»Da steigt also einer in den Zug. Er heißt Müller, ein einfacher Name, aber auch den kann man so betonen, daß man nicht einfach irgendein Müller ist, sondern eben Müller.« Ist es denn nötig, daß ich mit diesem Herrn Müller mitfahre, fragt sich Peter Bichsel, und schon sind wir Leser dabei im Zug und mit dem Autor im vollen Abteil, zweite Klasse, Raucher, beobachten, notieren, denken mit ihm nach, sehen den Reisenden zu und steigen so rasch nicht mehr aus, denn das Fahren im Zug ist für Peter Bichsel etwas wirklich Wichtiges. Hier entstehen viele seiner Geschichten, Entwürfe für Kolumnen, Einmischungen, Zwischenrufe, und ganz wie nebenbei präzisiert er seine Philosophie des Reisens mit dem Zug: »Die Kunst des Eisenbahnfahrens ist die Kunst des Wartens, und darin liegt der eigentliche Zeitgewinn, daß man Zürich nicht zu erreichen hat, sondern zu erwarten.« In Eisenbahnfahren sind einige der schönsten Geschichten Peter Bichsels von unterwegs versammelt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.2004Das muß einmal gesagt sein
Peter Bichsel liest in der Frankfurter Romanfabrik
"Ich glaube", sagt Peter Bichsel, "der Sinn der Literatur liegt nicht darin, daß Inhalte vermittelt werden, sondern darin, daß das Erzählen aufrechterhalten wird." Nun, erzählen könnte man alles und überall, beim bekennenden "Zugschreiber" Bichsel aber landet man eben oft und gern im Zug, meist in der Transsibirischen Eisenbahn, Ziel Wladiwostok. Kein schöner Ort, nicht mal ein Ziel, es ist mehr: ein "Zwang". Ein irgendwo zwischen Strafe und Befreiung, der Hölle, dem Paradies und dem Nichts schlingerndes Leitmotiv, das aber nur schwerlich darüber hinwegtäuscht, daß das eigentliche Ziel ganz woanders liegt - im Kopf nämlich, dessen überbordenden Inhalt die Bücher, seine "Inhaltsverzeichnisse", nur erahnen lassen.
Auch die jüngsten Werke des Schweizers, der Erzählband "Eisenbahnfahren" und die Kolumnensammlung "Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule", lassen in typisch Bichselscher Subversion das, was wir für das Normale halten, staunenswert, das Unwahrscheinliche glaubhaft und Übersehenswertes phantastisch erscheinen. Wenn also Bichsel Bichsel liest, wie jetzt in der Romanfabrik, heißt es, den sogenannten Verstand abwerfen und mitfahren, im Zug und im Kopf, um noch mal ganz neu zu erfahren, was es heißt zu erzählen.
Da treffen wir - natürlich auf dem Weg nach W. - einen Kieler Buchhändler und leidenschaftlichen Veranstalter von Lesungen als liebevolle Autorengeißel, wir treffen Gustav, der all die Wörter kennt, die keine anderen Wörter auslösen, und dafür sorgt, daß keinem mehr was einfällt, sobald er auftaucht. Dann ist da diese Merlot-geschwängerte "Gelegenheitsgeschichte" für den Rundfunk, die zwischen dem Taschencomputer im Speisewagen, der angeblichen Viersprachigkeit der Schweizer und den Zechtouren von Dylan Thomas wegtorkelt. Auf eidgenössischen Gleisen erleben wir, daß ein schnödes Wort wie Gossau, mit langem "o" ausgesprochen, zur manischen Beschwörungsformel werden kann. Und unter der Überschrift "Die mehreren Peter von Matt oder kampanischen Nationalgesichter" ist zu erfahren, daß man Wörter nicht einfach so vom Blatt in den Kopf zurücknehmen kann, und sei es das Sätzchen: "Das muß nun einmal gesagt sein."
Vom Kritiker dieses Vergehens überführt, hilft nur noch die Flucht, Transsibirische Eisenbahn. Aber war er da nicht gerade wieder, der Kritiker? Und warum ist Verleger Unseld, der sich ein Buch über die geographische Lage von Paris wünscht, so hoch zufrieden mit dem absolut sibirienweißen Manuskript? Das ist eines dieser Bichselschen Rätsel, mit schläfrig zerzaustem Haar, lupengroßer Brille, schwarzem Schaffnerwestchen und gurrendem Schweizer Akzent vorgetragen. Der Eilige wird hier zu schnellen Schlüssen nicht kommen. Gibt man sich aber der luxuriösen Zeitverschwendung des Zugreisens erst mal hin, füllt Bichsel die Gepäcknetze mit all den komischen, irritierenden Abschweifungen, die kein konkretes Ziel haben mögen, außer dem einen: den Kopf. Dort sammeln sich die Stimmen zwischen Olten und Wladiwostok, dort ist das Erzählen zu Hause.
