Vorwort der Herausgeber: Die erste Dekade des 21. Jahrhunderts geht zu Ende. Jede Generation neigt dazu, die Veränderungen, die sie erlebt, als besonders gravierend zu empfinden. Doch man muss tief in die Geschichte eindringen, möglicherweise sogar bis in die ersten Jahrhunderte des ersten Jahrtausends, in denen ein Weltreich verschwand, um Parallelen zu dem zu finden, was womöglich der ›Generation Einundzwanzig‹ bevorsteht. Seit den 1980er Jahren vollziehen sich weltweit Prozesse, die in ihrer politischen, ökonomischen und ethischen Dimension sowie in der Tiefe des Wandels mit den großen Zäsuren der Weltgeschichte vergleichbar sind. Die welthistorischen Brüche des begonnenen 21. Jahrhunderts werden von tektonischen Verwerfungen, sozialen Beben, Kriegen und Krisen begleitet, die – so scheint es – mit bekannten Wahrnehmungsmustern kaum zu verstehen und durch vorhandene Institutionen schwer zu organisieren sind. Schrittweise bildet sich eine neue Weltordnung heraus. Die drohenden Brechungen des Fortschrittes sind dabei vielfältig. Langsam zeichnetsich ab, welches die großen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ethischen Herausforderungendieses Jahrhunderts sein werden. Der Aufstieg neuer Weltmächte, die menschenbedingte Klimaerwärmung oder die Alterung der Gesellschaften in denIndustrienationen. Die zwischenmenschliche Kommunikation ist seit Mitte der 1990er Jahre revolutioniert worden. Das Religiöse spielt durch das Aufkommen des islamistischen Terrorismus international eine Rolle, die zwei Generationen zuvorniemand erwartet hat. Die wissenschaftlich-technischen, politischen und ökonomischen Entwicklungen verlaufen gegenwärtig in einem Zeitraffertempo und parallel zueinander. Durchbrüche in der Computer- und Telekommunikationstechnik lassen sich mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts vergleichen. Fortschritte der Gen- und Biotechnologie machen berechtigte Hoffnungen darauf, dass sich die Menschheit von der Geisel vieler Krankheiten befreien kann, aber sie stellen die Wissenschaft und Politik vor bislang unbekannte ethische Herausforderungen. Es gab Revolutionen, die ein Weltsystem zusammenbrechen ließen. Geopolitische Pole verschieben sich. Terrorismus breitet sich wie ein Krake aus. Proliferation droht, Massenvernichtungswaffen in die Hände islamischer und anderer Diktaturen fallen zu lassen. Nicht auszuschließen ist, dass solche Waffen in gescheiterten Staaten oder bei nichtstaatlichen Akteuren auftauchen. Der fundamentalistische Islam entwickelt sich zur dritten totalitären Bedrohung. Erleben wir bereits einen ›Kampf der Kulturen‹? Andersartige, kaum weniger besorgniserregende Gefahren gehen von enthemmten Finanzmärkten aus, die nicht nur die bestehenden Wirtschaftsordnungen gefährden, sondern den Wohlstand von Nationen und damit auch den sozialen Frieden. Diese Entwicklungen sind eingebettet und gleichsam Bestandteil des Globalisierungsprozesses. Globalisierung erscheint alternativlos. Ihre Gestaltung zum Nutzen der demographisch immer weiter schrumpfenden Nationen des so genannten Westens, zu dem nach dem Fall des Eisernen Vorhanges auch die Völker Mittel- und Osteuropas hinzu gekommen sind, wird davon abhängen, ob es der zivilisierten Welt gelingt, ihre Demokratien, ihren Wohlstand und ihre freiheitlichen Ordnungen wehrhaft gegen Intoleranz zu verteidigen. ›Politisch korrekt‹ sollte dabei all das sein, was dieser Aufgabe dient. Dabei macht die Geschwindigkeit, mit der neue Themen kommen und gehen, eine solche Politik als Staatskunst immer schwerer. Die Politik des Heute kämpft – gut beschäftigt und scheinbar mit vollem Recht – um das Heute, um die Schlagzeile von morgen und um die Themen der kommenden Woche. Die großen politischen Ideologien des 19. Jahrhunderts, Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus, verschwimmen, und Leitbilder verschwinden dabei in dem Maße, wie der Wunsch nach ihnen immer stärker wird. Wird es sie wieder geben? Als Herausgeber haben wir der Konrad-Adenauer-Stiftung nahestehende Historiker, Publizisten, Philosophen und Zukunftsforscher eingeladen, über den Werdegang des 21. Jahrhunderts nachzudenken. Einige von ihnen kommen aus Weltgegenden, die sonst nicht im Fokus der deutschen und europäischen Publizistik stehen. Die in diesem Band vereinten Aufsätze und Essays beschreiben Zukunftsszenarien, auch wenn auf diesem Gebiet nur eines mit relativer Sicherheit vorausgesagt werden kann: die Bevölkerungsentwicklung. Demographie steht auf einem festen Grund. Die Weltbevölkerungszahlen, so Sergej Kapitza (Russland) weisen heute einen Umbruch auf, wie es ihn seit der Jungsteinzeit nicht mehr gegeben Menschen leben wie im Jahr 2000. Michael Lind (USA) sagt den Vereinigten Staaten eine weitere Blütezeit voraus. Durch Einwanderung werde es in 100 Jahren eine Milliarde US-Bürger geben. Christian Saehrendt (Deutschland) dagegen rechnet vor, dass Deutsche schon heute gar nichts mehr dagegen tun können, innerhalb der nächsten zwei Generationen, also um die Jahrhundertmitte, Minderheit im eigenenLand zu werden. Friedbert Pflüger stellt zur Diskussion, ob wir es uns angesichts damit verbundener schwer zu lösender Integrationsfragen wirklich leisten wollen, die Türkei in die Europäische Union aufzunehmen, von der aus es dann weitere Millionen