahrungen beim Schreiben von Lyrik. Doch wer Erfahrung sagt, hat schon geschrieben und veröffentlicht. Warum also nicht gleich beim Weiterschreiben beginnen? Da ist der hermeneutische Kreisel schon in Schwung. Weiterschreiben ist zudem das probate Remedium für die Frage: Warum nicht aufhören?
Zunächst aber: Wie schreibt man weiter? Im Frühjahr 1996 erschien mein Band "Jahre mit Windrad". Für den Autor nicht bloß das Dokument einer Arbeitsphase, sondern auch das der historischen Zäsur von 1989, präsentiert mit gehöriger Verzögerung. Geschichte braucht Zeit, eh sie - wie man so schön sagt - ihren Niederschlag im Gedicht findet. Dafür ein Beispiel aus der Gedichtgruppe "In der Nähe der Glienicker Brücke", aus dem Jahr 1992:
Zu den Akten
Wir wissen, sagt der Mann, grinst und fixiert mich
wir wissen alles über Sie! (Soll wohl
ein schlechter Scherz sein, denk ich an dem Abend
vor wieviel? dreizehn Jahren; rätsele
daran herum bis ichs vergesse) Gestern
in eine Menge Leute eingeklemmt
(der Redner langweilte) von irgendwo
fühl ich mich angestarrt: es war von damals
der Mann, ich kenn ihn unter Tausenden
Ich seh ihn fragend an, er weicht mir aus
als wüßte ich nun alles über ihn.
Der Text - in prosanahen Blankversen - ist eine lyrische Nachschrift: die Begegnung mit einem IM aus der West-Berliner Kulturszene ist authentisch. Der Autor hat die Situation und ihre untergründige Symbolik sprechen lassen. Bei dem Titel "Zu den Akten" darf der Leser, außer an die Gauck-Behörde, auch an den gleichnamigen Gedichtband von Günter Eich denken.
Nicht zu verkennen ist, daß Lyrik hier als Biographie traktiert wird. Gedichte als Selberlebensbeschreibung ist das Stichwort. Mein Stichwort. Ich bemühe dazu zwei Eideshelfer: Giuseppe Ungaretti, für das Pathos von Biographie, und Philip Larkin, für seine Ernüchterung. Mich hat immer Ungarettis Wort bewegt, der Ehrgeiz des Dichters sei seine schöne Biographie.
Lyrik kann eine nüchterne Wahrheit haben; aber auch die wird immer paradox sein, eben weil sie zugleich Poesie ist. Deshalb liebe ich auch die kaustische Nüchternheit Philip Larkins: "Ich glaube, ich versuche immer, die Wahrheit zu schreiben, und würde kein Gedicht schreiben wollen, das suggerierte, daß ich ein anderer sei als der, der ich bin (. . .) Nehmen Sie zum Beispiel Liebesgedichte. Ich würde es als falsch empfinden, ein Gedicht zu schreiben, das vor Liebe für jemanden überschäumt, wenn man nicht gleichzeitig die Person heiratet und mit ihr einen Hausstand gründet."
Wie Poe benötigt auch Larkin eine Produktionshypothese, ohne die kein Lyriker auskommt. Sie liefert ihm ein Phantom, dem er lebenslänglich nachläuft. Sie ermöglicht, nach allen Anfängen, das Weiterschreiben. Sie führt hinein in die Fragen des Handwerks, führt hinein in die Dialektik von Machen und Entstehenlassen. Mein erstes Stichwort dazu heißt Notizbuch. "Nur keine Notizen, keine verräterischen Einblicke", meinte Gottfried Benn und verriet so, wie wichtig Notate und Vorarbeiten sind. Aber auch: aus welch unscheinbaren Formulierungen Gedichte hervorgehen können, welch peinliche Erdenreste dem ausgeglühten Gebilde vorangehen.
