Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2015Verstehen Sie Einstein?
Heute vor hundert Jahren wurde die Allgemeine Relativitätstheorie veröffentlicht. Wer sie auch ohne Physikstudium in Grundzügen begreifen will, schlägt am besten bei ihrem Urheber selbst nach. Zwei Neuerscheinungen helfen dabei.
Der britische Astrophysiker Sir Arthur Eddington wurde einer Forscheranekdote zufolge einmal gefragt, ob es denn stimme, dass es auf der Welt nur drei Menschen gibt, die Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie verstehen. Darauf soll Eddington mit einer Gegenfrage geantwortet haben: "Wer ist denn der dritte?"
In seiner Speziellen Relativitätstheorie war es Einstein im Jahr 1905 gelungen, Ungereimtheiten zwischen Elektrodynamik und Newtonscher Mechanik durch eine Neuinterpretation der Begriffe von Raum und Zeit zu beseitigen. Ein Jahrzehnt später hatte er diesen Ansatz zu einer umfassenden Theorie der Schwerkraft ausgebaut: die Allgemeinen Relativitätstheorie. Ihre mutmaßliche Unverständlichkeit trug fraglos zu Einsteins Erhebung zum Jahrhundertgenie im Jahr 1919 bei, in das obige Anekdote sicher nicht zufällig oft datiert wird.
Da hatten Beobachtungen von Sternpositionen während einer Sonnenfinsternis die zweite empirische Stütze der Theorie geliefert und ihren Schöpfer über Fachkreise hinaus berühmt gemacht. Die erste Stütze freilich, den korrekten Wert einer mit der Newtonschen Physik nicht erklärbaren Bahnverschiebung des Planeten Merkur, hatte Einstein selbst abgeleitet, als er die Theorie im November 1915 in vier Beiträgen zu den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften vorstellte. Der vierte erschien am 25. November 1915, vor genau hundert Jahren.
Dass die vier Veröffentlichungen jenes Novembers eine früher publizierte Version der Theorie verwarfen und sich zudem von einem Akademie-Termin zum nächsten korrigierten, mag zu dem Unverständlichkeits-Mythos beigetragen haben. Ebenso der dahinterstehende Umstand, dass Einstein sein Geniestreich alles andere als leichtgefallen war und er in den insgesamt acht Jahren der Arbeit daran allergrößte konzeptionelle und vor allem mathematische Schwierigkeiten hatte überwinden müssen. Die präsentierte Theorie wurde schnell und durchaus nicht nur von Eddington rezipiert. Bereits im Februar 1916 konnte der Astronom Karl Schwarzschild erste exakte Lösungen der neuen Gleichungen veröffentlichen.
Aber wie steht es mit den interessierten Laien? Haben die eine Chance, diese vermutlich größte wissenschaftliche Einzelleistung der Neuzeit zu verstehen? Es kommt darauf an. Die Theorie anzuwenden, also etwa ihre Konsequenzen für das Verhalten von Licht oder Materie in sehr starken Gravitationsfeldern zu untersuchen, das bleibt sicher denen vorbehalten, die sich zuvor in Differentialgeometrie und Tensoranalysis eingearbeitet haben. Doch die Grundzüge der Theorie, warum sie notwendig war und worin sie sich konzeptionell von der Newtons unterscheidet, kurz alles, was man wissen muss, um ihre naturphilosophische Bedeutung zu ermessen, das ist durchaus auch Laien zugänglich. Denn dafür hat Einstein selbst gesorgt. Bereits 1916 verfasste er ein schmales Büchlein mit dem Titel "Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie (Gemeinverständlich)". Es erscheint mittlerweile in der 24. deutschen Auflage und wurde in alle bedeutenden Sprachen übersetzt. Nun, zum hundertsten Geburtstag der Theorie ist es (vorläufig leider nur auf Englisch) in einer kommentierten Ausgabe erschienen.
Darin haben Hanoch Gutfreund von der Hebräischen Universität Jerusalem und Jürgen Renn vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin Einsteins Text einen ausführlichen "Lesebegleiter" beigefügt. Dieser bietet einerseits eine Führung durch die Entwicklung von Einsteins Vorstellungen zu Raum, Zeit und Schwerkraft und kann dabei auf die neusten wissenschaftshistorischen Forschungsergebnisse zurückgreifen, zu denen die Autoren selbst beigetragen haben. Andererseits erleichtern ihre Kommentare durch ihre paraphrasierenden und gliedernden Abschnitte die Lektüre von Einsteins Text auch inhaltlich.
