Junge Wiederholungstäter im Visier
Hinter dem weiten Begriff "Kriminalität" verbergen sich zahlreiche unterschiedliche Problemlagen, die zwar in der Wirklichkeit des Lebens alle auf die eine oder andere Weise miteinander verknüpft sind, aber dennoch in wissenschaftlicher, praktischer und (kriminal-) politischer Hinsicht einer separaten Analyse bedürfen, wenn man im Grundlagenwissen weiterkommen und Anwendungswissen verbessern will. Krimina lität als soziales Phänomen, insbesondere Massenphänomen in modernen Gesell schaften, hat andere Gesetzmäßigkeiten denn Kriminalität als Einzelereignis im Alltag oder Kriminalität als Teil einer lebensgeschichtlichen Verstrickung von Men schen in eine Art Kreislauf von "Verbrechen und Strafe", die in bestimmten Fällen als ausgeprägte so genannte "kriminelle Karriere" imponiert. Dunkelfelduntersu chungen in der Kriminologie haben überall in der Welt in den letzten Jahrzehnten den Befund verfestigt, dass das Begehen von Handlungen, die einem Straftatbestand subsumiert werden können, vor allem bei den männlichen Angehörigen der Normal population statistisch normal und sozusagen ubiquitär ist. Das heißt, im Schnitt rund 90 %junger Männer geben bei so genannten Täterbefragungen an, Straftaten began gen zu haben. Die meisten dieser Taten werden allerdings nicht entdeckt. Und die meisten jungen Menschen bleiben offiziell unauffällig oder kommen, selbst wenn sie einmal polizeilich angezeigt werden, allenfalls vorübergehend "in Schwierigkeiten". Eine genauere Analyse der Ergebnisse von Täterbefragungen im Dunkelfeld zeigt nun regelmäßig, soweit die Daten überhaupt entsprechende Differenzierung erlau ben, dass das Begehen von Straftaten, wenn es auch normal ist, jedenfalls nicht gleich verteilt ist. Vereinfacht: viele Befragte geben nureine oder maximal 3 Strafta ten an, wenige Befragte geben viele Straftaten an.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinter dem weiten Begriff "Kriminalität" verbergen sich zahlreiche unterschiedliche Problemlagen, die zwar in der Wirklichkeit des Lebens alle auf die eine oder andere Weise miteinander verknüpft sind, aber dennoch in wissenschaftlicher, praktischer und (kriminal-) politischer Hinsicht einer separaten Analyse bedürfen, wenn man im Grundlagenwissen weiterkommen und Anwendungswissen verbessern will. Krimina lität als soziales Phänomen, insbesondere Massenphänomen in modernen Gesell schaften, hat andere Gesetzmäßigkeiten denn Kriminalität als Einzelereignis im Alltag oder Kriminalität als Teil einer lebensgeschichtlichen Verstrickung von Men schen in eine Art Kreislauf von "Verbrechen und Strafe", die in bestimmten Fällen als ausgeprägte so genannte "kriminelle Karriere" imponiert. Dunkelfelduntersu chungen in der Kriminologie haben überall in der Welt in den letzten Jahrzehnten den Befund verfestigt, dass das Begehen von Handlungen, die einem Straftatbestand subsumiert werden können, vor allem bei den männlichen Angehörigen der Normal population statistisch normal und sozusagen ubiquitär ist. Das heißt, im Schnitt rund 90 %junger Männer geben bei so genannten Täterbefragungen an, Straftaten began gen zu haben. Die meisten dieser Taten werden allerdings nicht entdeckt. Und die meisten jungen Menschen bleiben offiziell unauffällig oder kommen, selbst wenn sie einmal polizeilich angezeigt werden, allenfalls vorübergehend "in Schwierigkeiten". Eine genauere Analyse der Ergebnisse von Täterbefragungen im Dunkelfeld zeigt nun regelmäßig, soweit die Daten überhaupt entsprechende Differenzierung erlau ben, dass das Begehen von Straftaten, wenn es auch normal ist, jedenfalls nicht gleich verteilt ist. Vereinfacht: viele Befragte geben nureine oder maximal 3 Strafta ten an, wenige Befragte geben viele Straftaten an.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2002Wer abrutscht, sollte rasch eine Familie gründen