Einwohner in die Mitte Europas ziehen dürfte. Wie werden unsere politischen Institutionen die demographischen Entwicklungen verkraften? Werden immer mehr Staaten nach westlichen, demokratischen Vorstellungen regiert werden oder wird eher das Gegenteil der Fall sein? Carlo Masala (Deutschland) sieht den Westen insgesamt durch Hybris gefährdet: Gerade würden wir erleben, dass autoritäres Regierungshandeln sich neben westlicher Demokratie als zweites Erfolgsmodell etabliere. Uns bliebe gar nichts anderes übrig, als zu lernen, Staaten zu akzeptieren, die nicht unsere Werte teilen. Denn eine Politik, die das Eigene anderen aufzuzwingen versuche, würde die Welt über kurz oder lang in einen sehr unsicheren Ort verwandeln. Brahma Chellanay (Indien) weist darauf hin, wie grotesk sich heute, angesichts eines zur Übergröße gewachsenen Asiens, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Strukturen internationaler Institutionen ausnähmen. Die Vereinten Nationen müssten sich schnell ändern oder sie würden untergehen. Fjodor Lukjanov (Russland) ist skeptisch angesichts des unverrückbar scheinenden Selbstbildes der Vereinigten Staaten, die sich die Welt nur unter ihrer Führung vorstellen könnten. Die sich abzeichnende Multipolarität aber mache eine über allen schwebende Führungsmacht zur Illusion. Xuewu Gu (China) prophezeit einen künftigen Wettbewerb der Werte. Das konfuzianisch geprägte, ganz die Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellende Menschenbild sei mit der vom Westen postulierten Autonomie des Individuums kaum in Einklang zu bringen. Der Chinese weist auf eine unter den Informationsgewittern des Internets rapide hervorbrechende Schwäche westlicher Demokratie hin: Im Sekundentakt würde das World-Wide-Net Plebiszite produzieren. Damit aber verlören die demokratischen Institutionen eine Grundvoraussetzung ihres Funktionierens: Zeit zum Abwägen! Lautstärke und Geschwindigkeit der Forderungen nähmen den Verantwortlichen den Atem und genau jenes Minimum an Ruhe, das nun einmal nötig sei, um eine Entscheidung so zu treffen, dass sie auch etwas tauge. Xuewu warnt vor einem Zeitalter der Demagogen. In diese Richtung weist auch ein Beitrag von Bruce S. Thornton (USA), der uns noch einmal zu den Quellen führt, in die Stadtdemokratien des alten Griechenland. Die Gefahr, den eigenen Untergang selbst zu bewirken, sei der Demokratie angeboren. Einem Diktator, so schon Thukydides, fehlten vielleicht die Ideen der Vielen, das Abwägen im Minungsstreit. Dafür aber könne er schnell handeln. In Krisen oft das einzig Erfolgreiche. Was kann Europa dem entgegensetzen? Paul Thibaud (Frankreich) plädiert mit Feuer und fast schonverzweifelt für einen Neuanfang in der Europäischen Union. Verstohlen seien ihre Institutionen in einem halben Jahrhundert geschaffen worden, eine nach der anderen. Nur so, klammheimlich, hätten die Väter der Gemeinschaft geglaubt, würde sich der nationale Egoismus unter der bequemen Gewohnheit wegfallender Zollschranken und Grenzkontrollen, quasi ersticken lassen. Für Michael Lind werden die Menschen auch künftig in Nationalstaaten leben wollen, von denen es in 50 Jahren mehr geben dürfte als heute. Für Europa prophezeit er ein souveränes Schottland und ein geteiltes Belgien. Ludger Kühnhardt (Deutschland) mahnt, jahrzehntelange Versäumnisse aufzuarbeiten. Europa soll Verantwortung übernehmen gegenüber einer Welt, die sich längst wie selbstverständlich unserer Standards bedient, solange diese nur Technisches betreffen. Fjodor Lukjanov (Russland) befürchtet, dass Europa weiter seine Illusion pflegt, die wirklich harten Fragen an uns würden schon irgendwie am südlichen Rand des Mittelmeeres halt machen und existenzielle Probleme nicht in die gepflegten Vorgärten des europäischen Paradieses trampeln. Was geht es uns zum Beispiel an, welche Wasserkraftwerke in Mittelasien gebaut werden? Wer den gedankenvollen Aufsatz von Akmal H. Saidov (Usbekistan) lesen wird und anschließend Bertrand Malmendiers (Deutschland/Frankreich) sarkastischen Bericht über miteinander wetteifernde Pipeline-Projekte, die das Gas aus den Staaten östlich des Kaspischen Meeres zu uns befördern sollen, lernt viel darüber, wie eng die Welt geworden ist und wie gefährlich viele Konflikte auch für Europa werden können. Der israelische Autor Uriya Shavit erinnert daran, dass es zum Lebensrecht Israels keine gemäßigte islamistische Haltung gibt. 'Moderatestes Angebot: Israel wird so lange geduldet, bis die Muslime stark genug sind, es zu zerstören. ' Und er warnt ebenso wie Guido Steinberg (Deutschland) vor der atomaren Bewaffnung des Iran, die zur Aufrüstung der Gesamtregion führen würde. Nirgendwo sonst lägen Nuklearwaffen und Terrorismus räumlich so nahe beieinander. 'Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!' (Hölderlin). Friedbert Pflüger (Deutschland/Großbritannien) gibt sich überzeugt: 'Je größer die Bedrohung, desto mehr werden die schlummernden Kräfte der westlichen Zivilisation wachsen.' Als Herausgeber teilen wir nicht alle Einschätzungen der Autoren dieses Sammelbandes, dieser Hoffnung jedoch stimmen wir zu: im Interesse der ›Generation Einundzwanzig‹! Wir hoffen, dass dieses Buch auf geneigtes Leserinteresse stößt und der Zukunftsforschung Denkanstöße gibt. Thomas Kunze, Wolfgang Maier