Peter Hurd, Altphilologe und Mythenforscher, kommt zu einer Lesung nach Sarajevo - wenige Tage vor Beginn des Krieges. Als sein Übersetzer und Bewunderer Rajko ihn am Busbahnhof wieder verabschieden will, fasst Peter spontan den Entschluss zu bleiben: die Chance, mitzuerleben, wie Menschen sich in Extremsituationen verhalten, will er sich nicht entgehen lassen. Mit Rajko teilt er den Alltag, er begleitet ihn durch die unter Granatenbeschuss liegenden Nachbarschaft, lernt Freunde und Verwandte kennen, auch Sanja, in die er sich verliebt. Eines Tages macht er sich allein auf den Weg und kehrt zurück, kaum wiederzuerkennen ...
Noch nie hat Karahasan, der literarische Chronist Sarajevos, so eindringlich und facettenreich davon erzählt, was es bedeutet, in einer eingekesselten, von Rauchschwaden und Gestank durchzogenen Stadt die Tage und Nächte zu überstehen und dennoch die Hoffnung und den Humor nicht zu verlieren. Um eine unsichtbare Achse kreisend, lotet seine Geschichte eine ethische und existentielle Grenzerfahrung aus - die Einübung ins Schweben.
Noch nie hat Karahasan, der literarische Chronist Sarajevos, so eindringlich und facettenreich davon erzählt, was es bedeutet, in einer eingekesselten, von Rauchschwaden und Gestank durchzogenen Stadt die Tage und Nächte zu überstehen und dennoch die Hoffnung und den Humor nicht zu verlieren. Um eine unsichtbare Achse kreisend, lotet seine Geschichte eine ethische und existentielle Grenzerfahrung aus - die Einübung ins Schweben.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Intellektueller Wahnsinn: Das ist das prägende Momentum im neuen Roman von Dževad Karahasan, konstatiert Rezensent Malte Osterloh, dem vor der Figur des Peter Hurd genauso graut wie er seinen Erfinder bewundert. Erzählt wird von der Belagerung Sarajevos, die im August 1995 begann. Ein Altphilologe aus Wales besucht einen bosnischen Schriftsteller. In den gelehrten Gesprächen der beiden wird schnell klar: Für den Gast ist der Krieg ein Selbsterfahrungstrip, in dem er Leid und Zerstörung nicht nur ignoriert, sondern als Vehikel nutzt, um wie Dante durch die Hölle zu schreiten. Obwohl in diesem Roman von Karahasan gelacht und getanzt wird, schreibt der Rezensent, zerbrechen die beiden Protagonisten am Ende zwangsläufig an ihren Erfahrungen, Grenzen zu übertreten. Besonders die plastische Zeichnung der Figuren hat Osterloh erneut davon überzeugt, dass der Goethepreisträger Karahasan ein Meister der Erinnerung ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.01.2023Die Seelen der
Ermordeten
Dževad Karahasan versuchte jahrzehntelang einen
Roman über die Belagerung Sarajevos zu schreiben.
Jetzt hat er es in einer ganz eigenen Form geschafft
VON LOTHAR MÜLLER
Die erzählende Prosa sei unverbrüchlich mit der Stadt verbunden, hat der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan in einem seiner Essays geschrieben. Er ist in der Provinz geboren, sie war in diesem Satz mitgemeint. Auch das Leben auf dem Lande ist in der Literatur der Stadt enthalten, wächst mit ihr. 1953 kam Karahasan in Duvno, im noch jungen sozialistischen Jugoslawien der Nachkriegszeit zur Welt. Er wird jetzt also 70 Jahre alt.
1972 ging er nach Sarajevo, um zu studieren. Er hat an den Theatern dieser Stadt gearbeitet, in ihren Zeitschriften publiziert, unterrichtet seit 1986 an ihrer Akademie der szenischen Künste. Mit Sarajevo ist sein Werk verbunden, von den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien tief geprägt. Die Übersetzungen seines „Tagebuch der Aussiedlung“ von 1993 machten ihn auch international bekannt. Hier hatte jemand das städtische Leben gegen den Beschuss und die Belagerung verteidigt.
