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Produktdetails
  • Verlag: Futurum
  • Seitenzahl: 532
  • Deutsch
  • Abmessung: 36mm x 144mm x 215mm
  • Gewicht: 690g
  • ISBN-13: 9783856361426
  • ISBN-10: 3856361421
  • Artikelnr.: 09899018
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001

Quell des Weltwillens hinter Gittern
Vor seiner Ermordung schrieb er über die Porosität des Eisbodens: Pawel Florenskis Briefe aus der Lagerhaft / Von Lorenz Jäger

Pawel Florenski wurde in Deutschland zweimal entdeckt. Anfang der zwanziger Jahre waren es Theologen, die sich im Zuge des neuen Interesses an Rußland mit der Ostkirche beschäftigten. Seit in der Perestroika der Name des verfemten christlichen Philosophen und Wissenschaftlers wieder auftauchte, ist in Deutschland sein Ruhm gewachsen, auch wenn es ein esoterischer Ruhm bleiben dürfte: Wer in dem 1994 erschienenen Band "Namen" blätterte, fand unter denen, die die Edition durch Spenden unterstützt hatten, ein "Wer ist wer" des geheimen Deutschland: Elke Erb, Botho Strauß, Heiner Müller, Renate Lachmann und Dieter Sturm.

Die postume Wirkung Florenskis läßt sich mit der von Walter Benjamin vergleichen. Von dieser Wirkung ist, bei beiden Denkern, die Leidensgeschichte nicht zu trennen. Florenski wurde am 26. Februar 1933 verhaftet und am 16. Juli zu zehn Jahren Arbeitserziehungslager verurteilt. Die Anklage lautete auf konterrevolutionäre Propaganda und Mitgliedschaft in einer "nationalfaschistischen Organisation". Im August desselben Jahres wurde er in den fernen Osten deportiert. Erst 1989 erfuhr die Familie, daß Florenski nicht, wie man lange geglaubt hatte, 1943 verstorben, sondern schon im November 1937 erschossen worden war. Die Briefe, die er aus der Lagerhaft an die Familie schrieb - andere Kommunikationsmöglichkeiten hätten wohl auch seine Korrespondenten gefährdet - reichen vom Mai 1933 bis zum Juni 1937.

Florenski ahnte offenbar, daß er dem GULag nicht mehr entkommen würde. Zwar hört man in den Briefen niemals einen Ton der Verzweiflung und nur selten eine Klage. Die Verantwortung für die Familie verlangte Florenski eine Gelassenheit ab, der er geistig gewachsen war. Aber dem Leser wird auch klar, daß er sich über seine Lage nicht täuschte. Florenskis Vater war Verkehrsbauingenieur gewesen, der junge Pawel kannte sich mit Eisenbahnen aus. Aus Sibirien schreibt er 1933: "Und da ich an der Eisenbahn lebe und mein Interesse auf sie konzentriert ist, erinnert mich alles an die Verhältnisse zur Zeit meiner Geburt. Wie es sich gehört, fällt das Ende mit dem Anfang zusammen." Später, von den Solowki-Inseln, wo er wissenschaftlich zu arbeiten versuchte, meldet er: "Immer habe ich davon geträumt, unmittelbar neben einem Laboratorium zu leben, ganz in der Stille und weit weg von der Stadt. Aber die Erfüllung unserer Wünsche kommt stets von unerwarteter Seite; so auch in diesem Fall."

Die erste Absicht dieser Briefe war es, den Zusammenhalt der Familie in ihrer furchtbarsten Krise nicht aufzugeben. Selbst jetzt ist es die erzieherische Aufgabe des Vaters, an der Florenski festhält; als er in den Osten deportiert wird, bittet er seine Kinder, die Fahrt auf der Karte zu verfolgen: "Im Schrank steht die Geographie von Semjonow, dort findet Ihr verschiedene Angaben über die Orte, durch die ich fahre, die ich aber leider kaum zu sehen bekomme." Alles, was ihm in der Haft begegnet, wird in vielfältig-anschauliche geistige Anregungen für die Kinder verwandelt: Bodenverhältnisse, Sprachen, Tier- und Pflanzenwelt, Geographie: "Selbst Ostindien und Persien sind für uns Westen", schreibt er aus Sibirien.

Im Zusammenhang gelesen, sind diese Briefe eines der eindrucksvollsten, durchdachtesten Werke zur Bildung von Kindern. Als der Tochter Olga - als Sprößling eines "Volksfeindes" - zeitweise der Schulbesuch verweigert wird, ermutigt er sie, in der eigenen Anstrengung vor allem in den Fächern Deutsch und Mathematik nicht nachzulassen: "Es macht allerdings mehr Mühe, dafür ist es befriedigender und führt zu besseren Resultaten. Halbwissen ist da ausgeschlossen: gelernt ist gelernt." Vor allem an Olga gerichtet sind die regelrechten Literaturbriefe, in denen Florenski die Geschichte der russischen Dichtung bis zum Futurismus erläutert. Besonders empfohlen werden Lesskow und Leontjew. Aber niemals ergehen die Ratschläge im Sinne eines autoritär gesetzten Kanons, immer sind sie verbunden mit persönlichen Erfahrungen und Hinweisen, wie lebendige Erfahrungen möglich werden: "Überhaupt solltest Du Sprachen, die russische wie auch jede fremde, über den lebendigen Klang erfassen und nicht allein über die Zeichen auf dem Papier. Daher solltest Du Deine russischen Aufsätze, und sei es teilweise, laut lesen, um zu hören, wie das Ganze klingt und ob der Rhythmus der Komposition vom Klang, vom Sinn und von den Bildern her stimmt."