Taschkent, Berlin (2010) In diesem von Thomas Kunze und Wolfgang Maier (beide Konrad-Adenauer-Stiftung) herausgegebenen Buch beschäftigen sich namhafte Persönlichkeiten mit solchen Zukunftsfragen. Einige von ihnen kommen aus Weltgegenden, die sonst nicht im Fokus der deutschen und europäischen Publizistik stehen. INHALT: --- Eine neue Weltordnung? Was bleibt und was sich ändert Geht die Welt unter? Nationalstaat, technologischer Wandel, Urbanisierung Michael Lind Konzert der Mächte? Die Wiederkehr einer alten Konstellation Carlo Masala Brauchen wir andere Spielregeln? Neujustierung internationaler Institutionen Brahma Chellaney Neue Wirtschafts- und neue Sozialordnung? Die Welt nach der Finanzkrise Jagadeesh Gokhale, Angela Erickson Führungsmacht oder Multipolarität? Abschied von ein paar Illusionen Fjodor Lukjanow Demokratie oder autoritärer Staat? Herausforderungen des Westens Xuewu Gu Sieg der Demokratie? Die Notwendigkeit sie zu verteidigen Bruce S. Thornton --- Was wird aus Europa? Zwischen Einheitsstaat und nationalen Egoismen Weltfähige Wertegemeinschaft? Für ein neues europäisches Projekt Ludger Kühnhardt Braucht Europa noch Nationen? Für ein neues Gleichgewicht Paul Thibaud Wirtschaft oder Umweltschutz? Für eine ökosoziale Marktwirtschaft Hans Haake Freiheit oder Regulierung? Für eine gemeinsame Hochschulpolitik Manfred Erhard Weiter russisches Gas für Europa? Bestandsaufnahme und Ausblick Bertrand Malmendier --- Eine Welt für immer mehr Menschen? Bevölkerungswachstum und Ressourcenpolitik Wie viele werden wir sein? Das Wachstum der Weltbevölkerung Sergej P. Kapitza Wer rückt nach? Deutschland altert, das Land leert sich Christian Saehrendt Ohne festen Wohnsitz? Migration in den Städten Afrikas Loren B. Landau; Jean Pierre Misago Lassen sich Wasserkriege vermeiden? Chancen und Gefahren in Mittelasien Akmath Kh. Saidov Brasilien als Modell? Nachhaltigkeit in Lateinamerika Sérgio Besserman Vianna; José Eli da Veiga; Sérgio Abranches --- Wie sicher werden wir leben? Terrorismus und Proliferation Warum sind sie so? Die Ideologie islamischer Fundamentalisten Uriya Shavit Atomwaffen und Terrorismus? Al-Kaida und die Bombe Guido Steinberg In wessen Händen? Die Sicherheit von Pakistans Nuklearwaffen Shaheen Akthar Hand zum Frieden, Faust zur Abwehr? Die Herausforderung von Islam und Islamismus --- Biographien der Autoren und Herausgeber Nachwort des Verlegers: Von meinem Schreibtisch aus kann ich die Stimme der Freiheit hören; über die Dächer Berlins sehe ich auf den Schöneberger Rathausturm mit der Freiheitsglocke. Diese größte profane Glocke der Stadt verkündet seit 60 Jahren ihre Botschaft mit den Worten Abraham Lincolns 'Möge diese Welt mit Gottes Hilfe eine Wiedergeburt der Freiheit erleben.' Für Deutschland hat sich ihr Ruf 1989 erfüllt. Auch im durch Kriege und Diktature erschütterten Europa haben sich die Freiheit und das Recht auf Gerechtigkeit zum Ende des 20. Jahrhunderts immer weiter verbreitet und manifestiert. So dürfen wir hoffen, diesen inzwischen kräftigen Spross weltweit gedeihen zu sehen. Dies ist eine der großen Chancen des 21. Jahrhunderts, um einem Teil der Gefahren, die der vorliegende Band für unsere Zukunft zeigt, zu begegnen. Als Verleger betrete ich mit diesem der Zukunft zugewandten Buch Neuland. Auf die eine oder andere Weise beschäftigen sich neue Veröffentlichungen fast immer mit Vergangenem. Auch Sachbücher arbeiten meist auf, was bereits geschehen ist, analysieren und erläutern, wenden Umstände und Hintergründe hin und her und entnehmen der Vergangenheit gern Begründungen. Thema des vorliegenden Bandes dagegen ist die Zukunft: Was werden uns die nächsten Jahrzehnte bringen? Wird es gelingen, bei den gewünschten Konkordanzen von Politik und Wirtschaft die ökologischen Belange international vernünftig – quasi freundschaftlich zwischen den Staaten – zu berücksichtigen? Kann Europa seine Chance als genuiner Hort der Aufklärung nutzen, um einen Freiheit und Vernunft bedrohenden fundamentalistischen Kulturkampf zu verhindern? Werden von Fundamentalisten dominierte Staaten 'eine Wiedergeburt der Freiheit erleben'? Das Buch weist mögliche Wege, denen die Menschen des 21. Jahrhunderts folgen können. Mancher Seitenpfad wird sich als Abkürzung auf eine wichtige Hauptstraße erweisen und die eine oder andere Nebenstraße wird als Sackgasse enden. Wie also wird die Erde am Ende des 21. Jahrhunderts aussehen? Welche Antworten finden wir auf die drei großen Fragen Weltklimawandel, Ressourcenverbrauch und friedliches Miteinander der Kulturen? Texte mit einer solchen Fragestellung begeben sich auf die Suche; sie müssen Möglichkeiten, Freiheitsgrade und Gabelungen beachten und wenigstens andeutungsweise versuchen, nahezu Unvorhersehbares mit ins Kalkül zu ziehen. Ein sehr eindrucksvolles Ergebnis des vorliegenden Bandes ist die geografisch-politische Vielstimmigkeit: Wir in Europa werden uns künftig auch mit anderen als eurozentristischen Sichtweisen und Motivationen auseinandersetzen müssen, vor allem mit denen Asiens und Lateinamerikas. Für einen Verleger, der sich ständigen Untergangsprophezeiungen für sein Medium Buch gegenübersieht, keine schlechte Perspektive: Die umfassende globale Vernetzung, mit der das 21. Jahrhundert begonnen hat, ist ein ähnlicher Meilenstein in der Menschheitsgeschichte