Ein Mann, der die Gletscher so sehr liebt, dass er an ihrem Sterben verzweifelt: Zeno hat sein Leben als Glaziologe einem Alpengletscher gewidmet. Als das Sterben seines Gletschers nicht mehr aufzuhalten ist, heuert er auf einem Kreuzfahrtschiff an, um Touristen die Wunder der Antarktis zu erklären. Doch auf seiner Reise verzweifelt er an der Ignoranz der Urlauber, der mangelnden Achtung vor der fremden Welt und der fortschreitenden Schmelze des Eises.
Ilija Trojanows neuer Roman erzählt mit gewaltiger Wortkunst von einem Mann, der auszieht, um für die Gletscher zu kämpfen. Ein poetischer und leidenschaftlicher Roman über die Erhabenheit der Natur und die Gefährdung unserer Welt.
Ilija Trojanows neuer Roman erzählt mit gewaltiger Wortkunst von einem Mann, der auszieht, um für die Gletscher zu kämpfen. Ein poetischer und leidenschaftlicher Roman über die Erhabenheit der Natur und die Gefährdung unserer Welt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2011Warten auf eine neue Eiszeit
In den Romanen von Jo Lendle und Ilija Trojanow finden Männer ihr Glück im ewigen Eis - einmal zur Freude der Leser, einmal nicht.
Dass einer, der reist, davon auch zu erzählen hat, ist sprichwörtlich verbürgt. Dass sich aber, je leichter inzwischen noch die entlegensten Ziele zu erreichen sind, das Erzählen umso weniger auf das bloße Schildern des Ziels zurückziehen kann, ist ebenso evident. Und so ist die Erfahrung aus zweihundert Jahren Reisepublizistik die einer fortgesetzten Entzauberung: Wer heute noch das Lesepublikum durch einen dürren Bericht über seine Reise zu den Nilquellen fesseln kann, ist ein Genie. Und wenn inzwischen beim Nacherzählen historischer Entdeckungsfahrten gewöhnlich ein wesentlicher Punkt in der Darstellung all dessen liegt, was damals schwerer war, das Ertragen extremer Witterung, die mangelnde Kommunikation mit der Außenwelt, die Unsicherheit über die Rückkehr, dann verliert gleichzeitig die schiere Landschaft einen Teil ihrer Faszination. Nach Legionen von Bildbänden meinen wir sie zu kennen. Auch wenn die abgelegensten Orte der Erde, die Polkappen, gegenwärtig einem Wandel unterworfen sind, dessen Folgen noch unabsehbar sind.
In diesem Spannungsfeld sind zwei Romane verortet, die nun beinahe gleichzeitig erschienen sind: Ilija Trojanows "Eistau" schildert die Reise eines Gletscherforschers, der mit einem Kreuzfahrtschiff als Lektor in die Antarktis unterwegs ist und dabei zwischen Faszination für die besuchte Region und Ekel vor der Dekadenz dieser Reise schwankt, bis er sich zu einem radikalen Schritt entscheidet: Er nutzt die kurzzeitige Abwesenheit von Passagieren und Mannschaft, um das leere Schiff zu kapern und die Touristen in der antarktischen Wüste zurückzulassen.
Jo Lendles "Alles Land" dagegen greift zurück in die Zeit, als der Wettlauf zum Südpol entschieden wurde und der Naturforscher Alfred Wegener seine Theorie der Kontinentaldrift entwickelte. Beides jährt sich gegenwärtig zum hundertsten Mal: Am 14. Dezember 1911 erreichte Roald Amundsen den südlichsten Punkt der Erde, und am 6. Januar 1912 sprach Wegener vor der Senckenberg-Gesellschaft in Frankfurt zum ersten Mal öffentlich über seine Theorie. Natürlich schildert Lendles in Schlaglichtern strukturierte Romanbiographie Wegeners auch diesen Auftritt.