KRISTINA MICHAELIS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Bichsel liest in der Frankfurter Romanfabrik
"Ich glaube", sagt Peter Bichsel, "der Sinn der Literatur liegt nicht darin, daß Inhalte vermittelt werden, sondern darin, daß das Erzählen aufrechterhalten wird." Nun, erzählen könnte man alles und überall, beim bekennenden "Zugschreiber" Bichsel aber landet man eben oft und gern im Zug, meist in der Transsibirischen Eisenbahn, Ziel Wladiwostok. Kein schöner Ort, nicht mal ein Ziel, es ist mehr: ein "Zwang". Ein irgendwo zwischen Strafe und Befreiung, der Hölle, dem Paradies und dem Nichts schlingerndes Leitmotiv, das aber nur schwerlich darüber hinwegtäuscht, daß das eigentliche Ziel ganz woanders liegt - im Kopf nämlich, dessen überbordenden Inhalt die Bücher, seine "Inhaltsverzeichnisse", nur erahnen lassen.
Auch die jüngsten Werke des Schweizers, der Erzählband "Eisenbahnfahren" und die Kolumnensammlung "Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule", lassen in typisch Bichselscher Subversion das, was wir für das Normale halten, staunenswert, das Unwahrscheinliche glaubhaft und Übersehenswertes phantastisch erscheinen. Wenn also Bichsel Bichsel liest, wie jetzt in der Romanfabrik, heißt es, den sogenannten Verstand abwerfen und mitfahren, im Zug und im Kopf, um noch mal ganz neu zu erfahren, was es heißt zu erzählen.
Da treffen wir - natürlich auf dem Weg nach W. - einen Kieler Buchhändler und leidenschaftlichen Veranstalter von Lesungen als liebevolle Autorengeißel, wir treffen Gustav, der all die Wörter kennt, die keine anderen Wörter auslösen, und dafür sorgt, daß keinem mehr was einfällt, sobald er auftaucht. Dann ist da diese Merlot-geschwängerte "Gelegenheitsgeschichte" für den Rundfunk, die zwischen dem Taschencomputer im Speisewagen, der angeblichen Viersprachigkeit der Schweizer und den Zechtouren von Dylan Thomas wegtorkelt. Auf eidgenössischen Gleisen erleben wir, daß ein schnödes Wort wie Gossau, mit langem "o" ausgesprochen, zur manischen Beschwörungsformel werden kann. Und unter der Überschrift "Die mehreren Peter von Matt oder kampanischen Nationalgesichter" ist zu erfahren, daß man Wörter nicht einfach so vom Blatt in den Kopf zurücknehmen kann, und sei es das Sätzchen: "Das muß nun einmal gesagt sein."
Vom Kritiker dieses Vergehens überführt, hilft nur noch die Flucht, Transsibirische Eisenbahn. Aber war er da nicht gerade wieder, der Kritiker? Und warum ist Verleger Unseld, der sich ein Buch über die geographische Lage von Paris wünscht, so hoch zufrieden mit dem absolut sibirienweißen Manuskript? Das ist eines dieser Bichselschen Rätsel, mit schläfrig zerzaustem Haar, lupengroßer Brille, schwarzem Schaffnerwestchen und gurrendem Schweizer Akzent vorgetragen. Der Eilige wird hier zu schnellen Schlüssen nicht kommen. Gibt man sich aber der luxuriösen Zeitverschwendung des Zugreisens erst mal hin, füllt Bichsel die Gepäcknetze mit all den komischen, irritierenden Abschweifungen, die kein konkretes Ziel haben mögen, außer dem einen: den Kopf. Dort sammeln sich die Stimmen zwischen Olten und Wladiwostok, dort ist das Erzählen zu Hause.
KRISTINA MICHAELIS
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Mit Bichsel unterwegs hat sich Petra Kipphoff "grundschweizerisch" verankert gefühlt. Dass der Zugreisende dem Pferderücken stets näher ist als dem Flugzeug, wie Kipphoff erklärt, scheint erst recht für das Reisen mit der eidgenössischen Eisenbahn zwischen Olten, Solothurn und Niederbipp zu gelten: "Keiner wirft sich vor den Zug" in diesen acht kleinen Geschichten, "in denen das Coupe zum Bühnenraum auf Zeit wird für Passanten und andere Paare". Aber Vorsicht, warnt die Rezensentin auch: Ganz ICE-mäßig gewinnt Bichsel an Fahrt und schafft schließlich sogar "eine chaotische Idylle, "die des dort zitierten Jean Paul durchaus würdig ist".
© Perlentaucher Medien GmbH
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