Gedichte kommen also selten aus heiterem Himmel, eher von einem Zettel auf dem Nachttisch. Auf einem dieser Zettel lese ich die Zeile: "Oft fehlt ein einziges Korn den Uhren der Toten." Rätselvoll genug ist sie. 13 Silben, leicht rhythmisiert. Aber sind sie auch verwendbar in einem Gedicht? Vielleicht ließe sich ein Kontext, eine Erweiterung finden. Wahrscheinlich ist es falsch, diesen Keim dem Licht der Öffentlichkeit zu exponieren. Er könnte im Notizheft oder auf einem PC-Speicherplatz ruhen wie andere Zeilen, Reimpaarungen, Schnappschüsse, Epiphanien. Das Entscheidende ist das produktive Chaos dieser Notizen, ihr Nichtgeordnetsein. Nur keine Systematik. Nur keine Zensur, das heißt keine Frage nach der Qualität. Der lyrische Stoff wartet auf das punktuelle Zünden der Welt im Subjekt, wie es Friedrich Theodor Vischer nannte. Auf den Moment, wo Rilkes Vers gilt: "Die Hand ist leicht, das Werkzeug ist gestählt."
Das ist der Moment der Fähigkeit. Man hat lange in diesen Notizen geblättert, mißmutig, deprimiert, aber dann schließt sich an eine Zeile eine andere an, oder zwei Bilder treten miteinander in Beziehung, und man ist mitten in der Fabrikation. Valéry hat das unnachahmlich präzis formuliert: "Es gibt Verse, die man findet. - Die anderen macht man. - Man vervollkommnet diejenigen, die man findet. - Die andern ,naturalisiert' man. - Zwei Manöver in entgegengesetzter Richtung, um die Fälschung zu erreichen: die ,Vollkommenheit'."
Aber damit ist die Frage nicht berücksichtigt, ob die beiden Manöver sich auf einen Plan beziehen, auf ein Konzept, das bereits bestand oder sich jetzt, im aktuellen Prozeß, entwickelt. Sieht das, was ich da zu machen im Begriff bin, nach einem künftigen Sonett aus und - wenn ja - soll es also eins werden? Oder - schwieriger und weiter gezielt - soll aus diesem entstehenden Text ein weiteres Sonett in jener Reihe werden, die ich schon begonnen habe? Ich weiß, daß etliche Lyriker das Sonett nicht mögen. Aber es ist das Modell für vorgegebene Form, Exempel für lyrische Planung. Will sagen: Man schreibt nicht nur das, was kommt, nämlich im Suchen, Finden und Machen; man schreibt auch, was man schreiben möchte, im Planen und Konstruieren. Wer dabei die Poesie selbst kommandieren lassen will oder auf den Primat des Erlebens, der Erfahrung, der persönlichen Biographie setzt, wird nicht - wie es etwa die dänische Lyrikerin Inger Christensen in seiner "Systemdichtung" tut - nach äußeren, etwa naturwissenschaftlichen Gesetzen, sondern nach Prinzipien in der Poesie selbst suchen; nach ästhetischen Momenten wie Zahl, Proportion, Klang, Rhythmus, Bild und Logos. Ich komme in diesem Kontext aufs Sonett zurück - auch aus dem Grund, weil es die Frage nach dem Reim aufwirft.
Der Reim ist - maritim und mit Karl Kraus gesprochen - das "Ufer, wo sie landen, / sind zwei Gedanken einverstanden". Was noch der reimende Dilettant beweist. Das Selbstgereimte ist der Versuch, diese Identität - und damit die eigene - sprachlich zu retten. Den Artisten reizt die Diskrepanz, die Möglichkeit, aus der Differenz der Gedanken Funken zu schlagen. Das heißt: Ironie wird unvermeidlich. Kein Zweifel aber auch, daß Ironie eine Schwundstufe von Pathos ist und daß dem Fremdwort in dieser Pathosreduktion eine wichtige Rolle zugewiesen ist. Gottfried Benn hat diese Möglichkeit exzessiv genutzt, aber er war wohl auch der letzte, der, um den Preis von Sentiment und Sentimentalität, den Reim als Form von Ernst, ja Pathos eingesetzt hat.