Denn man mache sich nichts vor: Ein populärwissenschaftliches Buch im heutigen Sinne ist Einsteins Bändchen nicht. Es kommen durchaus Formeln vor, was bereits manchen Zeitgenossen Einsteins, darunter etwa Alfred Döblin, nicht wenig erschreckte, auch wenn die Sphäre der Mittelstufenmathematik nie verlassen wird. Allerdings bedarf es einer genauen Lektüre, um von dem knappen, aber klaren Stil zu profitieren. Einstein geht immerhin so weit, in einem Anhang eine zentrale Formel der Speziellen Relativitätstheorie, die sogenannte Lorentz-Transformation, abzuleiten. Wer sich an die Mathestunden seiner zehnten Klasse nur noch dunkel erinnert, für den ist das keine ganz einfache Kost, aber der Lohn ist ein deutlich tieferes Verständnis als das, was die meisten Wissenschaftspopularisierer unserer Tage liefern können, Stephen Hawking eingeschlossen. Allenfalls die Bücher des Briten Roger Penrose reichen an gedanklicher Tiefe und didaktischem Geschick an Einstein heran.
Für alle, die einen detaillierten Einblick in die Entstehung der Allgemeinen Relativitätstheorie gewinnen möchten, haben Gutfreund und Renn noch einen anderen Band herausgebracht. "The Road to Relativity" ist bis dato ebenfalls nur auf Englisch zu haben und bietet eine ausführliche kommentierte Ausgabe des im Faksimile abgedruckten Originalmanuskriptes der "Grundlagen der Allgemeinen Relativitätstheorie." Auf diesen einundfünfzig handgeschriebenen Seiten, die sich seit 1925 im Besitz der Hebräischen Universität in Jerusalem befinden, ordnete Einstein Anfang 1916 das Material seiner vier Akademie-Beiträge für eine gedruckte Publikation in den "Annalen der Physik", die im Mai 1916 erschien. Es handelt sich also um die offizielle Endfassung der Theorie.
Als eine Fachpublikation ist dieser Text Laien weitgehend unzugänglich, doch Gutfreunds und Renns Anmerkungen geben eine gute Hilfestellung und erklären nicht nur wichtige technische Begriffe, wie etwa den metrischen Tensor, sondern gehen auch auf komplexere differentialgeometrische Objekte wie die Christoffel-Symbole ein und verdeutlichen manchen Sachverhalt durch kleine Skizzen. Damit wollen die Autoren aber keine Einführung in die Allgemeine Relativitätstheorie geben, sondern dem Leser einen Eindruck von den verschlungenen Wegen und Abwegen ermöglichen, auf denen Einstein schließlich zum Erfolg fand. Zu diesem Zweck haben die Autoren auch Stellen aus anderen Quellen, ebenfalls faksimiliert, in die Ausgabe aufgenommen, insbesondere aus Einsteins "Züricher Notizbuch" der Jahre 1912/1913. Wer das so genau dann doch nicht wissen will, dem bleibt ein brillanter Einführungsessay und ein nicht minder interessantes "Postskriptum" darüber, wie die Geschichte nach 1916 weiterging.
Es gibt vermutlich kaum eine zweite wissenschaftliche Einzelveröffentlichung, bei deren historischen Erforschung und Darstellung ein solcher Aufwand getrieben wurde wie bei Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie. Aber dieser Aufwand ist nicht nur durch die epochale Bedeutung dieser Theorie gerechtfertigt, sondern vielleicht auch gerade deshalb, weil sie in der Öffentlichkeit so sehr im Ruf der Schwierigkeit steht. Den Mühen und Verirrungen Einsteins nachzuspüren tut seinem Ruhm keinen Abbruch, schützt ihn aber vor einem verqueren Geniekult, wie er heutige und zukünftige Forscher nur abschrecken kann - anstatt sie zu jener Beharrlichkeit zu ermuntern, ohne die Einstein sein Ziel gar nicht erreicht hätte.
ULF VON RAUCHHAUPT
Albert Einstein: "Relativity". The Special & The General Theory. With commentaries and background material by Hanoch Gutfreund and
Jürgen Renn. Princeton University Press, Princeton, New Jersey 2015. 320 S., geb., 23,95 [Euro].
Hanoch Gutfreund, Jürgen Renn: "The Road to Relativity". The History and Meaning of Einstein's, ,The Foundation of General Relativity'.