wie die Erfindung des Buchdrucks. Gutenbergs bewegliche Lettern haben Licht in die Köpfe der Menschen des Mittelalters gebracht und die Betrachtung und das Verstehen der Welt verändert. Ähnlich dringt die globale Multimedialität heute zensurunfreundlich in die dunklen Winkel von Unfreiheit und Staatsdiktat. Man darf gespannt sein, mit welcher Geschwindigkeit und Konsequenz sich die internationale Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts weiterentwickeln wird und wie wichtig ihr Bücher dabei bleiben werden. Presse und Internet können nicht alleinige Plattformen der Auseinandersetzung sein, und so sehe ich in zukunftsorientierten Themenbänden wie diesem eine gute Perspektive für Bücher. Die Zukunft zu deuten, ist ein Uranliegen des Menschen und hat Schreibende stets gereizt. Oft haben sie dabei, um ihren Prognosen Gewicht zu verleihen, dort in der Vergangenheit angesetzt, wo ihrer Meinung nach etwas falsch verlaufen war. Auch manche Autoren dieses Bandes analysieren Entwicklungen des 20. Jahrhunderts mit historisch sensibel geschultem Wahrnehmungsvermögen, um abzuleiten, was geschehen wird, und um zu zeigen, welche Alternativen des Handelns wir besitzen. Gerade die politischen und sozialen Konstellationen, die der Mensch mit freiem Geist und der Dynamik konkreter Ideen entscheiden kann, sind die für unser künftiges friedlich-gedeihliches Zusammenleben auf der Erde entscheidend. Dieses Buch bietet Anregungen für die Politik und fordert damit natürlich Widerspruch heraus, Widerspruch aber, dem die Auseinandersetzung vorausgehen muss. Ich wünsche dem Buch viele Leser, innerhalb und außerhalb der Politik. Aufrichtigen Dank sage ich den Autoren für ihr genaues Beobachten und ihre eindrucksvollen Analysen. Ohne die Idee der Herausgeber, Thomas Kunze und Wolfgang Maier, wäre dieses Buch nicht entstanden. Ihre sorgfältige Auswahl der Themen und die sichere Planung des Gesamtkonzeptes verdienen höchste Anerkennung und Dank. Ebenso Michael Winteroll, der mit großer Kenntnis für die verständliche, sachbuchgerechte Sprache gesorgt hat, Sabine Fach für das Lektorat und Kristin Huckauf für die gestalterische Betreuung. Dank auch den vielen Freunden, die durch guten Rat zum Gelingen des Buches EINUNDZWANZIG beigetragen haben. Stefan Graf Finck von Finckenstein, Verleger. ------------------------------------------------------------------------ Akmal H. Saidow: Lassen sich Wasserkriege vermeiden? Chancen und Gefahren in Mittelasien (Aus dem Russischen von Anke Pfauter) Wasser bildet die Grundlage allen Lebens, darüber hinaus aber auch des Austausches zwischen den Menschen, Völkern und Ländern. Der Bedarf an Wasser gehört zu den Triebkräften der Geschichte. Sämtliche Aspekte der Entwicklung der Menschheit sind mit dem Wasser verbunden, von der Wirtschaft bis zur Kultur. Es stellt eine unabdingbare Voraussetzung für jede Entwicklung dar. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht die Welt am Scheideweg: Wie sollen die begrenzten Ressourcen der Erde genutzt und verteilt werden? Alle sind sich einig, dass Wasser unverzichtbar für eine prosperierende Wirtschaft und die Gesundheit der Bevölkerung ist und eine entscheidende Rolle bei der Erhaltung der Ökosysteme spielt. Trotzdem nehmen die Wasservorräte ab, Milliarden von Menschen fehlt Wasser. Im 20. Jahrhundert wuchs die Zahl der Menschen von einer auf sechs Milliarden. Damit verringerte sich der Süßwasseranteil pro Kopf auf ein Sechstel und die weltweiten Vorkommen werden bereits zu 95 Prozent ausgeschöpft. Nur 2,5 Prozent des Wassers auf der Erde sind Süßwasser. Davon wiederum ist ein großer Teil gar nicht oder nur schwer nutzbar, weil er im Polareis steckt, in Gletschern oder tief in der Erde. Letztlich bleiben 0,26 Prozent des Wassers übrig. Aber selbst das würde bei vernünftiger Nutzung für uns alle reichen. In den kommenden 20 bis 25 Jahren jedoch könnte es nach Aussagen von Fachleuten zu einem Mangel kommen, der einen nie dagewesenen Umbruch zur Folge haben könnte. Hat man vor kurzem noch Erdöl als das flüssige Gold bezeichnet, wird man bald das Süßwasser so nennen. Beobachter glauben, dass sich der Kampf darum verschärfen wird, und sagen geradezu ›Wasserkriege‹ voraus, dazu solche um Nahrungsmittel und andere ›Ökokriege‹. Im vergangenen Jahrhundert hat sich nicht nur die Nutzung der Wasservorkommen versechsfacht, die Vorräte sind außerdem durch Umweltverschmutzung und eine falsche Nutzung geschrumpft. Nach Angaben der UNESCO werden bis 2030 mehr als drei Milliarden Menschen unter Wassermangel leiden. Schon heute hat etwa eine Milliarde Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und 2,5 Milliarden mangelt es an Wasser für hygienische Zwecke. 