Mehr noch geht es dem Autor allerdings darum, das Reifen der Idee von den über den Erdball wandernden Kontinenten in Kindheit und Jugend des Berliner Predigersohns darzustellen. Mit diskreter Effizienz konfrontiert er seinen Wegener mit Alltagseindrücken, die jeder scheinbaren Statik die Bewegung gegenüberstellen: Da brechen Eisschollen und vereinigen sich zu neuen Flächen, Ameisen geraten in eine Topffalle aus lauter driftenden Puderzuckerscheiben, und Wegeners Sehnsucht nach dem archimedischen Punkt, von dem aus die Welt zu fassen sei, mündet erst in die Einsicht der ständigen Bewegung aller Dinge und Zustände, dann aber in die ernsthafte Suche nach einer Theorie dieser Bewegung - man könnte auch sagen: nach einem System, das dem allgemeinen Driften eine Struktur und damit wiederum eine gewisse Statik verleiht.
Der Charme dieses Romans wurzelt vor allem in Lendles Vermögen, der Kontinentaldrift in all unseren Verhältnissen nachzuspüren, und sein Wegener erfährt dies am eigenen Leib, wenn es etwa um die Liebe zu seiner Frau Else geht: "Seine Wonne, sein Ballast" nennt Lendle sie, und führt das in einer wundervollen Ballonfahrt-Szene ganz wörtlich aus. Nach der unsanften Landung kommen sich die Liebenden erstmals körperlich nahe, sie schmiegen sich aneinander, passgenau wie einst die südamerikanische und die afrikanische Atlantikküste, und als dann Kinder kommen, die nachts ins eheliche Bett drängen, übernehmen diese die Funktion der Plattentektonik: Das Paar driftet auseinander. Lendle aber ist klug genug, den Leser diese Analogie entdecken zu lassen, ohne ihn darauf zu stoßen.
Von dieser Dezenz ist in Trojanows "Eistau" nicht viel zu spüren. Sein Erzähler, der Glaziologe Zeno beendete seine wissenschaftliche Karriere, als er feststellen musste, dass ein von ihm regelmäßig untersuchter Alpengletscher eines Sommers im Klimawandel geradezu pulverisiert wurde. Seither begleitet er Touristen auf Kreuzfahrtschiffen in die Antarktis, hält fachwissenschaftliche Vorträge und leidet darunter, dass ihn die globale Umweltzerstörung einerseits immer stärker erregt, er andererseits all dem tatenlos zusehen muss. "Wenn Mr. Iceberger" - so sein Spitzname unter den Kollegen - "apodiktisch loslegt, endet es apokalyptisch", heißt es zu Beginn des Romans, und dass Zeno in den Augen der anderen durchaus hysterische Züge entwickelt, wird selbst in seiner eigenen Perspektive deutlich, durch die wir weite Teile des Geschehens erleben. Es gibt allerdings noch - neben Zenos mit römischen Ziffern unterteiltem Bericht - eine weitere Quelle für die dramatischen Ereignisse dieser Kreuzfahrt, die arabisch nummerierten Collagen aus Funksprüchen, Verhörprotokollen, Schlagertexten und dergleichen mehr: Das Geschnatter der Welt.
So reizvoll es sein mag, einem weltanschaulich stark konturierten Erzähler das Wort zu erteilen, so rasch ermüdet dieser obsessive Naturfreund, der etwa in den ovalen Öffnungen der Eisberge "gewaltige Vulven" erkennt und daraus "schmelzende Lockrufe" vernimmt, den Leser. Zwischen Zeno und seiner Geliebten, einer als Kellnerin auf dem Schiff arbeitenden Philippinin, sind die Rollen klar verteilt, denn wo sich die deutlich jüngere Frau - Zenos Ansicht nach - naturkindhaft wünscht, "dass wir einfach nur sind", gibt er den grübelnden westlichen Intellektuellen. Dass der aber Platitüden notiert, macht die Sache nicht besser: Da "führt" ein Friedhof allen Ernstes "ein kleines, aber feines Sortiment an Dahingeschiedenen". Zenos Nachsinnen über die verlassene Walfangstation mündet in den Merkspruch: "In der Fabrik zerlegte der Mensch Wale, die Zeit zerlegt die Fabriken." Und sein Unbehagen über die Menschen in seiner Umgebung und die eigene Haltung fasst er gern in ebenso gesuchte wie schiefe Bilder: "Alle haben dieselbe Verharmlosungssoftware heruntergelanden, bereit zu kauern, wenn es stürmt" und dergleichen mehr.