Täter zeigen Profil: Zwei Studien gehen mit neuen Einsichten der Kriminologie auf Verbrecherfang
Die Lektüre schockiert. Weniger wegen der massenhaften Unappetitlichkeiten und Grausamkeiten, die beide Bücher benennen, mehr, weil sie den Blick in eine Welt eröffnen, die uns fremd ist, obwohl wir mit ihr leben, in die Welt der Verbrechensbekämpfung. Wenn Menschenwürde und Eigentum vernünftig sind, ist ihre Verletzung unvernünftig und schwer verständlich. Auf diese Unvernunft muß sich der staatliche Strafapparat vernünftig einlassen. Schwer verständlich deshalb auch er. Wahrscheinlich können Verbrechensbekämpfer nur normal bleiben, wenn und soweit sie sich zu einem Verbrechen verhalten wie ein Arzt zu einem Geschwür. Krimis vermitteln diese Einstellung nicht. Sie sind zu sehr auf die Kommunikation zwischen Jäger und Gejagtem angelegt. Ihnen geht es um das spannende Spiel. Die Wirklichkeit ähnelt mehr einem Labor. Ziel ist die Entwicklung von Methoden und Kriterien, mit denen man Täter feststellen (Kriminalistik) oder die Begehung von Straftaten verhindern kann (Kriminologie).
Der Band von Cornelia Musolff und Jens Hoffmann "Täterprofile" behandelt in vierzehn Beiträgen eine neue Ermittlungsmethode bei schweren Gewaltverbrechen: die objektive Fallanalyse. Jeder Polizist weiß, daß man den Tathergang rekonstruieren muß, wenn man in die richtige Richtung ermitteln will. Die Rekonstruktionstechnik kann man zum Beispiel mit Fragebögen verfeinern, standardisieren und akzentuieren. Eine hilfreiche Fragentabelle findet sich schon bei Quintilian (35 bis 100 nach Christus): Wer?, was?, wo?, mit wessen Hilfe?, warum?, wie?. Die objektive Fallanalyse versucht nun, "die hervorstechenden Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale eines Individuums anhand der Analyse der Verbrechen, die er oder sie begangen hat, zu identifizieren". Das Ergebnis wird "Täterprofil" genannt.
Die Methode ist leicht zu verstehen. Eine kräftige, dreißigjährige Frau kann in der Regel nur von einem kräftigen erwachsenen Mann vergewaltigt werden, der das Greisenalter noch nicht erreicht hat. Das ist ein Ansatz für ein Täterprofil, den man beliebig ausbauen kann. Man kann etwa fragen: Wurde die Tat spontan oder geplant begangen? Wie man das im einzelnen macht, wird in diesem Buch ausführlich und durchweg plausibel dargestellt. Inzwischen liegen verblüffende Ergebnisse vor. Jens Hoffmann berichtet von einem amerikanischen "Profilersteller", der in Deutschland in den achtziger Jahren allein aus den Umständen eines Mordfalles eine genaue Beschreibung des Täters abgeleitet hat, bis zur Angabe des Alters. Der Täter wurde zwar unabhängig von dieser Beschreibung gefaßt. Das schmälert die Leistung aber nicht, sondern macht sie kontrollierbar. Natürlich können Täterprofile nie ganz genau und zuverlässig sein. Deshalb ist es nicht einfach, sie als Beweismittel in den Strafprozeß einzuführen. Der Oberstaatsanwalt am Bundesgerichtshof Michael Bruns hat dieses rechtsdogmatische Problem elegant gelöst: Täterprofile sind Sachverständigengutachten und können nach den einschlägigen Regeln der Strafprozeßordnung gewürdigt werden. Die Frage ist nur: Wer ist Sachverständiger, und wer entscheidet das?