80 Prozent aller Erkrankungen aber werden auf Probleme mit dem Trinkwasser zurückgeführt. Dies ist auch die Ursache dafür, dass auf der Erde alle acht Sekunden ein Kind stirbt. Eine Erklärung der UNO zur Jahrtausendentwicklung fordert eine 'rationelle Nutzung der Wasservorräte' sowie die 'Gewährleistung einer gerechten Verteilung' und sieht vor, die Anzahl der Menschen, die Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, bis zum Jahr 2015 um 50 Prozent zu erhöhen. Nach Prognosen der UNESCO werden bereits in zehn Jahren als Folge der Klimaerwärmung viele Millionen Menschen in Afrika vom Wassermangel betroffen und gezwungen sein, dort wegzuziehen, wo sie jetzt leben. Sollten die Meeresspiegel ansteigen, führt das in den Uferregionen zu einer Versalzung der wasserführenden Bodenschichten, der Mangel an Süßwasser nähme weiter zu. Dazu wächst die Erdbevölkerung jährlich um 80 Millionen. In 15 Jahren werden schon zwei Drittel der Menschen den Wassermangel zu spüren bekommen. Der frühere UNESCO-Generalsekretär Koichiro Matsuura sagt dazu: 'Solange die Wasserprobleme unserer Erde nicht gelöst sind, können andere Krisen von regionalem Maßstab sich zuspitzen und zur Ursache für politische Instabilität und verschiedenste Konflikte werden.' Wasser wird zum wichtigsten geostrategischen Problem und einem globalen Sicherheitsfaktor. Der Präsident der Generalversammlung der Vereinten Nationen, Miguel d'Escoto Brockmann, unterstrich in seiner Ansprache an die Teilnehmer des 5. Internationalen Wasserforums im März 2009 in Istanbul, dass 'diejenigen, die bestrebt sind, Wasser zu privatisieren und es zu einer Ware ähnlich dem Erdöl zu machen, die Menschen in einem so elementaren Lebensbedürfnis beschränken, wie es die Luft ist, die wir atmen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass eine … nur auf Vorteilnahme bedachte Herangehensweise … nicht nur die Menschheit, sondern alles Leben auf diesem Planeten in die Sackgasse führen wird.' Und der Generaldirektor der UN-Ernährungsorganisation FAO, Jacques Diouf, bemerkt, dass 'das Recht auf Wasser ein Grundrecht des Menschen ist, das ihm von niemandem genommen werden darf. Die Wasserkrise ist sehr viel gefährlicher als eine Energie- oder Finanzkrise. ' Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2009 wiesen chinesische Fachleute darauf hin, dass der Welt ein ›Wasserbankrott‹ drohe. In den kommenden 20 Jahren werde sich der Konkurrenzkampf zwischen den Menschen um Wasserressourcen verschärfen. In verschiedenen energiewirtschaftlichen Bereichen ist ein sprunghafter Anstieg des Wasserbedarfs zu erwarten, in den USA wird er 165 Prozent betragen, in der EU 130 Prozent. Das alles wird zu einer Gefahr für die Landwirtschaft und der Preis für Wasser dürfte bald den für Öl übersteigen. Fast alle Staaten spüren inzwischen ein gewaltiges Defizit an Wasser. Die Sicherstellung von Ressourcen für Trinkwasser, Elektroenergieerzeugung, Landwirtschaft und Industrie wird zu einem brennenden Problem. Als Tendenzen zeigen sich erstens eine Verschärfung des Defizits, zweitens sind ausländische Investitionen häufig auf wasserwirtschaftliche Projekte gerichtet, drittens eröffnet ein zum Teil auch künstlich erzeugter Wassermangel neue kommerzielle Möglichkeiten auf dem Wassermarkt. Viertens sind die Wasserressourcen auf der Welt ungleich verteilt und fünftens verschlimmern Erderwärmung und Umweltverschmutzung das Problem noch: Wassermangel wird so wesentlicher Störfaktor für die stabile Entwicklung vieler Staaten. Nationale Wasserpolitik muss durch internationale wasserrechtliche Bestimmungen koordiniert werden. Der Weltwasserrat, die 1996 in Marseille gegründete Schaltzentrale internationaler Wasserpolitik, ist bestrebt, das Ressourcen- und Versorgungsmanagement zu verbessern: Nach Angaben der Vereinten Nationen umfassen grenzüberschreitende Flusseinzugsgebiete 45,3 Prozent der Erdoberfläche. In diesen Gebieten leben etwa 40 Prozent der Menschen und hier konzentrieren sich 80 Prozent aller Flussläufe der Welt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts darf die Wahrscheinlichkeit, dass es in Folge von Wassermangel weltweit zu Auseinandersetzungen und Konflikten kommen wird, nicht länger ignoriert werden. Es sei daran erinnert, dass es bereits in den letzten 50 Jahren 37 akute Konflikte wegen Wassers gab, die bewaffnet ausgetragen wurden. An grenzüberschreitenden Flüssen kam es zu über 500 Konfliktsituationen. Die Nutzung grenzüberschreitender Flüsse ist in vielen Gegenden der Erde konfliktträchtig: An Euphrat und Tigris überschneiden sich Interessen der Türkei, Syriens und des Irak. Der Jordan liegt im Interessenbereich Israels, Syriens, Jordaniens und des Libanon. Am Nil haben Ägypten, der Sudan, Äthiopien und Uganda Anteil. Der Aras liegt im Bereich Armeniens, Aserbaidschans, des Iran und der Türkei. Der Sambesi versorgt Angola, Botswana, Sambia, Simbabwe, Mosambik und Namibia, der Ganges Indien und Bangladesh. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Konflikte um Wasser müssen jedoch nicht zu Kriegen führen, sie können sogar Anlass zu zwischenstaatlicher Zusammenarbeit bieten, historische Beispiele lassen sich leicht finden. Flüsse galten früh als Heiligtümer: für die Ägypter war es der Nil, für die Inder der Ganges, für die amerikanischen Ureinwohner der Amazonas, für die Europäer waren es der Rhein und die Donau und für die Völker Mittelasiens die Flüsse Amudarja und Syrdarja. Ein usbekisches Sprichwort sagt, dass selbst die Schlange mit ihrem Gift das Wasser nicht verunreinige. Usbeken, Kirgisen, Kasachen, Turkmenen und Tadschiken teilen die Redewendung ›aus ein und demselben Aryk (Anm. des Übersetzers: Bewässerungskanal) trinken‹, sie will sagen: Kein Problem ist unlösbar, und alle Völker der Region bilden eine Gemeinschaft. Jahrhunderte lang nutzte Mittelasien das gleiche Wasser und beteiligte sich am Bau von Bewässerungsanlagen. So