In den „Marindvorer Fragmenten“ war das Stadtviertel porträtiert, aus dem er nach Graz ausreiste. An Karahasans Essays und Interviews sieht man, wie er mit sarkastischem Spott auf die Sortierung der Menschen nach ethnischen oder religiösen Zugehörigkeiten reagierte. Durch seine Wohnung wollte er, der bosnische Muslim, keine Demarkationslinien gezogen wissen, die ihn von seiner serbischen Frau abtrennten. Mit dem Protest gegen die Übergriffe der Logik der Staaten auf seine Stadt begnügte er sich nicht. Er machte zugleich die Literatur haftbar, nahm dem Erzählen den Anschein der Harmlosigkeit. Hatten nicht die Kriege im zerfallenden Jugoslawien lange vor ihrem Ausbruch in der Sprache begonnen, hatten nicht die mythisierenden Erzählungen von alten Schlachtfeldern die neuen Schlachten vorbereitet?
Als Dževad Karahasan 1998 in seinen alten Stadtteil Marindvor zurückkehrte und fortan zwischen Sarajevo und Graz pendelte, machte er sich an einen Roman über den Beginn der Belagerung von Sarajevo im April 1992. Die erzählerische Rückkehr in die Stadt unter Beschuss scheiterte vorerst, blieb Fragment, verschwand in der Schublade. Doch Ruhe gab der Entwurf nicht. Vor einiger Zeit holte der Autor ihn wieder hervor. 30 Jahre nach Beginn des Krieges in Bosnien und Herzegowina ist das Original des Romans „Einübung ins Schweben“ erschienen, jetzt gibt es ihn auch in der deutschen Übersetzung von Katharina Wolf-Grießhaber. Nicht lange nach der überarbeiteten und durch einige Essays vermehrten Neuausgabe des „Tagebuch der Aussiedlung“, das nun, seit 2021, „Tagebuch der Übersiedlung“ heißt.
Der neue Titel markiert den Kern des großen Projekts, das Karahasan in Prosa, Theaterstücken und Essays verfolgt. Nicht er, der Autor, siedelt aus seiner Stadt aus, vielmehr arbeitet er in allen Formen, die ihm zur Verfügung stehen, an der Übersiedlung des belagerten, zerschossenen, im Innern verletzten Sarajevo und seiner Bewohner in den Raum der Literatur. Schon im Roman „Sara und Serafina“ aus dem Jahr 2000 gab es die Granaten und Scharfschützen, die gefälschten Ausreisedokumente, den Tunnel unter dem Flugplatz. Schon dort war das literarische Sarajevo Karahasans nicht mit sich selbst allein, es war mit den Traditionen des Erzählens über Sarajevo verbunden. Nicht anders war es in den fünf Geschichten des Bandes „Ein Haus für die Müden“ von 2019, in dem Stadt und Provinz den historischen Attacken ausgesetzt sind. Manchmal grenzt Karahasans Sarajevo an das von Ivo Andrić, der in seiner Erzählung „Brief aus dem Jahre 1920“ das Leben in einer Nachkriegszeit verdichtete, die nicht wusste, dass sie zugleich Vorkriegszeit war.
Als ein großer, langer Brief aus dem Jahr 1994 lässt sich der Roman „Einübung ins Schweben“ lesen. Ein gewisser Rajko Šurup hat ihn geschrieben, der im Spätherbst 1992 aus seiner Heimatstadt Sarajevo nach Monreale auf Sizilien ausgereist ist. Er steht der Belagerung zeitlich näher steht als sein Autor. Dass es diesen Rajko überhaupt gibt, hat damit zu tun, dass Karahasan ungern von sich selbst aus geht. Er bevorzugt das indirekte Erzählen und hat einmal im „Phaidon“ seines Lieblingsphilosophen Platon seine eigene Poetik wiedergefunden. Darin ist Platon laut Aussage Phaidons wegen Krankheit abwesend, obwohl doch dieser Dialog vom Tod des Sokrates handelt, dem bedeutendsten Ereignis aller platonischen Dialoge.