Die "Profilersteller" fordern, ihre Methode müsse als Wissenschaft anerkannt werden. Denn dann entscheiden letztlich Universitäten und akademische Prüfungsstellen über die Qualifikation als Sachverständiger. Das Berufsrisiko wird gemindert. Nach Einschätzung des Rezensenten dürfte daraus allerdings nichts werden. Zwar ist der Gegenstand komplex und seine Bearbeitung anspruchsvoll genug, aber die Technik liegt zu dicht an den praktischen Notwendigkeiten der Tataufklärung, sie muß zu viele normative und soziale Bindungen voraussetzen und erlaubt deshalb nicht genug Variationen und Perspektiven. Das zeigt sich auch an den Beiträgen dieses Bandes. Die auffällig vielen Wiederholungen sind nicht Zufall, sondern zeugen davon, daß das abstrakte Problem zu schmal ist.
Die Kriminologie bearbeitet ein breiteres Feld, wie das Buch von Wolfgang Stelly und Jürgen Thomas "Einmal Verbrecher - immer Verbrecher?" bestätigt. Der Titel ist zwar zu reißerisch und seine Frage natürlich zu verneinen. Aber der Inhalt ist ein Vorbild an Wissenschaft. Den Verfassern geht es darum, ob die Straffälligkeit von Individuen eher persönlichkeitsbedingt chronisch oder eher sozialbedingt sporadisch ist, die neue abstrakte Fassung eines alten Problems. Je nachdem, wie man die Frage beantwortet, orientieren sich die strafrechtlichen Sanktionen eher am Täter oder eher an der Tat. Die Unterscheidung entspricht der herrschenden Ansicht unter den Kriminologen. Aber die Verfasser unterlaufen sie, indem sie die Straffälligkeit an vielen Faktoren festmachen und Persönlichkeitsmerkmalen wie der Sozialisation in der Familie großes Gewicht einräumen. Die besondere Berücksichtigung von Persönlichkeitsmerkmalen ist zwar keine "objektive Fallanalyse", sie läuft aber auf eine Art Generalisierung von Täterprofilen hinaus, betrifft also eine ähnliche Thematik wie der Sammelband von Musolff und Hoffmann. Tatsächlich findet man in beiden Bänden ähnliche Fallbeispiele und einige identische Literatur. Inhaltlich unterscheiden sich die beiden Werke vornehmlich in der Perspektive. Die kriminalistischen Fallanalytiker haben die Aufklärung konkreter Straftaten im Blick, müssen sich deshalb auf den Täter konzentrieren und wenden sich an die Polizei. Die Kriminologen wollen die Straftaten insgesamt vermindern, können daher auch die gesellschaftlichen Verhältnisse in die Gründe für die Begehung von Straftaten einbeziehen und wenden sich an die Politik. Die Kriminalisten rekonstruieren die Vergangenheit, die Kriminologen hoffen auf die Zukunft.
Stelly und Thomas sind Mitarbeiter einer Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung, die seit mehr als fünfunddreißig Jahren läuft. In den Vereinigten Staaten gibt es eine ähnliche Langzeitstudie. Die Grundidee dieser Schrift ist, beide Studien auf der Basis einer zuverlässigen kriminologischen Theorie zu vergleichen. Die Verfasser erfinden ihre Theorie aber nicht einfach, sondern destillieren sie aus allen weltweit bekannten Theorien. Man lernt also alle wichtigen Theorien zur Kontinuität oder Diskontinuität von Kriminalität kennen. Bemerkenswert: Die früher heißumkämpfte Theorie der Klassenjustiz, also der schichtspezifischen Behandlung von Straftätern, rangiert nur noch unter "ferner liefen".