entstand das mittelasiatische Zweistromland, die äl- teste Zivilisation der Welt. Schon im 3000 Jahre alten Buch Avesta ist zu lesen, dass das Vergiften, Verunreinigen und Umleiten von Wasser eine große Sünde darstelle und ein Verbrechen sei. In den Hadithen des großen Imam al-Buchari steht, dass 'gerechterweise jedes Volk und alle Menschen einen gleichberechtigten Zugang zu sauberem Wasser haben müssen.' Historisch hat erst das Wasser dazu geführt, dass Trigonometrie und Geometrie entstanden, dazu Geologie und Geodäsie. Mit ihrer Hilfe ließ sich Wasser stauen und dafür sorgen, dass die Bewässerungsanlagen einwandfrei arbeiteten. Werke wie die ›Geodäsie‹ und ›Geologie‹ des Abu Raihan Biruni oder die ›Al-Dschabr Wal-Muqabala‹ (Algebra und Trigonometrie) des Muhammad al-Chwarizmi, die Erfindung des Ahmad al-Fergani, der eine Anlage zum Messen des Nilpegels gebaut hat, gehen auf das Bedürfnis der Menschen zurück, die Wasserversorgung sicherzustellen. Seit jeher wurden die eigenmächtige Veränderung eines Flussbettes oder eines Wasserlaufs streng bestraft. Der Historiker Yusuf Tavasiy berichtet im 12. Jahrhundert, dass Wasserwächter den 15-jährigen Sohn des berühmten Vertreters des Sufismus, Ahmad Yasawi, enthauptet hätten, weil er ohne Genehmigung sein Grundstück bewässert hatte. Der Vater bejahte die harte Strafe: Wasser sei heiliger Besitz des ganzen Volkes. Einst entschieden in Mittelasien die bedeutendsten Persönlichkeiten der jeweiligen Zeit über Verteilung und Nutzung von Wasser. So übertrug der Choresm-Schah Mamun dem Universalgelehrten Abu Raihan Beruni die Entscheidungsgewalt über alle Gewässer Choresmiens. Der Gelehrte richtete an den Ufern des Amudarja Beobachtungspunkte ein. Archivunterlagen zeugen von einer weit zurückreichenden Zusammenarbeit der Anrainer grenzüberschreitender Flüsse. Die älteste Vereinbarung wurde zwischen den Stadtstaaten Umma und Lagasch in Mesopotamien um 3500 vor unserer Zeit geschlossen. Nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO wurden seit dem Jahr 805 bis heute mehr als 3600 entsprechende Verträge zwischen Staaten geschlossen. Im vergangenen halben Jahrhundert allein 150. Musterbeispiele sind dabei die europäischen Staaten, die USA, Kanada und die Länder im Einzugsgebiet des Mekong. In der Europäischen Union wurde im Jahr 2000 ein Abkommen für ein ökosystemorientiertes und integriertes Management von Wasserressourcen geschlossen. Zwischen den USA und Mexiko besteht bereits seit 1906 ein Vertrag zur Nutzung des Rio Grande, 1944 vereinbarten beide Staaten die Nutzung von Rio Grande, Colorado und Rio Tijuana. Schlüssel für jede gemeinsame Nutzung sind Regeln zur friedlichen Beilegung von Konflikten. Sogar zwischen ärgsten Feinden sind auf diese Weise Wasserabkommen geschlossen und strikt eingehalten worden. So arbeiten zum Beispiel Kambodscha, Laos, Thailand und Vietnam mit Unterstützung der Vereinten Nationen bereits seit 1975 im Rahmen der Mekong-Kommission zusammen. Selbst während des Vietnamkrieges kam es zu einem regelmäßigen Technologieaustausch. Israel und Jordanien verhandelten mit den USA seit 1955 regelmäßig über die Nutzung des Jordan, sogar wenn sie sich im Kriegszustand befanden. Die Indus-Kommission, gegründet mit Unterstützung der Weltbank, hat zwei Kriege und die anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Indien und Pakistan überdauert. Weltweit gibt es etwa 300 große grenzüberschreitende Gewässer, die 60 Prozent der Süßwasservorkommen der Erde enthalten: Flüsse, Seen und auch unterirdische Vorkommen. Sie erstrecken sich über ein Drittel der Landfläche der Erde. 2,5 Milliarden Menschen leben hier, das sind 40 Prozent der Weltbevölkerung. Gegenwärtig wird eine stabile internationale Rechtspraxis für die damit zusammenhängenden Fragen entwickelt. Dabei gilt das Prinzip, dass die Nutzung eines Gewässers, an dem mehrere Staaten Anteil haben, keinem der Beteiligten Schaden zufügen darf. Die Wasserkonvention von Helsinki aus dem Jahr 1992 hat hier einen Durchbruch gebracht. In den Einzugsgebieten der großen mittelasiatischen Ströme Amudarja und Syrdarja – auch als Zwischenstromland bekannt – lebt man seit jeher vom Wasser dieser Flüsse. Mensch, Natur, Flora und Fauna bilden ein Ökosystem, dessen Stabilität gestört wird, sobald einer dieser Faktoren aus dem Gleichgewicht gerät. Aber genau das ist hier geschehen. Eine gedankenlose Bodenerschließung führte zum Austrocknen des Aralsees mit der Folge, dass das Ökosystem Aral heute irreparabel zerstört ist. Die Flusssysteme des Amudarja und des Syrdarja, über Jahrhunderte entstanden, wurden grundlegend verändert, Ursache für das Austrocknen des Aralsees, eine der größten Umweltkatastrophen, die jemals stattgefunden haben, mit Folgen, die noch in weiter Entfernung zu spüren sind. Pflanzen und Tiere starben aus, die Bodenzusammensetzung verschlechterte sich dramatisch, Krankheitserreger vermehrten sich rapide. Längst ist nur noch davon die Rede, wenigstens die schlimmsten Auswirkungen durch vereinte Anstrengungen in den Griff zu bekommen. In seiner Ansprache anlässlich der Gründung des Internationalen Fonds zur Rettung des Aralsees 2009 sagte der Präsident Usbekistans, Islam Karimow, die Wurzeln der Probleme des Aralsees lägen in ferner Vergangenheit. Bedrohliche Ausmaße hätten