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"Nach vier Jahren sinkt etwas in deinem Kopf wie ein Schiff. Dann ist nur noch Zeit." So beginnt Hans-Joachim Neubauers Bericht aus dem Berliner Gefängnis Tegel, einer verborgenen Stadt mitten in der Hauptstadt der Republik. Hier leben über 1700 Gefangene hinter Gittern, Wachtürmen und stählernen Toren in einer eigenen, abgeschotteten Welt. Die größte deutsche Haftanstalt ist ein Universum für sich mit Kirche, Krankenstation und Schule, mit eigenen Werkstätten, Schnapsdestillen und Sportplätzen, mit Kriminalität, Prostitution, einer eigenen Polizei und sogar mit einem eigenen Gefängnis. Und…mehr

Produktbeschreibung
"Nach vier Jahren sinkt etwas in deinem Kopf wie ein Schiff. Dann ist nur noch Zeit." So beginnt Hans-Joachim Neubauers Bericht aus dem Berliner Gefängnis Tegel, einer verborgenen Stadt mitten in der Hauptstadt der Republik. Hier leben über 1700 Gefangene hinter Gittern, Wachtürmen und stählernen Toren in einer eigenen, abgeschotteten Welt. Die größte deutsche Haftanstalt ist ein Universum für sich mit Kirche, Krankenstation und Schule, mit eigenen Werkstätten, Schnapsdestillen und Sportplätzen, mit Kriminalität, Prostitution, einer eigenen Polizei und sogar mit einem eigenen Gefängnis. Und draußen weiß kaum jemand, wie das Leben auf der anderen Seite der Gitter aussieht. Denn das Gefängnis ist ein Ort des Schweigens. Einschluss erkundet diesen verschwiegenen Kosmos von innen. Hans-Joachim Neubauer gelingt es, das Gefängnis zum Sprechen zu bringen. Über Jahre hinweg hat er das Vertrauen der Verurteilten und Gefangenen erworben, hat ihnen zugehört, wenn sie von ihrem Alltag e rzählen, von Arbeit und Einsamkeit, von Gewalt und Sprachlosigkeit. Sie nehmen ihn und uns mit auf ihre Wege durch das Labyrinth der Vorschriften, durch die komplexe Architektur der Strafe bis hinein in die Zelle, in der jeder allein ist mit seiner Tat, seiner Angst, seiner Schuld. Und sie zeigen, dass nicht der Ort die eigentliche Strafe ist, sondern die Zeit.
Autorenporträt
Hans-Joachim Neubauer, geb. 1960, lebt als freier Journalist und Autor in Berlin. Er ist Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Freien Universität und arbeitet als Korrespondent des »Rheinischen Merkur«
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2002

Seinesgleichen vollzieht sich
Der Streß steckt im Detail: Zwei investigative Bücher schauen hinter die Gitter des Gefängnisses

Berichte von Strafgefangenen über das Leben hinter Gittern gibt es immer wieder; aber über den Alltag aus Sicht der Institution selbst - ihrer Wärter, Köche, Verwaltungsmitarbeiter - ist gemeinhin wenig zu erfahren. Jedenfalls prallte der Versuch des New Yorker Journalisten Ted Conover, sich als offen recherchierender Freigänger im Gefängnis umzuschauen, an einer Mauer des Schweigens ab. In Undercover-Tradition bewirbt sich Conover daraufhin als Vollzugsrekrut des Staates New York und arbeitet fast ein Jahr im berühmt-berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis Sing Sing. Das Ergebnis seiner Beobachtungen ist eine Eschatologie der totalen Institution und nennt sich "Vorhof der Hölle".