Die Ergebnisse können hier nicht im einzelnen referiert werden, zumal schwierige Methodenfragen zu erörtern wären. In der Kriminologie zählt Statistik viel, einfache Kausalität wenig. Theoretisch hat sie außerdem mit der Orientierung des materiellen Strafrechts an der Schuld des Täters zu kämpfen. Die Verfasser haben ihre Argumentation auch mustergültig zusammengefaßt. Zwei Ergebnisse seien aber doch hervorgehoben. Rein statistisch gesehen ist Kriminalität unter Jugendlichen eine Massenerscheinung. Die weitaus meisten Jugendlichen lassen aber wieder davon ab, wenn sie soziale Verantwortung übernehmen, zum Beispiel eine Familie gründen. Und: "Je schwächer die Bindung eines Individuums an Familie und Schule, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß das Individuum schwere oder wiederholte strafrechtlich relevante Auffälligkeiten in der Kindheit und Jugend zeigt." Großmutter wußte das noch.
GERD ROELLECKE.
Cornelia Musolff, Jens Hoffmann (Hrsg.): "Täterprofile bei Gewaltverbrechen". Mythos, Theorie und Praxis des Profilings. Springer Verlag, Berlin 2001. XV, 391 S., 45 Abb., 7 Tab., geb. 40,85 [Euro].
Wolfgang Stelly, Jürgen Thomas: "Einmal Verbrecher - immer Verbrecher?" Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2001. 337 S., br., 31,70 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Täter zeigen Profil: Zwei Studien gehen mit neuen Einsichten der Kriminologie auf Verbrecherfang
Die Lektüre schockiert. Weniger wegen der massenhaften Unappetitlichkeiten und Grausamkeiten, die beide Bücher benennen, mehr, weil sie den Blick in eine Welt eröffnen, die uns fremd ist, obwohl wir mit ihr leben, in die Welt der Verbrechensbekämpfung. Wenn Menschenwürde und Eigentum vernünftig sind, ist ihre Verletzung unvernünftig und schwer verständlich. Auf diese Unvernunft muß sich der staatliche Strafapparat vernünftig einlassen. Schwer verständlich deshalb auch er. Wahrscheinlich können Verbrechensbekämpfer nur normal bleiben, wenn und soweit sie sich zu einem Verbrechen verhalten wie ein Arzt zu einem Geschwür. Krimis vermitteln diese Einstellung nicht. Sie sind zu sehr auf die Kommunikation zwischen Jäger und Gejagtem angelegt. Ihnen geht es um das spannende Spiel. Die Wirklichkeit ähnelt mehr einem Labor. Ziel ist die Entwicklung von Methoden und Kriterien, mit denen man Täter feststellen (Kriminalistik) oder die Begehung von Straftaten verhindern kann (Kriminologie).
Der Band von Cornelia Musolff und Jens Hoffmann "Täterprofile" behandelt in vierzehn Beiträgen eine neue Ermittlungsmethode bei schweren Gewaltverbrechen: die objektive Fallanalyse. Jeder Polizist weiß, daß man den Tathergang rekonstruieren muß, wenn man in die richtige Richtung ermitteln will. Die Rekonstruktionstechnik kann man zum Beispiel mit Fragebögen verfeinern, standardisieren und akzentuieren. Eine hilfreiche Fragentabelle findet sich schon bei Quintilian (35 bis 100 nach Christus): Wer?, was?, wo?, mit wessen Hilfe?, warum?, wie?. Die objektive Fallanalyse versucht nun, "die hervorstechenden Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale eines Individuums anhand der Analyse der Verbrechen, die er oder sie begangen hat, zu identifizieren". Das Ergebnis wird "Täterprofil" genannt.