Princeton University Press, Princeton, New Jersey 2015. 264 S., geb., 35,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heute vor hundert Jahren wurde die Allgemeine Relativitätstheorie veröffentlicht. Wer sie auch ohne Physikstudium in Grundzügen begreifen will, schlägt am besten bei ihrem Urheber selbst nach. Zwei Neuerscheinungen helfen dabei.
Der britische Astrophysiker Sir Arthur Eddington wurde einer Forscheranekdote zufolge einmal gefragt, ob es denn stimme, dass es auf der Welt nur drei Menschen gibt, die Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie verstehen. Darauf soll Eddington mit einer Gegenfrage geantwortet haben: "Wer ist denn der dritte?"
In seiner Speziellen Relativitätstheorie war es Einstein im Jahr 1905 gelungen, Ungereimtheiten zwischen Elektrodynamik und Newtonscher Mechanik durch eine Neuinterpretation der Begriffe von Raum und Zeit zu beseitigen. Ein Jahrzehnt später hatte er diesen Ansatz zu einer umfassenden Theorie der Schwerkraft ausgebaut: die Allgemeinen Relativitätstheorie. Ihre mutmaßliche Unverständlichkeit trug fraglos zu Einsteins Erhebung zum Jahrhundertgenie im Jahr 1919 bei, in das obige Anekdote sicher nicht zufällig oft datiert wird.
Da hatten Beobachtungen von Sternpositionen während einer Sonnenfinsternis die zweite empirische Stütze der Theorie geliefert und ihren Schöpfer über Fachkreise hinaus berühmt gemacht. Die erste Stütze freilich, den korrekten Wert einer mit der Newtonschen Physik nicht erklärbaren Bahnverschiebung des Planeten Merkur, hatte Einstein selbst abgeleitet, als er die Theorie im November 1915 in vier Beiträgen zu den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften vorstellte. Der vierte erschien am 25. November 1915, vor genau hundert Jahren.
Dass die vier Veröffentlichungen jenes Novembers eine früher publizierte Version der Theorie verwarfen und sich zudem von einem Akademie-Termin zum nächsten korrigierten, mag zu dem Unverständlichkeits-Mythos beigetragen haben. Ebenso der dahinterstehende Umstand, dass Einstein sein Geniestreich alles andere als leichtgefallen war und er in den insgesamt acht Jahren der Arbeit daran allergrößte konzeptionelle und vor allem mathematische Schwierigkeiten hatte überwinden müssen. Die präsentierte Theorie wurde schnell und durchaus nicht nur von Eddington rezipiert. Bereits im Februar 1916 konnte der Astronom Karl Schwarzschild erste exakte Lösungen der neuen Gleichungen veröffentlichen.
Aber wie steht es mit den interessierten Laien? Haben die eine Chance, diese vermutlich größte wissenschaftliche Einzelleistung der Neuzeit zu verstehen? Es kommt darauf an. Die Theorie anzuwenden, also etwa ihre Konsequenzen für das Verhalten von Licht oder Materie in sehr starken Gravitationsfeldern zu untersuchen, das bleibt sicher denen vorbehalten, die sich zuvor in Differentialgeometrie und Tensoranalysis eingearbeitet haben. Doch die Grundzüge der Theorie, warum sie notwendig war und worin sie sich konzeptionell von der Newtons unterscheidet, kurz alles, was man wissen muss, um ihre naturphilosophische Bedeutung zu ermessen, das ist durchaus auch Laien zugänglich. Denn dafür hat Einstein selbst gesorgt. Bereits 1916 verfasste er ein schmales Büchlein mit dem Titel "Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie (Gemeinverständlich)". Es erscheint mittlerweile in der 24. deutschen Auflage und wurde in alle bedeutenden Sprachen übersetzt. Nun, zum hundertsten Geburtstag der Theorie ist es (vorläufig leider nur auf Englisch) in einer kommentierten Ausgabe erschienen.
Darin haben Hanoch Gutfreund von der Hebräischen Universität Jerusalem und Jürgen Renn vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin Einsteins Text einen ausführlichen "Lesebegleiter" beigefügt. Dieser bietet einerseits eine Führung durch die Entwicklung von Einsteins Vorstellungen zu Raum, Zeit und Schwerkraft und kann dabei auf die neusten wissenschaftshistorischen Forschungsergebnisse zurückgreifen, zu denen die Autoren selbst beigetragen haben. Andererseits erleichtern ihre Kommentare durch ihre paraphrasierenden und gliedernden Abschnitte die Lektüre von Einsteins Text auch inhaltlich.