Ein Meister-Schüler-Verhältnis gibt dem Roman „Einübung ins Schweben“ sein Gerüst. Rajko, ein noch junger Mann, ist ein Adept und schwärmerischer Bewunderer des international berühmten walisischen Mythologen und Altphilologen Peter Hurd, eines Kenners der antiken Mysterienkulte, zu dessen Projekten eine „Anthropologie des Todes“ gehört. Er ist der Übersetzer von Hurds Büchern „Die Hymnen der dunklen Welt“ und „Das Flüstern der Muschel“ und überdies freiberuflicher Dichter. Zur Vorstellung seines neuen Buches „Die weiße Wölfin“ ist Hurd nach Sarajevo gekommen, kurz vor Kriegsbeginn und dem Beginn der Belagerung in der Nacht vom 4. auf den 5. April 1992. Fasziniert vom Ausnahmezustand, von der Aussicht, dem unter Todesdrohung stehenden Leben zu begegnen, bricht er am 8. April seine Rückreise ab und bleibt für fast ein halbes Jahr in der Stadt. Nicht nur die Stadt unterliegt in diesen fünf, sechs Monaten den Kräften der Zerstörung. Der Mythologe erleidet einen tiefen Zusammenbruch seines Geistes, seiner gesamten Existenz. Dieser Zusammenbruch ist nicht der End-, sondern der Ausgangspunkt des Romans.
Einmal scheint es, als lege Karahasan dem Anthropologen des Todes die Erklärung des Romantitels in den Mund: „Hier schwebt alles. Rauch schwebt über zahllosen Brandstätten, über der ganzen Stadt, in der ständig etwas brennt. Die Seelen der Ermordeten und Unbestatteten schweben über und um uns. Fliegen schweben über Müllhaufen und Leichen. Unsere rauschgiftabhängigen Freunde schweben, und jetzt, da, schweben auch die Vögel. Und das ganze Schweben spielt sich in der schwersten Stadt der Welt ab.“ Doch ist Peter Hurd und dem, was er sagt, mit Vorsicht zu begegnen. Mal ist er kluger, mal zynischer Egoist, der für den Drogenrausch die Aufschwünge des Geistes verrät, rücksichtslos das erotische Abenteuer mit einer Heranwachsenden sucht und die Lehre von der für das Zusammenleben unabdingbaren Kraft der Formen, die er selbst vertreten hat, in der Lust am Ausnahmezustand untergehen lässt. Der Bericht über den Untergang des Todesanthropologen in Sarajevo ist zugleich die Geschichte der Desillusionierung des Erzählers über den Helden, dem er über den Zusammenbruch hinaus treu bleibt, als Hüter eines nahezu erloschenen, gelegentlich wieder aufflammenden Geistes.
In dieser Geschichte vom Absturz eines Idols in die Niederungen des heulenden Elends wirken Rajko & Hurd manchmal wie ein groteskes Komiker-Duo. Ihre Freundschaft und ihren Clinch, ihre Illusionen und Selbstbespiegelungen, ihre Essays über die Scham oder den baskischen Autor Miguel Unamuno am Beginn des Spanischen Bürgerkriegs bettet Karahasan ein in Geschichten aus dem belagerten Sarajevo, die alle ihr Eigenrecht haben, die Meister-Schüler-Geschichte umspielen, korrigieren, kommentieren, statt sich ihr unterzuordnen. Weil Rajko alle diese Geschichten erzählt, ist er nicht nur der Schüler seines Meisters, sondern zugleich die Stimme der Stadt. Ein Imam verheiratet eine junge Frau mit einem Toten, den ein blutiges Hemd vertritt. Eine junge Sängerin singt weiter, während eine Granate ein dreißig Meter entferntes Auto trifft. Wie eine Epidemie geht das Monologisieren um. Durch viele Münder geht die Wolke roter Blütenblätter, in die sich der von einer Granate getroffene Šaćir Mujezinović auflöst.
Ein schon vor dem Krieg misanthropischer junger Mann bringt seine Freundin dazu, ihn zu erschießen. Dänen aus dem Unprofor-Bataillon verkaufen erstklassiges Gras und anderen Stoff auf dem Markale-Platz. Die Not von Rajkos Mutter Ljuba angesichts der bei Stromausfall auftauenden Tiefkühlbestände führt tief hinein in die Baugeschichte Sarajevos. Alte Liebesgeschichten treten zutage. Während am Ende Rajko bei seiner Ausreise zeitweilig festgesetzt und von seinem Meister getrennt wird, kehrt dieser an den Rand Sarajevos zurück und wird – möglicherweise – selbst zum Schützen auf die Stadt.