sie jedoch in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts angenommen. Inzwischen sei 'die Wasserfläche … auf weniger als ein Viertel geschrumpft, die Wassermenge beträgt nur noch ein Zehntel, während sich der Mineralgehalt verzehnfacht hat.' Wasserknappheit, eingeschränkte Trinkwasserqualität, Verschlechterung des Bodens, starker Rückgang der Artenvielfalt sind die Folgen. Wahrscheinlich ist auch die Schmelze der Gletscher im Pamir und im Tienschan, die einen Großteil der Flüsse der Region speisen, von der Aralkatastrophe mit ausgelöst worden. Im Gebiet um den Aralsee ist ein ganzer Komplex ökologisch-klimatischer, sozialökonomischer und demographischer Probleme globalen Ausmaßes entstanden: Diese Probleme können nur mit vereinten Kräften der Weltgemeinschaft gelöst werden. In den mittelasiatischen Staaten wurde die ›Wasserfrage‹ in den letzten 15 Jahren zu einer Frage der regionalen Sicherheit. Die Situation ist paradox: Zwar gibt es genug Wasser, trotzdem reicht es nicht. Zwischen 1960 und 1990 wurde die bewässerte Fläche um 65 Prozent erhöht, die Bevölkerung aber wuchs von 14 auf 50 Millionen, der Wasserbedarf nahm von 60 auf 120 Kubikmeter pro Person und Jahr zu. Damit ist eine krisenhafte Entwicklung eingetreten. Zugleich herrscht Energieknappheit. Zu lösen wäre alles nur mit Hilfe eines zwischenstaatlichen integrierten Ressourcenmanagements, sofortige Maßnahmen wären nötig, um sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Die Probleme werden durch die Bevölkerungsexplosion immer weiter verschärft. Der Wasserbedarf wird bis zum Jahr 2030 mindestens um weitere 20 Prozent steigen. In jüngster Zeit wird mit Wasser Politik gemacht. Wasserpolitik war ja in der Vergangenheit ein Schlüsselglied zur Kompromisserzielung und Konfliktlösung zwischen einzelnen Ländern. Gerechte Wasserverteilung betrifft alle Anrainerstaaten, jede Entscheidung, die die Interessen des einen vernachlässigt, verschärft die Situation für Millionen in Usbekistan, Kasachstan und Turkmenistan. Derzeit führen die wichtigsten Flüsse nur 70 Prozent des Wassers, das im langjährigen Durchschnitt zu fließen pflegt. Dadurch ist die Versorgung erschwert. 65 Prozent der Bevölkerung leben von Landwirtschaft und sind völlig vom Wasser abhängig. Alte Mechanismen zur Wasserregulierung werden aus dem Gleichgewicht gebracht durch Pläne für gewaltige Wasserkraftwerke in ›bester‹ sowjetischer Tradition mit gravierenden Auswirkungen auf die Umwelt. Die Initiatoren verfolgen kommerzielle und politische Interessen und ignorieren dabei die Bedenken der Nachbarn. Die Folgen sind nicht absehbar. Außer Acht gelassen wird auch, dass die Region seismisch sehr aktiv ist (Erdbebenstärken von 9 bis 10 gelten als möglich). Der Bruch eines Staudamms hätte verheerende Folgen. All das macht eine rationelle und effektive Nutzung der Wasservorkommen in der Region auf der Grundlage allgemeingültiger internationaler Rechtsnormen unerlässlich: Jedes Großbauvorhaben bedarf unbedingt der Zustimmung der Anrainer, das ist eine Prämisse modernen internationalen Wasserrechts. Lösen müssen das Problem die Länder der Region selbst. Eine Einmischung Dritter wäre unverantwortlich. Kirgisistan und Tadschikistan am Oberlauf von Amudarja und Syrdarja, wo 80 Prozent der Wasservorkommen der Region entspringen, müssten mit den am Unterlauf gelegenen Ländern Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan verhandeln. Die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa äußert sich besorgt darüber, dass jeder Vorfall an einem der großen Staudämme, und davon gibt es in Mittelasien rund 100, katastrophale Folgen für die Bevölkerung und die Wirtschaft der umliegenden Länder hätte. Die Anlagen Mittelasiens sind in der Regel 40 bis 50 Jahre alt und schlecht unterhalten. Dazu ist die rechtliche Grundlage für ihre Nutzung unzureichend. Nach Angaben des internationalen Komitees ICOLD, diese Organisation begutachtet große Talsperren, gab es in den vergangenen zehn Jahren an mehr als 300 der auf der Welt registrierten 17000 großen Talsperren Störfälle, die letzte bedeutendere Havarie passierte in Sajano-Schuschinsk in Russland. Als Hauptursachen für Zwischenfälle gelten Inkompetenz, falsche Planung, Fehlberechnung des Wasserdrucks und Schäden am Staubecken. In der Resolution der UN-Sondersitzung ›Zukunftstrends der Wasser- und Produktsicherheit in Mittelasien, Maßnahmen zur Einhaltung der Ziele der UN-Jahrtausenderklärung‹ wurde 2008 in Montpellier festgestellt, dass 'ein stabiles Management grenzüberschreitender Wasserläufe und die Bildung von Wasserressourcen auf einer verbindlichen internationalen Rechtsgrundlage im Bereich Wassernutzung und Ökologie fußen muss und einer strengen Reglementierung der Ressourcennutzung im gegenseitigen Interesse aller Staaten bedarf. Dabei dürfen Handlungen, die an grenzüberschreitenden Flüssen vorgenommen werden, keine negativen Auswirkungen auf die geschaffene Balance zur Befriedigung von Wasser- und Umweltinteressen haben. ' Leider werden beim Bau neuer Anlagen in der Region die Prinzipien der schon erwähnten UN-Konvention ›Zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen‹ von 1992 außer Acht gelassen. Das widerspricht auch dem 1997 von der UN-Generalversammlung beschlossenen Übereinkommen ›Über das Nutzungsrecht