Denn man mache sich nichts vor: Ein populärwissenschaftliches Buch im heutigen Sinne ist Einsteins Bändchen nicht. Es kommen durchaus Formeln vor, was bereits manchen Zeitgenossen Einsteins, darunter etwa Alfred Döblin, nicht wenig erschreckte, auch wenn die Sphäre der Mittelstufenmathematik nie verlassen wird. Allerdings bedarf es einer genauen Lektüre, um von dem knappen, aber klaren Stil zu profitieren. Einstein geht immerhin so weit, in einem Anhang eine zentrale Formel der Speziellen Relativitätstheorie, die sogenannte Lorentz-Transformation, abzuleiten. Wer sich an die Mathestunden seiner zehnten Klasse nur noch dunkel erinnert, für den ist das keine ganz einfache Kost, aber der Lohn ist ein deutlich tieferes Verständnis als das, was die meisten Wissenschaftspopularisierer unserer Tage liefern können, Stephen Hawking eingeschlossen. Allenfalls die Bücher des Briten Roger Penrose reichen an gedanklicher Tiefe und didaktischem Geschick an Einstein heran.
Für alle, die einen detaillierten Einblick in die Entstehung der Allgemeinen Relativitätstheorie gewinnen möchten, haben Gutfreund und Renn noch einen anderen Band herausgebracht. "The Road to Relativity" ist bis dato ebenfalls nur auf Englisch zu haben und bietet eine ausführliche kommentierte Ausgabe des im Faksimile abgedruckten Originalmanuskriptes der "Grundlagen der Allgemeinen Relativitätstheorie." Auf diesen einundfünfzig handgeschriebenen Seiten, die sich seit 1925 im Besitz der Hebräischen Universität in Jerusalem befinden, ordnete Einstein Anfang 1916 das Material seiner vier Akademie-Beiträge für eine gedruckte Publikation in den "Annalen der Physik", die im Mai 1916 erschien. Es handelt sich also um die offizielle Endfassung der Theorie.
Als eine Fachpublikation ist dieser Text Laien weitgehend unzugänglich, doch Gutfreunds und Renns Anmerkungen geben eine gute Hilfestellung und erklären nicht nur wichtige technische Begriffe, wie etwa den metrischen Tensor, sondern gehen auch auf komplexere differentialgeometrische Objekte wie die Christoffel-Symbole ein und verdeutlichen manchen Sachverhalt durch kleine Skizzen. Damit wollen die Autoren aber keine Einführung in die Allgemeine Relativitätstheorie geben, sondern dem Leser einen Eindruck von den verschlungenen Wegen und Abwegen ermöglichen, auf denen Einstein schließlich zum Erfolg fand. Zu diesem Zweck haben die Autoren auch Stellen aus anderen Quellen, ebenfalls faksimiliert, in die Ausgabe aufgenommen, insbesondere aus Einsteins "Züricher Notizbuch" der Jahre 1912/1913. Wer das so genau dann doch nicht wissen will, dem bleibt ein brillanter Einführungsessay und ein nicht minder interessantes "Postskriptum" darüber, wie die Geschichte nach 1916 weiterging.
Es gibt vermutlich kaum eine zweite wissenschaftliche Einzelveröffentlichung, bei deren historischen Erforschung und Darstellung ein solcher Aufwand getrieben wurde wie bei Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie. Aber dieser Aufwand ist nicht nur durch die epochale Bedeutung dieser Theorie gerechtfertigt, sondern vielleicht auch gerade deshalb, weil sie in der Öffentlichkeit so sehr im Ruf der Schwierigkeit steht. Den Mühen und Verirrungen Einsteins nachzuspüren tut seinem Ruhm keinen Abbruch, schützt ihn aber vor einem verqueren Geniekult, wie er heutige und zukünftige Forscher nur abschrecken kann - anstatt sie zu jener Beharrlichkeit zu ermuntern, ohne die Einstein sein Ziel gar nicht erreicht hätte.
ULF VON RAUCHHAUPT
Albert Einstein: "Relativity". The Special & The General Theory. With commentaries and background material by Hanoch Gutfreund and
Jürgen Renn. Princeton University Press, Princeton, New Jersey 2015. 320 S., geb., 23,95 [Euro].
Hanoch Gutfreund, Jürgen Renn: "The Road to Relativity". The History and Meaning of Einstein's, ,The Foundation of General Relativity'.
Princeton University Press, Princeton, New Jersey 2015. 264 S., geb., 35,- [Euro].
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