Zweiundzwanzig Hektar umfaßt heute das Areal des 1826 etwas nordöstlich von New York durch Sträflinge errichteten Gefängnisses. Trotzdem ist die imposante Anlage unauffällig und von keinem Punkt recht in den Blick zu bekommen. Gleichsam organisch scheint sie sich mit immer neuen Anbauten im Lauf der Jahre zu einem Labyrinth entwickelt zu haben. Weit davon entfernt, das von Foucault beschriebene panoptische Kontrollideal totaler Sichtbarkeit der Gefangenen und weitgehender Unsichtbarkeit ihrer Aufpasser zu verwirklichen, sperrt Sing Sing beide Parteien auf einem unübersichtlichen Gelände zusammen, das nicht einmal von den Schießtürmen ganz zu überwachen ist.

Conovers Bericht ist beeindruckend und beklemmend, weil er den ungeheuren Streß fühlbar macht, dem die Vollzugsbeamten in dieser Welt tagtäglich ausgesetzt sind. Auch der getarnte Journalist will seine Arbeit zunächst einmal einfach nur gut machen - und ist, bei ständig wechselnden Aufgaben in der Riesenanlage, schockhaft konfrontiert mit einer komplexen und nicht auf den Nenner des Vollzugshandbuchs zu bringenden sozialen Welt. Die schiere Zahl der Gefangenen, ihre unterschiedlichen kriminellen Hintergründe und Straflängen, die Vielzahl nicht behandelter psychischer Erkrankungen, die ethnischen Gangs und Subkulturen, das ganz unterschiedliche Aggressionspotential der Häftlinge: All das bedingt, daß die toten Buchstaben der Gefängnisordnung erst auf den Galerien vor den Zellenreihen in den lebendigen Geist des "Vollzugs" übersetzt werden können.

Welche Regeln tatsächlich einzuhalten und durchzusetzen sind, muß unterschwellig zwischen beiden Interessengruppen ausgehandelt werden. Die Folge solcher erzwungenen Gestaltungsspielräume sind individuell verschiedene Vollzugsstile, denen sich die Beamtenneulinge bei ständig wechselnden Vorgesetzten in vorauseilendem Gehorsam anpassen müssen. Das wichtigste, entdeckt Conover nach fünf Monaten, ist herauszufinden, was für ein Typ man ist in seiner Uniform: Häftlingsfreund oder Häftlingsfeind, Gewaltanwender oder Strafzettelschreiber, distanziert oder hilfsbereit. Seine eigene Verhärtung, seinen wachsenden Zynismus notiert der Autor ebenso freimütig wie die Situationen des Scheiterns, des Zusammenbruchs seiner Autorität.

Conovers Buch besticht durch die Detailfülle; dadurch, daß es einen exemplarischen Arbeitstag ebenso anschaulich schildert wie die vielfältigen Schwierigkeiten, die sich allein aus dem Umstand ergeben, daß auch im Gefängnis die Menschen essen, arbeiten, Sport treiben, duschen und zum Arzt gehen müssen. Mit allen regulären wie irregulären Bedürfnissen sind die Häftlinge "auf eine einzige Person angewiesen: ihren Galerie-Beamten. Statt sich als großer, starker Wachmann zu fühlen, kommt sich der Galerie-Beamte am Ende des Tages oft vor wie ein Ober mit hundert zu bedienenden Tischen oder wie die Mutter einer alptraumhaft großen Brut von störrischen, gefährlichen und quengeligen Kindern. Wenn man erwachsene Männer infantilisiert, bekommt das den meisten nicht gut."

Obendrein ist die Inhaftierungspolitik für den Autor selbst zu einem gesellschaftlichen Problem geworden. Fünfzig der einundsiebzig Gefängnisse des Staates New York entstanden in den letzten fünfundzwanzig Jahren, die Häftlingszahl wurde nicht zuletzt durch die amerikanische Drogengesetzgebung mit ihren obligatorischen Haftstrafen von 12 500 auf 70 000 hochgetrieben. Conover spricht von einer eigenen "Empowerment-Kultur", die sich um das Gefängnis herum entwickelt hat. Junge Angehörige ethnischer Minderheiten kennen in der Regel bereits so viele Freunde und Verwandte, die hinter Gittern sitzen oder saßen, daß ihnen eine Gefängnisstrafe als beinahe selbstverständliche Station auf dem Lebensweg erscheint, "fast schon als eine Art Mannbarkeitsritus".

In das größte deutsche Gefängnis hat Hans-Joachim Neubauer hineingehorcht - mit Zustimmung der Anstaltsleitung. In der Justizvollzugsanstalt Tegel leben mehr als 1700 Männer aus fast fünfzig Nationen; drei Dutzend von ihnen hat der Berliner Journalist interviewt. In seinem "Bericht aus einem Gefängnis" läßt er sie ihre kriminellen Vorgeschichten in der ersten Person erzählen; vom Leben in der Anstalt berichtet eine Art Sammel-Erzählstimme, ein "er", in das die Schilderungen vieler Befragter eingegangen sind. Geschickt schaltet Neubauer zwischen diesen beiden Ebenen seiner O-Ton-Collage hin und her, wie überhaupt ihre wohl durch Bearbeitung und Straffung erzielte lakonische Knappheit überaus effektvoll ist.

Im Zentrum seines Buches steht die Zeit, schreibt der Autor, und es finden sich eindringliche Formulierungen für ihre lastende Leere. In hundert kleinteilig geregelte Abläufe und ein großes abstraktes Verbringen zerfällt die lange Dauer, man spürt, daß sie kein Medium eines Lebensvollzugs mehr ist. Und vielleicht hängt damit ja die eigenartige Versteinerung der Sprache zusammen, die an den individuellen Erzählungen auffällt, der Blick wie von außen, mit dem sich die Häftlinge ihre fehlgegangene Lebensgeschichte zurechtlegen.

Die eigene Schuld wirkt wie etwas Fremdes, aus der Perspektive Dritter betrachtet, zugestanden, aber nicht angeeignet. Immer wieder stoßen wir auf Begriffe aus dem Gerichtssaal, die einer insgeheim entlastenden, die eigene Tat gewissermaßen naturalisierenden Selbstbeschreibung dienen. Einer fesselt eine betrunkene Frau und steht dann, weil die gefesselte "Person" zu schreien beginnt, vor einer "Folgealternative"; am Ende ist die Frau erstickt. Verbrechen und Strafe werden im Bewußtsein des Mannes wie Hut und Mantel über denselben Haken eines juristischen Begriffs geworfen, der ihm die Frage von Schuld und Sühne verdecken hilft: "Mann, jetzt hast du irgendwas Schlimmes gemacht, dafür wirst du bestimmt bestraft, weil sie eben übertriebene Notwehr geleistet hat."

Mehrere Befragte beschreiben eine Kurve der Zeiterfahrung im Gefängnis. Anfangs scheinen viele Gefangene ihre Situation noch anzunehmen, sich aktiv zu ihr zu verhalten. Nach einigen Jahren aber sinken sie ins Bodenlose. Einer sagt: "Zwar muß man schon eine gewisse Zeit sitzen und muß den Schock spüren, daß man zu sich selber sagt: ,Ich mach das nie wieder.' Aber wenn man zu lange sitzt, ist der Schock weg, dann wird dies Alltag . . . Aber nach zwei, drei Jahren, vielleicht nach vier, um eine Grenze zu setzen, verlieren viele ihre guten Seiten, ihre Skrupel. Der Tod und die Werte des Lebens spielen dann keine Rolle mehr. Das einzige, was er nicht möchte, ist, wieder straffällig zu werden." Das wäre, denkt man, viel. Aber ist es nicht zu wenig?

MICHAEL ADRIAN

Ted Conover: "Vorhof der Hölle". Undercover in Sing Sing. Mit einem Vorwort von Günter Wallraff. Aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann u. Sabine Grebing. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001. 400 S., geb., 24,90 [Euro].

Hans-Joachim Neubauer: "Einschluss". Bericht aus einem Gefängnis. Berlin Verlag, Berlin 2001. 167 S., geb., 18 [Euro].

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