Die Methode ist leicht zu verstehen. Eine kräftige, dreißigjährige Frau kann in der Regel nur von einem kräftigen erwachsenen Mann vergewaltigt werden, der das Greisenalter noch nicht erreicht hat. Das ist ein Ansatz für ein Täterprofil, den man beliebig ausbauen kann. Man kann etwa fragen: Wurde die Tat spontan oder geplant begangen? Wie man das im einzelnen macht, wird in diesem Buch ausführlich und durchweg plausibel dargestellt. Inzwischen liegen verblüffende Ergebnisse vor. Jens Hoffmann berichtet von einem amerikanischen "Profilersteller", der in Deutschland in den achtziger Jahren allein aus den Umständen eines Mordfalles eine genaue Beschreibung des Täters abgeleitet hat, bis zur Angabe des Alters. Der Täter wurde zwar unabhängig von dieser Beschreibung gefaßt. Das schmälert die Leistung aber nicht, sondern macht sie kontrollierbar. Natürlich können Täterprofile nie ganz genau und zuverlässig sein. Deshalb ist es nicht einfach, sie als Beweismittel in den Strafprozeß einzuführen. Der Oberstaatsanwalt am Bundesgerichtshof Michael Bruns hat dieses rechtsdogmatische Problem elegant gelöst: Täterprofile sind Sachverständigengutachten und können nach den einschlägigen Regeln der Strafprozeßordnung gewürdigt werden. Die Frage ist nur: Wer ist Sachverständiger, und wer entscheidet das?
Die "Profilersteller" fordern, ihre Methode müsse als Wissenschaft anerkannt werden. Denn dann entscheiden letztlich Universitäten und akademische Prüfungsstellen über die Qualifikation als Sachverständiger. Das Berufsrisiko wird gemindert. Nach Einschätzung des Rezensenten dürfte daraus allerdings nichts werden. Zwar ist der Gegenstand komplex und seine Bearbeitung anspruchsvoll genug, aber die Technik liegt zu dicht an den praktischen Notwendigkeiten der Tataufklärung, sie muß zu viele normative und soziale Bindungen voraussetzen und erlaubt deshalb nicht genug Variationen und Perspektiven. Das zeigt sich auch an den Beiträgen dieses Bandes. Die auffällig vielen Wiederholungen sind nicht Zufall, sondern zeugen davon, daß das abstrakte Problem zu schmal ist.
Die Kriminologie bearbeitet ein breiteres Feld, wie das Buch von Wolfgang Stelly und Jürgen Thomas "Einmal Verbrecher - immer Verbrecher?" bestätigt. Der Titel ist zwar zu reißerisch und seine Frage natürlich zu verneinen. Aber der Inhalt ist ein Vorbild an Wissenschaft. Den Verfassern geht es darum, ob die Straffälligkeit von Individuen eher persönlichkeitsbedingt chronisch oder eher sozialbedingt sporadisch ist, die neue abstrakte Fassung eines alten Problems. Je nachdem, wie man die Frage beantwortet, orientieren sich die strafrechtlichen Sanktionen eher am Täter oder eher an der Tat. Die Unterscheidung entspricht der herrschenden Ansicht unter den Kriminologen. Aber die Verfasser unterlaufen sie, indem sie die Straffälligkeit an vielen Faktoren festmachen und Persönlichkeitsmerkmalen wie der Sozialisation in der Familie großes Gewicht einräumen. Die besondere Berücksichtigung von Persönlichkeitsmerkmalen ist zwar keine "objektive Fallanalyse", sie läuft aber auf eine Art Generalisierung von Täterprofilen hinaus, betrifft also eine ähnliche Thematik wie der Sammelband von Musolff und Hoffmann. Tatsächlich findet man in beiden Bänden ähnliche Fallbeispiele und einige identische Literatur. Inhaltlich unterscheiden sich die beiden Werke vornehmlich in der Perspektive. Die kriminalistischen Fallanalytiker haben die Aufklärung konkreter Straftaten im Blick, müssen sich deshalb auf den Täter konzentrieren und wenden sich an die Polizei. Die Kriminologen wollen die Straftaten insgesamt vermindern, können daher auch die gesellschaftlichen Verhältnisse in die Gründe für die Begehung von Straftaten einbeziehen und wenden sich an die Politik. Die Kriminalisten rekonstruieren die Vergangenheit, die Kriminologen hoffen auf die Zukunft.