internationaler Wasserläufe‹, das vorschreibt, dass die ökologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen von Anliegern zu berücksichtigen und eventuelle Schäden auszugleichen sind. UN-Experten richten in ihrer für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP erstellten ›Einschätzung der regionalen Risiken in Mittelasien‹ ihr Augenmerk besonders auf die Staudammpläne von Kirgisistan und Tadschikistan und monieren, dass die Nachbarstaaten nicht einbezogen werden. Die Probleme betreffen nicht nur die Region. So dürften die Fragen nicht ohne Beteiligung Chinas zu lösen sein. Auf chinesischem Gebiet entspringen mehr als 20 Wasserläufe, die auch die benachbarten mittelasiatischen Länder durchfließen. Die Erklärung Russlands, für den Bau des Wasserkraftwerks Kambaratin in Kirgisistan Mittel zur Verfügung zu stellen, beruht auf seinen politischen Absichten in Mittelasien. Gegenwärtig allerdings macht es die Finanzkrise eher unwahrscheinlich, dass die zugesagte Summe tatsächlich zur Verfügung gestellt werden wird. Russland hat ähnliche Absichtserklärungen Tadschikistan gegenüber abgegeben, die jedoch nie zur Durchführung gelangt sind. Auch China blickt in Anbetracht zunehmender Wasserknappheit auf Mittelasien. Da die wirtschaftlichen Beziehungen dorthin immer intensiver werden, dürfte es Interesse an einer Lösung der Wasserprobleme haben. Außerdem ist mit Investitionen in energiewirtschaftliche Objekte zu rechnen. Eigene Wasserprobleme dürfte es auf Kosten der Nachbarn lösen, etwa im Mekongdelta, in Südost- und in Mittelasien, so belastet die Wasserentnahme Chinas aus dem Ili den kasachischen Balchaschsee bereits erheblich. Peking sieht die Wasserfrage in Mittelasien im Kontext seiner langfristigen Interessen, die es sowohl bi- als auch multilateral realisieren möchte. Seine Beteiligung an konfliktträchtigen Projekten wie dem Bau des Wasserkraftwerks Jawan in Tadschikistan hat es eingestellt. Dadurch hat es sich als einflussreicher Machtfaktor etabliert, der im Gegensatz zu Russland keine ›verdeckten Ziele‹ in der Region verfolgt. Man schließt wahrscheinlich Krisen zwischen Russland und den mittelasiatischen Staaten in Bezug auf Wasser- und Energiefragen nicht aus und wartet erst einmal die Entwicklungen ab. An einer Verschlechterung zwischenstaatlicher Beziehungen in der Region wegen Wasser- und Energiefragen ist man allein schon deshalb nicht interessiert, weil das den Einfluss Russlands in der Region verstärken würde. Begrüßenswert ist die Position der Europäischen Union, was den Bau von Wasserkraftwerken angeht. Die tschechische Ratspräsidentschaft erklärte 2009 in Istanbul, dass Wasser niemals nur für eigene Interessen genutzt werden dürfe und dass 'sich alle Staaten den internationalen Konventionen der Vereinten Nationen verpflichtet fühlen müssen'. Der Sondervertreter der Europäischen Union für Mittelasien, Pierre Morel, unterstrich, dass 'man unter den derzeit gegebenen Bedingungen von der Errichtung großer Staudämme, wie sie zu Sowjetzeiten gebaut wurden, absehen sollte, da sie eine große Gefahr für die Umwelt darstellen'. Von großer praktischer Bedeutung hingegen sind die – positiven wie negativen – Erfahrungen anderer Länder bei der Nutzung grenzüberschreitender Flüsse. Eine nachhaltige Entwicklung der Region hängt von der effektiven zwischenstaatlichen Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung ab. Dazu bedarf es jedoch einer Optimierung der rechtlichen Grundlagen im Bereich Wasserbeziehungen. In den vergangenen 15 Jahren wurden in Mittelasien immerhin bereits die Grundlagen zur Regelung der Wassernutzung mit Hilfe von Abkommen gelegt. So gibt es zum Beispiel eines ›Über gemeinsames Handeln zum Lösen der Probleme des Aralsees und des Aralseegebiets, für ökologische Wiederherstellung und Absicherung der sozialökonomischen Entwicklung der Region um den Aralsee‹, das am 26. März 1993 unterzeichnet wurde, weiter das Abkommen ›Über Nutzung der Wasser- und Energieressourcen des Syrdarja‹ vom 17. März 1998 und eine Erklärung der mittelasiatischen Staaten und internationaler Organisationen von Nukus zur nachhaltigen Entwicklung des Aralseebeckens vom 5. September 1995 sowie die Erklärungen der Staatsoberhäupter Mittelasiens von Almaty und Aschchabad vom 28. September 1997 und vom 9. April 1999. Die erzielten Absprachen und internationalen Normen sagen aus, dass die am Oberlauf von Flüssen gelegenen Staaten den Wasserlauf nicht nach eigenem Gutdünken und in eigenem Interesse ohne unabhängiges internationales Gutachten beeinflussen dürfen. Eine weitere Verbesserung der Organisationsstruktur und der vertragsrechtlichen Grundlage des Internationalen Fonds zur Rettung des Aralsees IFAS ist von großer Wichtigkeit. Eine Festigung der Strukturen des IFAS und eine Erneuerung der vertragsrechtlichen Basis des Fonds würden das Vertrauen zwischen den Teilnehmerstaaten festigen und zuverlässige Garantien für die Erfüllung der gemeinsamen Beschlüsse zum Wasser- und Energieressourcenmanagement in der Region bieten. Ziel sollte es dabei sein, den IFAS zur UN-Sonderkommission für den Aral zu erklären. Fortgesetzt werden sollten auch die Bestrebungen zur Angleichung der nationalen Gesetzgebung der Staaten dieser Region an internationale rechtliche Normen im Bereich Wasserressourcenmanagement.