Mit Wassili, dem ältesten Sohn, wechselt Florenski Briefe über wissenschaftliche Probleme. Die jüngste Tochter wird mit anmutig-kauzigen Tiergeschichten bedacht. Der Philosoph, der von einem tiefen Mißtrauen gegenüber allem Abstrakt-Konstruierten erfüllt war, verweist seine Kinder immer wieder auf die Anschauung. Um ihretwillen, und nicht wegen eines kritisch zu entlarvenden Besitzfetischismus, hatte er umfangreichen Sammlungen von Zeichnungen, Gesteinen, naturkundlichen Bildbänden, römischen und griechischen Münzen angelegt, die er jetzt den Kindern übermacht. Künstlerische Ordnung und wissenschaftliche Gedanken würden sich, so hoffte Florenski, im Idealfall durchdringen. In der Mathematik, rät er Olga, solle sie sich die Lehrsätze aneignen, "wie man sich ein Musikstück aneignet". In der Biologie gelte es, auf den "Stil der Pflanzenfamilien" zu achten. Intuitive Typenbildung ist das Ziel. An Wassili schreibt er: "Goethe verfügte über diese Fähigkeit, den Typus in dem Beobachteten zu sehen, in hohem Grade; Naturerkenntnis muß man bei Goethe lernen." Ein individueller "Typus" war für Florenski auch die Familie. Sie umfaßte in seinem Denken nicht nur die Lebenden, sondern auch die Toten. Er erinnert an die Großeltern und ermahnt die Kinder, sich ihren Stammbaum einzuprägen. Aber hinter der Sicherung des geistigen Bestands seiner Familie wird die größere Sorge Florenskis erkennbar, in einer Zeit der Traditions- und Kulturzerstörung zu prüfen, was sich als bestandskräftig erweisen kann. Trotz der Angewiesenheit auf zufällige Radiosendungen oder Bücher der Lagerbibliothek ist der sichere Griff zu beobachten; Racine und Mozart sind lange Passagen der Briefe gewidmet.

In seiner Schrift über die Eigennamen ("Namen", 1994) hatte Florenski erweisen wollen, daß es sich bei den Namen um begrenzende Formungen handelt, die den Menschen in seinem Charakter und seinem Schicksal bestimmen. Formuliert war diese Idee in einer geologischen Sprache: Jeder Mensch sei ein "Quell des Weltwillens", eine Wasserader, die irgendwo, in bestimmter Gestalt nach Maßgabe des Namens, aus dem Boden aufsteige. Besonders gelte dies für den Namen "Paul" - der in seiner russischen Form Florenskis eigener war und den er, aus der biblischen Tradition mit gewissem Recht, als besonders dramatisch empfand: "Paul ist wie eine zufällige Durchstoßung der Erdschichten durch einen inneren Druck."

Man kann diesen Gedanken als Hinweis auf die wissenschaftlichen Arbeiten nehmen, mit denen Florenski auch während der Haft beschäftigt war und zu denen in dieser verdienstlichen Edition ein Kommentar leider fehlt. Während die Namenstheorie geologisch argumentierte, mit dichteren oder kapillaren Strömungen und der Beschaffenheit der Stoffe, durch welche diese Strömungen hindurchgingen, waren Florenskis konkrete wissenschaftliche Arbeiten auf genau diesen Problemkreis in der realen Umwelt gerichtet. Für die Technische Enzyklopädie hatte er vor der Haft den Artikel "Porosität" geschrieben; eine der ersten Tätigkeiten, die er in Sibirien wieder aufnahm, war das Studium des Eisbodens, über den er ein Buch verfassen wollte: "Gegenstand meines Interesses und meines Studiums", schreibt er einmal, "ist die Einwirkung des Frosts auf Boden und Wasser." Hat Pawel Florenski, der Denker und Wissenschaftler, den Makrokosmos nach der mikrokosmischen Poetik seines eigenen Namens entziffert?

Pawel Florenski: "Eis und Algen". Briefe aus dem Lager 1933-1937. Herausgegeben von Fritz und Sieglinde Mierau. Aus dem Russischen von Fritz Mierau. Pforte Verlag, Dornach 2001. 532 S., 40 Abb., geb., 48,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Lorenz Jäger haben die Briefe, die der christliche Philosoph und Wissenschaftler Pawel Florenski zwischen 1933-1937 aus der sibirischen Verbannung an seine Familie schrieb, beeindruckt. Zu Unrecht, urteilt Jäger, besitze der Name Florenski in Deutschland nur in esoterisch angehauchten Kreisen Klang. Dass sich die Beschäftigung mit Vita und Werk Florenskis lohnt, lehrte Jäger die Lektüre. Die Briefe, die Florenski nach Verurteilung wegen "konterrevolutionärer Propaganda" aus dem Lager bis zu seiner Hinrichtung regelmäßig an seine Familie schrieb, zeichnen sich für Jäger zu aller erst durch Florenskis menschliche Größe aus. Ohne Klagen über seine eigene aussichtslose Situation sind sie in jedem Zug voller Anteilnahme für das Schicksal seiner Familie und voller Belehrungen für die Kinder - in Geografie, Mathematik, aber vor allem russischer Literaturgeschichte. "Im Zusammenhang gelesen", urteilt Jäger, "sind diese Briefe eines der eindrucksvollsten, durchdachtesten Werke zur Bildung von Kindern". Daneben verfolgte Florenski in der Haft auch wissenschaftliche Arbeiten. Bedauerlich findet Jäger, dass dieser verdienstvollen Edition ein Kommentar fehlt.

© Perlentaucher Medien GmbH"