Mit dieser „Einübung ins Schweben“ hat Karahasan seinem Projekt der Übersiedlung Sarajevos einen beeindruckenden Roman hinzugefügt. Aus der Verflechtung der negativen Legende mit einem Kranz knapper Novellen gewinnt er seine erzählerische Dichte. „Mir ist nur der Verlust meiner Stadt passiert, und der ist mir wirklich passiert“, schreibt der Erzähler am Ende. Und das belagerte Sarajevo des Jahres 1992, in dem selbst gefertigte Öllampen für die notdürftige Beleuchtung der Bunker sorgen, rückt in die Nähe der ukrainischen Städte der Gegenwart.
Das Monologisieren
geht um wie eine
Epidemie
Dževad Karahasan, geboren 1953, studierte in Sarajevo. Sein „Tagebuch der Aussiedlung“ von 1993, in dem er das städtische Leben gegen Beschuss und Belagerung verteidigte, machten ihn auch international bekannt. Foto: Suhrkamp
„Hier schwebt alles. Rauch schwebt über zahllosen Brandstätten. Die Seelen der Ermordeten und Unbestatteten schweben über und um uns.“ Die brennenden Momo-und-Uzeir Türme in Sarajevo am 8. Juni 1992.
Foto: GEORGES GOBET/AFP
Dževad Karahasan:
Einübung ins Schweben. Roman. Aus dem
Bosnischen von Katharina Wolf-Grieshaber.
Suhrkamp, Berlin 2023.
304 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ermordeten
Dževad Karahasan versuchte jahrzehntelang einen
Roman über die Belagerung Sarajevos zu schreiben.
Jetzt hat er es in einer ganz eigenen Form geschafft
VON LOTHAR MÜLLER
Die erzählende Prosa sei unverbrüchlich mit der Stadt verbunden, hat der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan in einem seiner Essays geschrieben. Er ist in der Provinz geboren, sie war in diesem Satz mitgemeint. Auch das Leben auf dem Lande ist in der Literatur der Stadt enthalten, wächst mit ihr. 1953 kam Karahasan in Duvno, im noch jungen sozialistischen Jugoslawien der Nachkriegszeit zur Welt. Er wird jetzt also 70 Jahre alt.
1972 ging er nach Sarajevo, um zu studieren. Er hat an den Theatern dieser Stadt gearbeitet, in ihren Zeitschriften publiziert, unterrichtet seit 1986 an ihrer Akademie der szenischen Künste. Mit Sarajevo ist sein Werk verbunden, von den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien tief geprägt. Die Übersetzungen seines „Tagebuch der Aussiedlung“ von 1993 machten ihn auch international bekannt. Hier hatte jemand das städtische Leben gegen den Beschuss und die Belagerung verteidigt.
In den „Marindvorer Fragmenten“ war das Stadtviertel porträtiert, aus dem er nach Graz ausreiste. An Karahasans Essays und Interviews sieht man, wie er mit sarkastischem Spott auf die Sortierung der Menschen nach ethnischen oder religiösen Zugehörigkeiten reagierte. Durch seine Wohnung wollte er, der bosnische Muslim, keine Demarkationslinien gezogen wissen, die ihn von seiner serbischen Frau abtrennten. Mit dem Protest gegen die Übergriffe der Logik der Staaten auf seine Stadt begnügte er sich nicht. Er machte zugleich die Literatur haftbar, nahm dem Erzählen den Anschein der Harmlosigkeit. Hatten nicht die Kriege im zerfallenden Jugoslawien lange vor ihrem Ausbruch in der Sprache begonnen, hatten nicht die mythisierenden Erzählungen von alten Schlachtfeldern die neuen Schlachten vorbereitet?
Als Dževad Karahasan 1998 in seinen alten Stadtteil Marindvor zurückkehrte und fortan zwischen Sarajevo und Graz pendelte, machte er sich an einen Roman über den Beginn der Belagerung von Sarajevo im April 1992. Die erzählerische Rückkehr in die Stadt unter Beschuss scheiterte vorerst, blieb Fragment, verschwand in der Schublade. Doch Ruhe gab der Entwurf nicht. Vor einiger Zeit holte der Autor ihn wieder hervor. 30 Jahre nach Beginn des Krieges in Bosnien und Herzegowina ist das Original des Romans „Einübung ins Schweben“ erschienen, jetzt gibt es ihn auch in der deutschen Übersetzung von Katharina Wolf-Grießhaber. Nicht lange nach der überarbeiteten und durch einige Essays vermehrten Neuausgabe des „Tagebuch der Aussiedlung“, das nun, seit 2021, „Tagebuch der Übersiedlung“ heißt.