Stelly und Thomas sind Mitarbeiter einer Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung, die seit mehr als fünfunddreißig Jahren läuft. In den Vereinigten Staaten gibt es eine ähnliche Langzeitstudie. Die Grundidee dieser Schrift ist, beide Studien auf der Basis einer zuverlässigen kriminologischen Theorie zu vergleichen. Die Verfasser erfinden ihre Theorie aber nicht einfach, sondern destillieren sie aus allen weltweit bekannten Theorien. Man lernt also alle wichtigen Theorien zur Kontinuität oder Diskontinuität von Kriminalität kennen. Bemerkenswert: Die früher heißumkämpfte Theorie der Klassenjustiz, also der schichtspezifischen Behandlung von Straftätern, rangiert nur noch unter "ferner liefen".
Die Ergebnisse können hier nicht im einzelnen referiert werden, zumal schwierige Methodenfragen zu erörtern wären. In der Kriminologie zählt Statistik viel, einfache Kausalität wenig. Theoretisch hat sie außerdem mit der Orientierung des materiellen Strafrechts an der Schuld des Täters zu kämpfen. Die Verfasser haben ihre Argumentation auch mustergültig zusammengefaßt. Zwei Ergebnisse seien aber doch hervorgehoben. Rein statistisch gesehen ist Kriminalität unter Jugendlichen eine Massenerscheinung. Die weitaus meisten Jugendlichen lassen aber wieder davon ab, wenn sie soziale Verantwortung übernehmen, zum Beispiel eine Familie gründen. Und: "Je schwächer die Bindung eines Individuums an Familie und Schule, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß das Individuum schwere oder wiederholte strafrechtlich relevante Auffälligkeiten in der Kindheit und Jugend zeigt." Großmutter wußte das noch.
GERD ROELLECKE.
Cornelia Musolff, Jens Hoffmann (Hrsg.): "Täterprofile bei Gewaltverbrechen". Mythos, Theorie und Praxis des Profilings. Springer Verlag, Berlin 2001. XV, 391 S., 45 Abb., 7 Tab., geb. 40,85 [Euro].
Wolfgang Stelly, Jürgen Thomas: "Einmal Verbrecher - immer Verbrecher?" Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2001. 337 S., br., 31,70 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die Lektüre von zwei Büchern über neue Einsichten der Kriminologie hat Rezensent Gerd Roellecke ebenso schockiert wie eingeleuchtet. Schockiert, wegen der "massenhaften Unappetitlichkeiten und Grausamkeiten", die beide Bücher benennen würden. Eingeleuchtet, weil beide Publikationen ihn methodisch ausgesprochen überzeugt haben. Mal abgesehen vom Titel beurteilt Roellecke den vorliegenden Band (den er neben "Täterprofile bei Gewaltverbrechen" von Cornelia Musolff und Jens Hoffmann bespricht) als "ein Vorbild an Wissenschaft". Den Verfassern gehe es darum, ob einzelne Personen "eher persönlichkeitsbedingt chronisch oder sozialbedingt sporadisch" straffällig würden. Denn je nach dem, wie man diese Frage beantworte, orientierten sich die Sanktionen entweder am Täter oder an der Tat. Die Verfasser jedoch unterlaufen zur großen Zufriedenheit des Rezensenten diese Unterscheidung immer wieder, indem sie Straffälligkeit an vielen Faktoren festmachen. Die Grundidee der Schrift sei es, eine deutsche und eine amerikanische "Jungtäter-Studie" wissenschaftlich-kriminologisch zu vergleichen. Besonders beeindruckt zeigt sich der Rezensent, dass beide Verfasser ihre Theorie aus allen weltweit bekannten und wichtigen Theorien zum Thema, die man auf diesem Wege auch gleich kennenlerne, herausdestillierten.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH