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Autorenporträt
Scholem Alejchem (1859 - 1916), eigentlich Schalom Rabinowitsch, aus der Ukraine stammend, wanderte 1905 in die Schweiz und dann nach Amerika aus. Bereits mit einundzwanzig Jahren Rabbiner, begründete er mit lebensnahen Milieu-Romanen seinen Ruf als größter Humorist der jiddischen Literatur. Die von ihm geschaffenen Charaktere aus allen Schichten des jüdischen Volkes Osteuropas haben geradezu metaphorische Bedeutung erlangt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.06.2019

Als der Handlungsreisende noch einmal lächelte

In der absoluten Ruhe einer Liegekur dachte sich Scholem Alejchem zurück in das Gedränge eines russischen Waggons dritter Klasse: Seine meisterlichen "Eisenbahngeschichten" sind witzige Trauerarbeit an brutaler Moderne.

Es gehört zu den vielen Ironien der Geschichte der jiddischen Literatur, dass das Herzstück eines emotional intensiven Meisterwerks über die Juden Russlands in St. Blasien im Schwarzwald geschrieben wurde. Scholem Alejchem, eigentlich Scholem Rabinowitsch, heute vor allem bekannt als Schöpfer des Milchmanns Tewje aus Anatewka, der seine Töchter verheiraten will, brach am 13. August 1908 nach einer Lesung in Baranowitsch zusammen. Endlos lang hatte er lesen müssen. Immer neue Zugaben wurden gefordert. Denn wann, fragte man sich vorher, würden die Juden von Baranowitsch ihn wiedersehen, ihren großen Erzähler, ihren Tschechow, ihren Mark Twain? Er verwandelte ihren Alltag in Geschichten, über die man zugleich lachen und weinen musste, und in eine Sprache von solcher Energie und Subtilität zugleich, dass sie sich erhoben fühlten in die Welt literarischer Kunst. Sie ließen ihn nicht gehen.

In der Nacht erlitt Sholem Alejchem einen massiven Blutsturz. Ärzte aus Wilna und Minsk eilten herbei und diagnostizierten eine offene Lungentuberkulose. Sieben Wochen blieb Alejchem in Baranowitsch, arm und todkrank. Es war das Ende einer großen Lesereise durch Osteuropa, Tausende von Kilometern im Zug, meist nachts. Er hatte sie unternehmen müssen, weil er in Amerika finanziell gescheitert war und jetzt auf Pump lebte. In Baranowitsch kreuzten sich die Linien Lemberg-St. Petersburg und Warschau-Moskau, darum war er da. Die Baranowitscher Juden päppelten ihn auf; dann schickten ihn die Ärzte nach Nervi bei Genua.

Doch die Glut des Sommers 1909 tat ihm nicht gut, und da der Schwarzwald unter russischen Intellektuellen gut beleumundet war, kam er in die Villa Briand im verregneten St. Blasien. Er hasste die Monotonie: "Die Kunst des Heilens besteht bei den Deutschen darin, dass die Kranken von morgens bis abends im Freien herumliegen." Von Freunden forderte er jiddische Zeitungen an und von Lesern Briefe über ihr Leben. Aber es müsse alles wahr sein. Er wollte nur Tatsachen.

Unter die "Halbtoten" verbannt, begann er, auf einem selbstentworfenen Gestell eine Reihe von Monologen zu schreiben. Sie bildeten de den Grundstock der "Eisenbahngeschichten: Schriften eines Handlungsreisenden". In der absoluten Ruhe der Liegekur dachte sich Scholem Alejchem zurück in das Gedränge und den Lärm eines russischen Waggons dritter Klasse. Dort notiert sein Stellvertreter aus Langeweile, was er hört, wie "Pani Scholem Alejchem" es in "Tewje, der Milchmann" selbst getan hatte.

Doch die Begegnung "mit seiner Majestät, dem Engel des Todes", und das Wissen, akut zu den Todgeweihten zu gehören, hatte verändert, wie Scholem Alejchem ,zuhörte', das heißt, wie und was er erzählte. Es fehlt jetzt völlig das Gefühl der Stasis, der Unveränderbarkeit der Schtetl-Welt. Ein endlos rasender Zug gibt die Bühne ab für eine Darstellung einer aus allen Verankerungen gelösten jüdischen Gesellschaft, die ihre profunde ökonomische, soziale und moralische Gefährdung als haltlosen Sturz in den Abgrund erlebt. Die Idylle von Kasrilewke war zu Ende, oder, wie der israelische Literaturwissenschaftler Dan Miron formulierte: "Der Waggon als Schauplatz signalisiert das Ende der Intimität der Schtetl-Literatur." Jede Form der Beschütztheit durch alte Formen der Frömmigkeit fällt weg.

Als Gegenkraft zur neuen Zentrifugalität der brutalen Moderne führt Scholem Alejchem eine konzentriertere Form des Erzählens ein, die im Gegensatz zu den hyperaktiv slapstick-nahen früheren Monologen direkt ins emotionale Zentrum des Sprechenden führt. Die Fähigkeit, intensive Gefühle sympathisch nachzuvollziehen, hält diese jüdische Gesellschaft gerade noch an seidenen Fäden zusammen. Sympathie ist die Basis des Zuhörens. Und noch ist der allen gemeinsame innerster Kern (wie bei Tewje) die Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Doch gerade sie wird in diesem Buch hier mit einer Intensität erschüttert, dass man in der Weltliteratur lange ihresgleichen suchen muss.

Schon in der zweiten Geschichte, die zu den wenigen gehört, die nicht in einem überraschenden letzten Satz enden, sitzt ein dünner, deutlich armer Jude überglücklich in seiner Ecke. "Wenn ein Mensch etwas loswerden will, fängt er schon von selbst damit an." So auch der Glückliche. Er erzählt dem Handlungsreisenden, dass es ihm unter unsäglichen Mühen gelungen ist, einen berühmten Arzt, der bei einem Reichen war, zu einem kleinen Umweg in sein Dorf Kodno zu bewegen, wo sein letzter Sohn todkrank daliegt. Der Arzt sitzt in der ersten Klasse, an der nächsten Station wird man aussteigen, zwei Stunden mit dem Fuhrwerk fahren, dann steht der große Mann am Bett des Sohnes. Das Gesicht des Vaters leuchtet vor Glück, dass er das geschafft hat; und je stärker es leuchtet, desto stärker wird die Trauer des Lesers, der weiß, dass der Vater sich täuscht und der Sohn sterben wird. Kafkas "Landarzt" liegt nicht weit ab. "Der Glücklichste in Kodno" ist der Titel. Was er an Vergänglichkeit und Vergeblichkeit signalisiert, bildet bei allem Witz und wohltuenden Humor den Grundtenor der zwanzig Monologe der Reisenden.

Scholem Alejchems frühe Leser haben sich immer etwas gegen dieses unerbittlichere und realistischere Werk des Autor gewehrt und die "Eisenbahngeschichten" nie als das Meisterwerk anerkannt, das sie sind. Doch nach der Shoah gehörte es zu den ersten Werken, die in Berlin für die Überlebenden in jiddischer Sprache gedruckt wurden.

Jetzt liegt es erstmals in einer von Efrat Gal-Ed und Simon Neuberg erstklassig edierten Ausgabe (jiddisch-deutsch) vor. Zum Glück wurde die kongeniale Übersetzung von Gernot Jonas gewählt, die 1996 schon einmal erschienen war, aber für diese Ausgabe aktualisiert wurde. Jonas, ein evangelischer Pfarrer, der sich seit Jahrzehnten mit Scholem Alejchem befasst, trifft nicht nur den Sprachrhythmus und die Vielfalt der Tonarten: Sarkasmus, Ironie, Angeberei, Weinerlichkeit, Verdruss. Er hat vor allem auch ein Gespür für das Gemisch aus Liebe und Bewunderung, mit dem Scholem Alejchem über seine Juden schrieb, und vermeidet trotzdem, diszipliniert wie ein Supermodel, alles Süße und Süßliche.

Überhaupt ist eine durch Disziplin erreichte Perfektion der Form das Kennzeichen dieser visuell ungemein klaren Ausgabe. Jiddischer und deutscher Text stehen immer nebeneinander auch auf der Titelseite und im Inhaltsverzeichnis, ohne einander je zu stören. Auf dem weißen Cover keine Chagall-Nostalgie, sondern nur schwarze Buchstaben. Zwei Textzeilen in Blau sind schon das höchste der Gefühle. Das Layout, ein Werk von geradezu asketischer Eleganz, wurde von der Malerin und Jiddistin Efrat Gal-Ed geschaffen, die in der Klasse von Gotthard Graubner an der Düsseldorfer Kunstakademie studierte.

Die "Eisenbahngeschichten" sind der dritte Band in der vorbildlichen Reihe "Jiddistik Edition&Forschung" der Düsseldorf University Press, die seit Januar 2018 als Imprint zu de Gruyter gehört.

Da ein exakter jiddischer Text und eine sehr gute Übersetzung nun so elegant und so bequem nebeneinanderstehen, bietet sich hier allen Verehrern der jiddischen Literatur die Chance zur Entdeckung eines bewegenden Werks der Weltliteratur im Original. Das Erlernen von zweiundzwanzig hebräischen Buchstaben dürfte ja keine unüberwindbare Schwierigkeit sein.

SUSANNE KLINGENSTEIN

Scholem Alejchem:

"Eisenbahngeschichten". Schriften eines

Handelsreisenden.

Hrsg. von Efrat Gal-Ed, Gernot Jonas, Simon

Neuberg. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2019.

444 S., geb., 34,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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