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Ziel dieses Bandes ist es, deutlich zu machen, daß und wie man Derrida, der bisher hauptsächlich von Literaturwissenschaftlern rezipiert worden ist, philosophisch lesen kann, und zwar mit Gewinn - für Derrida wie für den jeweiligen Leser. Und das nicht nur beschränkt auf Derridas philosophische Herkunft und seine frühen Texte, sondern auch im Hinblick auf solche Arbeiten, in denen er sich in scheinbar philosophie"fremde" Felder begibt, wie Kunst, Musik, Photographie, Architektur, Technik usw. Gleichzeitig vermittelt der Band einen Eindruck von der Weite des Derridaschen Denkens, das sich im…mehr

Produktbeschreibung
Ziel dieses Bandes ist es, deutlich zu machen, daß und wie man Derrida, der bisher hauptsächlich von Literaturwissenschaftlern rezipiert worden ist, philosophisch lesen kann, und zwar mit Gewinn - für Derrida wie für den jeweiligen Leser. Und das nicht nur beschränkt auf Derridas philosophische Herkunft und seine frühen Texte, sondern auch im Hinblick auf solche Arbeiten, in denen er sich in scheinbar philosophie"fremde" Felder begibt, wie Kunst, Musik, Photographie, Architektur, Technik usw. Gleichzeitig vermittelt der Band einen Eindruck von der Weite des Derridaschen Denkens, das sich im Verlauf von mittlerweile fast vierzig Jahren zunehmend thematisch ausgeweitet und vor allem in den Texten des letzten Jahrzehnts eine neue Färbung angenommen hat. Fast alle Autoren dieses Bandes schlagen Brücken von den frühen Werken (insbesondere den drei Büchern von 1967: Die Schrift und die Differenz, Grammatologie, Die Stimme und das Phänomen), deren "Gehalt" häufig schlagwortartig verkürzt aufgenommen wurde (Logo- und Phonozentrismus, Metaphysik der Präsenz, Schrift versus Sprache), zu neueren Texten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.1998

Geisterstunde unter der Lampe
Derridas Gespenster verlieren im Licht der Philologie den Schrecken

Als "die Kunst, gut zu lesen" bezeichnete Nietzsche die Philologie; er nannte als höchste Tugend des Philologen die Fähigkeit zum "Wiederkäuen". Ein Text sei dadurch, daß er "abgelesen" sei, noch nicht "entziffert", geschweige denn "ausgelegt", und eben dazu bedürfe es jener Tätigkeit, zu der man "beinahe Kuh" sein müsse und jedenfalls nicht "moderner Mensch". Das sollte allerdings nicht heißen, daß die Auslegung im Wiederkäuen aufgeht; der bei "modernen Menschen" allzu beliebte Verzicht auf den Wortlaut zugunsten persönlichen Meinens schadet ebenfalls. "Der Philologe" erschien bei Nietzsche als Retter oder als Verderber der Überlieferung: Wird einerseits der "Mangel an Philologie" in den Textwissenschaften weitläufig beklagt, so erscheint die Philologie an anderen Stellen schlankweg als "Mißgeburt der Göttin Philosophie, erzeugt mit einem Idioten oder Kretin", hinter dem man den von Nietzsche gern und oft geschmähten "deutschen Professor", jenen "Wiederkäuer par excellence", vermuten darf.

Jacques Derrida versteht sich zweifellos auf die "Kunst, gut zu lesen". Die unter dem Namen "Dekonstruktion" berühmt gewordene Kritik des abendländischen Logozentrismus entwickelt sich immer wieder aus punktgenauen Lektüren klassischer Autoren. Was passiert nun, wenn ein solcher Autor, der gleichzeitig ein exemplarisch Lesender ist, selbst zum Gegenstand weitläufiger Lektüren gemacht, wenn er kanonisiert, inventarisiert, "wiedergekäut", kurz: wenn er philologisiert wird? Die Frage stellt sich anläßlich des jetzt erschienenen Sammelbandes "Einsätze des Denkens". Die Absicht der Herausgeber, Hans-Dieter Gondek und Bernhard Waldenfels, ist eine zweifache: "Es soll deutlich gemacht werden, daß und wie man Derrida philosophisch lesen kann, und zwar mit Gewinn - für Derrida wie für den jeweiligen Leser."