Mit dem Grunddilemma jeder Wissenschaft, so tragisch wie entlastend, hält sich Zeno nicht auf: Forscher können Fakten zusammentragen und vor Irrwegen warnen, entscheiden können sie nicht. Welche Rolle spielen dann aber die Schriftsteller? "Die Klassiker", weiß Zeno, "dürfen Licht ins Dunkel tragen", uns "ins Gewissen reden" und "Sätze verfassen, die man in steinerne Fassaden hauen kann" - im Gegensatz zu Gegenwartsautoren, die in den Augen der Mehrheit "auf gar keinen Fall" versuchen dürfen, mit Texten "die Welt zu verändern". Wie aber dann? Zeno, der selbst mit seinem Notizbuch zum mahnredenden Autor wird, findet während des Schreibprozesses eine erste Leserin in seiner Geliebten, die allerdings, so die arge Pointe dieser Szene, des Deutschen nicht mächtig ist.
Wo Trojanow seinen Zeno ganz in seiner Wut aufgehen lässt, ist der Roman am dichtesten. Wenn der verzweifelte Forscher beim Anschauen einer Fernsehdokumentation voller Emphase eine Lawine anfeuert, noch mehr menschliche Behausungen unter sich zu begraben (und damit seine neben ihm sitzende Gattin aufs höchste befremdet), nimmt man dem Autor seinen Erzähler auf einmal ab: Das Thesenpapier, als das dieser Roman mitunter erscheint, hat aufgehört zu rascheln, es geht um Menschen aus Fleisch und Blut.
Dieses Problem stellt sich in Jo Lendles fabelhaftem Buch auf keiner Seite. Sein Wegener, so sehr er sich den Studien des Autors verdanken mag, führt eine Existenz, die sich von den Quellen emanzipiertund nie in Gefahr gerät, als wie auch immer geartetes authentisches Bild des Forschers zu erscheinen. Am Ende sind sie beide verschwunden: Zeno, der sich den südpolaren Wogen übergibt, und Wegener, der 1930 auf dem grönländischen Inlandeis überwintern will und unter einer dicken Schneeschicht begraben wird. Dass wir diesen Gletscherfreund vermissen, jenen dagegen nicht so sehr, ist der jeweiligen Romankonstruktion geschuldet. Schließlich bleibt die Hoffnung auf ein Wiedersehen, wie Lendles Wegener sie formuliert: Wenn die Kontinente nur lange genug voneinander weg gedriftet sind, müssten sie sich in etwa 250 Millionen Jahren am anderen Ende der Erde neu zusammenfinden. Und mit ihnen alles, was in der Zwischenzeit verloren ging.
TILMAN SPRECKELSEN
Ilija Trojanow: "Eistau". Roman.
Hanser Verlag, München 2011. 176 S., geb., 18,90 [Euro].
Jo Lendle: "Alles Land". Roman.
Deutsche Verlagsanstalt, München 2011. 384 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In den Romanen von Jo Lendle und Ilija Trojanow finden Männer ihr Glück im ewigen Eis - einmal zur Freude der Leser, einmal nicht.
Dass einer, der reist, davon auch zu erzählen hat, ist sprichwörtlich verbürgt. Dass sich aber, je leichter inzwischen noch die entlegensten Ziele zu erreichen sind, das Erzählen umso weniger auf das bloße Schildern des Ziels zurückziehen kann, ist ebenso evident. Und so ist die Erfahrung aus zweihundert Jahren Reisepublizistik die einer fortgesetzten Entzauberung: Wer heute noch das Lesepublikum durch einen dürren Bericht über seine Reise zu den Nilquellen fesseln kann, ist ein Genie. Und wenn inzwischen beim Nacherzählen historischer Entdeckungsfahrten gewöhnlich ein wesentlicher Punkt in der Darstellung all dessen liegt, was damals schwerer war, das Ertragen extremer Witterung, die mangelnde Kommunikation mit der Außenwelt, die Unsicherheit über die Rückkehr, dann verliert gleichzeitig die schiere Landschaft einen Teil ihrer Faszination. Nach Legionen von Bildbänden meinen wir sie zu kennen. Auch wenn die abgelegensten Orte der Erde, die Polkappen, gegenwärtig einem Wandel unterworfen sind, dessen Folgen noch unabsehbar sind.
In diesem Spannungsfeld sind zwei Romane verortet, die nun beinahe gleichzeitig erschienen sind: Ilija Trojanows "Eistau" schildert die Reise eines Gletscherforschers, der mit einem Kreuzfahrtschiff als Lektor in die Antarktis unterwegs ist und dabei zwischen Faszination für die besuchte Region und Ekel vor der Dekadenz dieser Reise schwankt, bis er sich zu einem radikalen Schritt entscheidet: Er nutzt die kurzzeitige Abwesenheit von Passagieren und Mannschaft, um das leere Schiff zu kapern und die Touristen in der antarktischen Wüste zurückzulassen.
Jo Lendles "Alles Land" dagegen greift zurück in die Zeit, als der Wettlauf zum Südpol entschieden wurde und der Naturforscher Alfred Wegener seine Theorie der Kontinentaldrift entwickelte. Beides jährt sich gegenwärtig zum hundertsten Mal: Am 14. Dezember 1911 erreichte Roald Amundsen den südlichsten Punkt der Erde, und am 6. Januar 1912 sprach Wegener vor der Senckenberg-Gesellschaft in Frankfurt zum ersten Mal öffentlich über seine Theorie. Natürlich schildert Lendles in Schlaglichtern strukturierte Romanbiographie Wegeners auch diesen Auftritt.
Mehr noch geht es dem Autor allerdings darum, das Reifen der Idee von den über den Erdball wandernden Kontinenten in Kindheit und Jugend des Berliner Predigersohns darzustellen. Mit diskreter Effizienz konfrontiert er seinen Wegener mit Alltagseindrücken, die jeder scheinbaren Statik die Bewegung gegenüberstellen: Da brechen Eisschollen und vereinigen sich zu neuen Flächen, Ameisen geraten in eine Topffalle aus lauter driftenden Puderzuckerscheiben, und Wegeners Sehnsucht nach dem archimedischen Punkt, von dem aus die Welt zu fassen sei, mündet erst in die Einsicht der ständigen Bewegung aller Dinge und Zustände, dann aber in die ernsthafte Suche nach einer Theorie dieser Bewegung - man könnte auch sagen: nach einem System, das dem allgemeinen Driften eine Struktur und damit wiederum eine gewisse Statik verleiht.
Der Charme dieses Romans wurzelt vor allem in Lendles Vermögen, der Kontinentaldrift in all unseren Verhältnissen nachzuspüren, und sein Wegener erfährt dies am eigenen Leib, wenn es etwa um die Liebe zu seiner Frau Else geht: "Seine Wonne, sein Ballast" nennt Lendle sie, und führt das in einer wundervollen Ballonfahrt-Szene ganz wörtlich aus. Nach der unsanften Landung kommen sich die Liebenden erstmals körperlich nahe, sie schmiegen sich aneinander, passgenau wie einst die südamerikanische und die afrikanische Atlantikküste, und als dann Kinder kommen, die nachts ins eheliche Bett drängen, übernehmen diese die Funktion der Plattentektonik: Das Paar driftet auseinander. Lendle aber ist klug genug, den Leser diese Analogie entdecken zu lassen, ohne ihn darauf zu stoßen.
Von dieser Dezenz ist in Trojanows "Eistau" nicht viel zu spüren. Sein Erzähler, der Glaziologe Zeno beendete seine wissenschaftliche Karriere, als er feststellen musste, dass ein von ihm regelmäßig untersuchter Alpengletscher eines Sommers im Klimawandel geradezu pulverisiert wurde. Seither begleitet er Touristen auf Kreuzfahrtschiffen in die Antarktis, hält fachwissenschaftliche Vorträge und leidet darunter, dass ihn die globale Umweltzerstörung einerseits immer stärker erregt, er andererseits all dem tatenlos zusehen muss. "Wenn Mr. Iceberger" - so sein Spitzname unter den Kollegen - "apodiktisch loslegt, endet es apokalyptisch", heißt es zu Beginn des Romans, und dass Zeno in den Augen der anderen durchaus hysterische Züge entwickelt, wird selbst in seiner eigenen Perspektive deutlich, durch die wir weite Teile des Geschehens erleben. Es gibt allerdings noch - neben Zenos mit römischen Ziffern unterteiltem Bericht - eine weitere Quelle für die dramatischen Ereignisse dieser Kreuzfahrt, die arabisch nummerierten Collagen aus Funksprüchen, Verhörprotokollen, Schlagertexten und dergleichen mehr: Das Geschnatter der Welt.
So reizvoll es sein mag, einem weltanschaulich stark konturierten Erzähler das Wort zu erteilen, so rasch ermüdet dieser obsessive Naturfreund, der etwa in den ovalen Öffnungen der Eisberge "gewaltige Vulven" erkennt und daraus "schmelzende Lockrufe" vernimmt, den Leser. Zwischen Zeno und seiner Geliebten, einer als Kellnerin auf dem Schiff arbeitenden Philippinin, sind die Rollen klar verteilt, denn wo sich die deutlich jüngere Frau - Zenos Ansicht nach - naturkindhaft wünscht, "dass wir einfach nur sind", gibt er den grübelnden westlichen Intellektuellen. Dass der aber Platitüden notiert, macht die Sache nicht besser: Da "führt" ein Friedhof allen Ernstes "ein kleines, aber feines Sortiment an Dahingeschiedenen". Zenos Nachsinnen über die verlassene Walfangstation mündet in den Merkspruch: "In der Fabrik zerlegte der Mensch Wale, die Zeit zerlegt die Fabriken." Und sein Unbehagen über die Menschen in seiner Umgebung und die eigene Haltung fasst er gern in ebenso gesuchte wie schiefe Bilder: "Alle haben dieselbe Verharmlosungssoftware heruntergelanden, bereit zu kauern, wenn es stürmt" und dergleichen mehr.
Mit dem Grunddilemma jeder Wissenschaft, so tragisch wie entlastend, hält sich Zeno nicht auf: Forscher können Fakten zusammentragen und vor Irrwegen warnen, entscheiden können sie nicht. Welche Rolle spielen dann aber die Schriftsteller? "Die Klassiker", weiß Zeno, "dürfen Licht ins Dunkel tragen", uns "ins Gewissen reden" und "Sätze verfassen, die man in steinerne Fassaden hauen kann" - im Gegensatz zu Gegenwartsautoren, die in den Augen der Mehrheit "auf gar keinen Fall" versuchen dürfen, mit Texten "die Welt zu verändern". Wie aber dann? Zeno, der selbst mit seinem Notizbuch zum mahnredenden Autor wird, findet während des Schreibprozesses eine erste Leserin in seiner Geliebten, die allerdings, so die arge Pointe dieser Szene, des Deutschen nicht mächtig ist.