Der neue Titel markiert den Kern des großen Projekts, das Karahasan in Prosa, Theaterstücken und Essays verfolgt. Nicht er, der Autor, siedelt aus seiner Stadt aus, vielmehr arbeitet er in allen Formen, die ihm zur Verfügung stehen, an der Übersiedlung des belagerten, zerschossenen, im Innern verletzten Sarajevo und seiner Bewohner in den Raum der Literatur. Schon im Roman „Sara und Serafina“ aus dem Jahr 2000 gab es die Granaten und Scharfschützen, die gefälschten Ausreisedokumente, den Tunnel unter dem Flugplatz. Schon dort war das literarische Sarajevo Karahasans nicht mit sich selbst allein, es war mit den Traditionen des Erzählens über Sarajevo verbunden. Nicht anders war es in den fünf Geschichten des Bandes „Ein Haus für die Müden“ von 2019, in dem Stadt und Provinz den historischen Attacken ausgesetzt sind. Manchmal grenzt Karahasans Sarajevo an das von Ivo Andrić, der in seiner Erzählung „Brief aus dem Jahre 1920“ das Leben in einer Nachkriegszeit verdichtete, die nicht wusste, dass sie zugleich Vorkriegszeit war.
Als ein großer, langer Brief aus dem Jahr 1994 lässt sich der Roman „Einübung ins Schweben“ lesen. Ein gewisser Rajko Šurup hat ihn geschrieben, der im Spätherbst 1992 aus seiner Heimatstadt Sarajevo nach Monreale auf Sizilien ausgereist ist. Er steht der Belagerung zeitlich näher steht als sein Autor. Dass es diesen Rajko überhaupt gibt, hat damit zu tun, dass Karahasan ungern von sich selbst aus geht. Er bevorzugt das indirekte Erzählen und hat einmal im „Phaidon“ seines Lieblingsphilosophen Platon seine eigene Poetik wiedergefunden. Darin ist Platon laut Aussage Phaidons wegen Krankheit abwesend, obwohl doch dieser Dialog vom Tod des Sokrates handelt, dem bedeutendsten Ereignis aller platonischen Dialoge.
Ein Meister-Schüler-Verhältnis gibt dem Roman „Einübung ins Schweben“ sein Gerüst. Rajko, ein noch junger Mann, ist ein Adept und schwärmerischer Bewunderer des international berühmten walisischen Mythologen und Altphilologen Peter Hurd, eines Kenners der antiken Mysterienkulte, zu dessen Projekten eine „Anthropologie des Todes“ gehört. Er ist der Übersetzer von Hurds Büchern „Die Hymnen der dunklen Welt“ und „Das Flüstern der Muschel“ und überdies freiberuflicher Dichter. Zur Vorstellung seines neuen Buches „Die weiße Wölfin“ ist Hurd nach Sarajevo gekommen, kurz vor Kriegsbeginn und dem Beginn der Belagerung in der Nacht vom 4. auf den 5. April 1992. Fasziniert vom Ausnahmezustand, von der Aussicht, dem unter Todesdrohung stehenden Leben zu begegnen, bricht er am 8. April seine Rückreise ab und bleibt für fast ein halbes Jahr in der Stadt. Nicht nur die Stadt unterliegt in diesen fünf, sechs Monaten den Kräften der Zerstörung. Der Mythologe erleidet einen tiefen Zusammenbruch seines Geistes, seiner gesamten Existenz. Dieser Zusammenbruch ist nicht der End-, sondern der Ausgangspunkt des Romans.
Einmal scheint es, als lege Karahasan dem Anthropologen des Todes die Erklärung des Romantitels in den Mund: „Hier schwebt alles. Rauch schwebt über zahllosen Brandstätten, über der ganzen Stadt, in der ständig etwas brennt. Die Seelen der Ermordeten und Unbestatteten schweben über und um uns. Fliegen schweben über Müllhaufen und Leichen. Unsere rauschgiftabhängigen Freunde schweben, und jetzt, da, schweben auch die Vögel. Und das ganze Schweben spielt sich in der schwersten Stadt der Welt ab.“ Doch ist Peter Hurd und dem, was er sagt, mit Vorsicht zu begegnen. Mal ist er kluger, mal zynischer Egoist, der für den Drogenrausch die Aufschwünge des Geistes verrät, rücksichtslos das erotische Abenteuer mit einer Heranwachsenden sucht und die Lehre von der für das Zusammenleben unabdingbaren Kraft der Formen, die er selbst vertreten hat, in der Lust am Ausnahmezustand untergehen lässt. Der Bericht über den Untergang des Todesanthropologen in Sarajevo ist zugleich die Geschichte der Desillusionierung des Erzählers über den Helden, dem er über den Zusammenbruch hinaus treu bleibt, als Hüter eines nahezu erloschenen, gelegentlich wieder aufflammenden Geistes.