Fragt man nun, was "Derrida philosophisch lesen" für die Herausgeber heißt, so muß die Antwort wohl lauten, daß es vor allem "philologisch lesen" heißt. Ob Rudolf Bernet zeigen möchte, "daß Derrida, wenn er sich mit Husserl auseinandersetzt, dabei Freud im Sinn hat", ob Detlev Thiel sämtliche Textstellen auflistet, an denen der Ausdruck "Urschrift" vorkommt, oder ob Hans-Dieter Gondek Derridas Denken der Gabe in "Donner le temps" auf Heidegger zurückliest - fast immer stehen für die Autoren nicht Sachfragen, sondern Textbezüge im Vordergrund. Was Derrida denkt, sagt oder schreibt, ob es nun um die Kritik des Phonozentrismus, der Tauschökonomie oder des Rechtspositivismus geht, scheint seinen zureichenden Grund nur in dem finden zu können, was Husserl, Heidegger, Lévinas oder Benjamin gedacht, gesagt oder geschrieben haben.

Von diesem "philologisierenden" Prinzip weichen nur wenige Autoren des Bandes ab. So etwa Petra Gehring, die Derridas Text "Gesetzeskraft" einer kritischen Lektüre unterzieht, und Rodolphe Gasché, der aus Derridas Kafka-Interpretation stringente Thesen zum Verhältnis von Philosophie und Literatur ableitet. Was soll man aber mit Erkenntnissen wie etwa der folgenden machen, dem Ergebnis seitenlanger Textvergleiche zwischen Derrida und Lévinas: "Was Lévinas ,Gerechtigkeit' nennt, scheint dem, was Derrida ,Recht' nennt, viel näher als dem, was er ,Gerechtigkeit' nennt, und was Lévinas ,Ethik' nennt, entspricht dem, was Derrida ,Gerechtigkeit' nennt" (Robert Bernasconi)? Die "Musealisierung der Begriffe", von Detlev Thiel immerhin als Selbstverdächtigung geäußert, läßt die Dekonstruktion, das einstige Schreckgespenst der deutschen Universitätsphilosophie, nun als zahmen akademischen Papiertiger erscheinen.

Dieser Tendenz zur Akademisierung ist wohl auch die Auswahl des Eröffnungstextes aus der Feder des Meisters selbst geschuldet: Es handelt sich um die Verteidigung seiner Habilitation vor einer Jury der Sorbonne, worin Derrida seinen intellektuellen Werdegang und die Gründe schildert, die ihn bewogen haben, zu einem sehr späten Zeitpunkt (er habilitierte sich erst 1980) seiner Sache doch noch die Weihen der Institution zu verschaffen. Das Wort "Dekonstruktion", so Derrida, habe er "niemals gemocht", und das "Schicksal" dieses Wortes habe ihn "unangenehm überrascht". Was Derrida in "Marx' Gespenster" über den Autor des Kommunistischen Manifests sagt, scheint auch für ihn selbst zu gelten: Man wäre bereit, die Wiederkehr von Marx oder die Rückkehr zu Marx zu akzeptieren, unter der Bedingung, daß mit Schweigen übergangen wird, was da nicht nur zu entziffern gebietet, sondern zu handeln, aus der Entzifferung eine Transformation zu machen.

Als Ideal der "philosophischen Lektüre" mag so allenfalls erscheinen, was Geoffrey Bennington in dem Sammelband unter dem Titel "Derridabase" faßt: eine hypertextuelle Datenbank, die jeden Text Derridas und alle denkbaren Bezüge seiner Texte untereinander sowie auf andere Texte abrufen kann. Wem damit außerhalb der Akademie gedient sein könnte, ist nicht recht vorstellbar. SUSANNE LÜDEMANN

Hans-Dieter Gondek, Bernhard Waldenfels (Hrsg.): "Einsätze des Denkens". Zur Philosophie von Jacques Derrida. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 416 S., br., 27,80 DM.

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