Wo Trojanow seinen Zeno ganz in seiner Wut aufgehen lässt, ist der Roman am dichtesten. Wenn der verzweifelte Forscher beim Anschauen einer Fernsehdokumentation voller Emphase eine Lawine anfeuert, noch mehr menschliche Behausungen unter sich zu begraben (und damit seine neben ihm sitzende Gattin aufs höchste befremdet), nimmt man dem Autor seinen Erzähler auf einmal ab: Das Thesenpapier, als das dieser Roman mitunter erscheint, hat aufgehört zu rascheln, es geht um Menschen aus Fleisch und Blut.
Dieses Problem stellt sich in Jo Lendles fabelhaftem Buch auf keiner Seite. Sein Wegener, so sehr er sich den Studien des Autors verdanken mag, führt eine Existenz, die sich von den Quellen emanzipiertund nie in Gefahr gerät, als wie auch immer geartetes authentisches Bild des Forschers zu erscheinen. Am Ende sind sie beide verschwunden: Zeno, der sich den südpolaren Wogen übergibt, und Wegener, der 1930 auf dem grönländischen Inlandeis überwintern will und unter einer dicken Schneeschicht begraben wird. Dass wir diesen Gletscherfreund vermissen, jenen dagegen nicht so sehr, ist der jeweiligen Romankonstruktion geschuldet. Schließlich bleibt die Hoffnung auf ein Wiedersehen, wie Lendles Wegener sie formuliert: Wenn die Kontinente nur lange genug voneinander weg gedriftet sind, müssten sie sich in etwa 250 Millionen Jahren am anderen Ende der Erde neu zusammenfinden. Und mit ihnen alles, was in der Zwischenzeit verloren ging.
TILMAN SPRECKELSEN
Ilija Trojanow: "Eistau". Roman.
Hanser Verlag, München 2011. 176 S., geb., 18,90 [Euro].
Jo Lendle: "Alles Land". Roman.
Deutsche Verlagsanstalt, München 2011. 384 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Anspruch ein wenig eitel, das Resultat leider ein bisschen enttäuschend, so beschreibt Ulrich Rüdenauer seine Erfahrungen mit dem neuen Buch des Weltenbummlers Ilija Trojanow. Was der Autor vor Jahren schon in einer gelungenen Reportage über seine Reise in die Antarktis aufgeschrieben hat, findet Rüdenauer nun als Roman wieder, mit einer tragikomischen Umweltschützerfigur in der Hauptrolle und Pathos in der Rede. So wundert es denn nicht, wenn dem Rezensenten ausgerechnet jene Passagen gefallen, die nahe an der Reportage sind, etwa, wenn es um das Innenleben der Gletscher geht. Alles künstlich Aufrüttelnde stört ihn hier eher. Um die gewünschte Wirkung zu erzeugen, meint er, fehlt dem Text die nötige Wucht.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Der weltgereiste und welterfahrene Schriftsteller stellt sein Thema mit der gewohnten Sprachkunst dar." Werner Hörtner, Südwind-Magazin, 09/2011
"Ilija Trojanow gelingt mit seiner konsequenten, eigenwilligen wie poetischen Sprache sowohl das vielschichtige Porträt eines leidenschaftlichen Forschers und Liebenden, als auch die Darstellung eines absurden Theaters, das geprägt ist von Ignoranz und Zerstörung der Natur." Undine Materni, Sächsische Zeitung, 10.09.2011
"Ilija Trojanow gelingt mit seiner konsequenten, eigenwilligen wie poetischen Sprache sowohl das vielschichtige Porträt eines leidenschaftlichen Forschers und Liebenden, als auch die Darstellung eines absurden Theaters, das geprägt ist von Ignoranz und Zerstörung der Natur." Undine Materni, Sächsische Zeitung, 10.09.2011