Mein Beispiel betreibt diese ironische Reduktion auch in der Verkürzung seiner Zeilen. Das Sonett wird zum ironischen Lied.
Satura
Der Puls ist noch palbabel
das Hirn noch sporogen
Doch zwischen Kalb und Kabel
will uns kein Gott erstehn
Schon leichtes Magendrücken
verändert den Diskurs
Wir sehen in den Lücken
den Schatten des Komturs
Vom Ein- zum Appenzeller
da war wohl ein Moment
als würde alles heller
Nun lesen wir die Daten
die uns an uns verraten
als unser Testament
Auch Kommunikation verfällt dieser Ironie, ist aber in ihr - säkularisiert - vielleicht noch einmal möglich. Wir sind die Gefangenen unserer Daten - unsere Codes sind unsere Testamente. Auch der Titel zielt auf die "Fülle" in der Ironie. "Satura" ist ursprünglich eine der Ceres dargebrachte Schüssel mit mannigfaltigen Erstlingsgaben (lanx satura). Von daher wird "satura" kulinarisch zum Mischgericht, zum "Allerlei", zur volkstümlichen dramatischen Mischform, schließlich zur beißenden oder lächelnden Satire im Sinne Horaz', Martials oder Iuvenals. Auch die Moderne kennt Satura, Satire. Eugenio Montale hat 1971 den Band, der sein Alterswerk eröffnet, "Satura" betitelt.
Andererseits liegt der Schluß nahe, daß die ernsten Töne ohne das Reimspiel auskommen müssen. Aber kommen sie ohne Versmaß aus? Verstheorie gilt als besonders unmusisch; dabei hat sie es gerade mit der Musik der Verse zu tun. Was aber kann an die Stelle des Reims und der abgemessenen Metren treten? Es ist eine alte Frage, seit Klopstock. Seit vierzig, fünfzig Jahren dominiert bei uns der freie Vers, der seine rhythmische Figur Zeile um Zeile neu findet, manchmal aber nur zu Zeilen abgeteilte Prosa ist, Flattersatz, wie der Drucker sagt. Dieser vers libre setzt nicht weniger Meisterschaft voraus als jede gebundene Form. Er spielt mit der Möglichkeit, Prosa in Vers und Vers in Prosa übergehen zu lassen. Doch ebendiese Geschmeidigkeit bietet der Willkür Vorschub. Zumal es das Prinzip des Freiverses ist, daß die Form an sich keinen Widerstand bietet. Sie ist Form von Fall zu Fall, Form ex post: Das fertige Gedicht kann rhythmische oder zahlenmäßige Analogien zeigen, muß es aber nicht. Man könnte also boshaft sagen: "Die Moderne gibt sich mit wenig zufrieden." Das war, wieder einmal, Valéry.
Was soll die Pointe dieser Bemerkungen zur Metrik sein? Ich zitiere eine Stelle aus Valérys "Cahiers". Er spricht dort von einem, wie er sagt, kaum bekannten ästhetischen Paradox: "Die äußerste Verschwisterung der Form mit dem Inhalt wird am besten verwirklicht, indem der Form Bedingungen auferlegt werden, willkürliche, präzise, von außen kommende - jedoch verborgen - , denen sich dann auch der Inhalt beugen muß - so wie ein Körper in einem Kraftfeld oder in einem gekrümmten Raum." Die Stelle ist zunächst so unerhört nicht, denn Valéry variiert einen Gedanken, der paradigmatisch aufs Sonett zutrifft. Was mich sensationiert, ist nicht der Preis der Regeln und ihrer zeugenden Willkür, sondern die Parenthese im eben zitierten Satz, das "jedoch verborgen".
Regeln ja - aber verborgene! Regeln, die auch der geübte Leser nicht sofort erkennt (Sonett, Hexameter, Blankvers). Regeln, die dem Blick der Gewohnheit, ja selbst des Trainings entgehen. Solche Regeln - und da schlägt das vernünftige Calcul in Magie und Mystizismus um - sind auch dann wirksam, wenn der Leser sie nicht bemerkt. Diese Valéry-Stelle erscheint mir als Bestätigung einer Praxis, die ich schon lange, nämlich seit den siebziger Jahren, betreibe. Es geht um eine bestimmte Regelung der Verszeile, die man nicht hören kann, von der ich aber hoffe, daß sie sich dennoch auf irgendeine Weise dem Hörer mitteilt. Etwa im Schlußstück aus einem Zyklus von sechs Gedichten, betitelt "Blätter für Zachäus":
Am Weg die Sykomore wächst schneller
als du hinaufgelangst auf diesen Baum
dich dem milden Mann zu empfehlen
der von der Menschenmenge erwartet wird
Sie werden auf den falschen tippen auf
die Tiara oder das gelbe Trikot
Doch gesetzt du tippst auf den richtigen -
da ist noch das Handicap mit dem Baum
Auch ist der Kühlschrank leer und kein Feuer
unter dem Herd
Der Evangelist Lukas (19, 1-6) erzählt die Geschichte von Zachäus, dem obersten der Zöllner, der begehrt, Christus zu sehen, und, da er zu klein ist, auf einen Maulbeerbaum steigt. Christus, der vorbeikommt, sieht ihn und ruft ihn herab, denn er will bei ihm einkehren. Zachäus nimmt ihn mit Freuden auf; und die, die dies sehen, wundern sich, daß Christus bei einem Zöllner, einem Sünder einkehrt. Meine Variante der Zachäusgeschichte ist etwas parodistisch geraten: Das lyrische Ich scheitert schon an seiner Unfähigkeit, den Maulbeerbaum zu besteigen; von den mangelnden Küchenvorräten und dem Feuer ganz zu schweigen. Wie zu dieser negativen Parabel des Verfassers metrische Technik paßt, kann ich nicht entscheiden. Das Gedicht besteht aus zehn Zeilen, die Zeile jeweils aus zehn Silben, die keinem vorgegebenen Rhythmus folgen, sondern eben nur gezählt sind. Eine Ausnahme macht Zeile zehn; Sie hat nur vier Silben. Der Text bricht ab: "Auch ist der Kühlschrank leer und kein Feuer / unter dem Herd." Der Poet exponiert - willentlich oder unwillentlich - seine Armut. Er gibt sich eine Regel und vermag nicht einmal die letzte Zeile zu füllen. Seine Pumpen und Röhren funktionieren nicht sonderlich gut. Aber vielleicht gehört das in sein System.
Je rigider die verborgene Regel, um so größer des Autors Hoffnung, daß sie den poetischen Geist freisetzt. Calcul ist die Ersatzhandlung, die diesen Geist hervorrufen möchte. Calcul als eine andere Art Beschwörung, als ein Tanzen in Ketten. Der weise Montale überschrieb das letzte Kapitel eines seiner Bände mit "Conclusioni provvisorie" (Provisorische Schlüsse). Die beiden Gedichte, die man dort findet, heißen "Piccolo testamento" und "Il sogno del prigioniero" (Der Traum des Gefangenen). Ein wunderbares Paradox: Der Dichter will den Abschluß, das Testament, doch jeder Schluß will ins Offene, will Befreiung.
Der Autor ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Berlin und regelmäßiger Mitarbeiter dieser Zeitung. Er ist Herausgeber der Anthologie "Luftfracht. Internationale Poesie 1940 bis 1990".
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der aus den siebziger Jahren stammende Essay Enzensbergers bietet einen historischen Überblick über die Versuche, mittels formalisierter Textverfahren Dichtung zu produzieren, und schildert, wie der Dichter schließlich zum Souffleur des Apparates schrumpft. Ist Stephan Krass wirklich der Einladung des Autors gefolgt und hat ihn auf seinem Weg zum wartungsfreien Lyriker begleitet? Enzensberger, schreibt Krass, habe das Projekt eines Poesie-Automaten "im stringenten Kontext von Mathematik und Medientheorie, Literatur und Linguistik erneut erörtert". Ansonsten - nichts Wissenswertes zum Buch. Unsere Vermutung: Rezensions- Automat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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