In dieser Geschichte vom Absturz eines Idols in die Niederungen des heulenden Elends wirken Rajko & Hurd manchmal wie ein groteskes Komiker-Duo. Ihre Freundschaft und ihren Clinch, ihre Illusionen und Selbstbespiegelungen, ihre Essays über die Scham oder den baskischen Autor Miguel Unamuno am Beginn des Spanischen Bürgerkriegs bettet Karahasan ein in Geschichten aus dem belagerten Sarajevo, die alle ihr Eigenrecht haben, die Meister-Schüler-Geschichte umspielen, korrigieren, kommentieren, statt sich ihr unterzuordnen. Weil Rajko alle diese Geschichten erzählt, ist er nicht nur der Schüler seines Meisters, sondern zugleich die Stimme der Stadt. Ein Imam verheiratet eine junge Frau mit einem Toten, den ein blutiges Hemd vertritt. Eine junge Sängerin singt weiter, während eine Granate ein dreißig Meter entferntes Auto trifft. Wie eine Epidemie geht das Monologisieren um. Durch viele Münder geht die Wolke roter Blütenblätter, in die sich der von einer Granate getroffene Šaćir Mujezinović auflöst.
Ein schon vor dem Krieg misanthropischer junger Mann bringt seine Freundin dazu, ihn zu erschießen. Dänen aus dem Unprofor-Bataillon verkaufen erstklassiges Gras und anderen Stoff auf dem Markale-Platz. Die Not von Rajkos Mutter Ljuba angesichts der bei Stromausfall auftauenden Tiefkühlbestände führt tief hinein in die Baugeschichte Sarajevos. Alte Liebesgeschichten treten zutage. Während am Ende Rajko bei seiner Ausreise zeitweilig festgesetzt und von seinem Meister getrennt wird, kehrt dieser an den Rand Sarajevos zurück und wird – möglicherweise – selbst zum Schützen auf die Stadt.
Mit dieser „Einübung ins Schweben“ hat Karahasan seinem Projekt der Übersiedlung Sarajevos einen beeindruckenden Roman hinzugefügt. Aus der Verflechtung der negativen Legende mit einem Kranz knapper Novellen gewinnt er seine erzählerische Dichte. „Mir ist nur der Verlust meiner Stadt passiert, und der ist mir wirklich passiert“, schreibt der Erzähler am Ende. Und das belagerte Sarajevo des Jahres 1992, in dem selbst gefertigte Öllampen für die notdürftige Beleuchtung der Bunker sorgen, rückt in die Nähe der ukrainischen Städte der Gegenwart.
Das Monologisieren
geht um wie eine
Epidemie
Dževad Karahasan, geboren 1953, studierte in Sarajevo. Sein „Tagebuch der Aussiedlung“ von 1993, in dem er das städtische Leben gegen Beschuss und Belagerung verteidigte, machten ihn auch international bekannt. Foto: Suhrkamp
„Hier schwebt alles. Rauch schwebt über zahllosen Brandstätten. Die Seelen der Ermordeten und Unbestatteten schweben über und um uns.“ Die brennenden Momo-und-Uzeir Türme in Sarajevo am 8. Juni 1992.
Foto: GEORGES GOBET/AFP
Dževad Karahasan:
Einübung ins Schweben. Roman. Aus dem
Bosnischen von Katharina Wolf-Grieshaber.
Suhrkamp, Berlin 2023.
304 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Einübung ins Schweben lebt von Augenblicken feiner, poetischer Schwerelosigkeit. ... Ähnliches gilt für Karahasans Prosa. Sie leuchtet den Krieg hell genug aus, um seine sinnlose Brutalität zu zeigen. Zugleich deutet sie die Grausamkeit meist nur an, anstatt sie uns in aller Drastik vor Augen zu führen - so brennt sich das Evozierte umso mehr ein.« Gregor Szyndler NZZ am Sonntag 20230326