Der letzte Sommer war der schönste: Der Sommer, in dem Thomas Orphee kennenlernt, seine wilde, schöne Orphee, seine erste, einzige, große Liebe. Eine Liebe so absolut und überwältigend, wie nur die erste Liebe es sein kann. Aber dann kommt Thomas bei einem Unfall um und Orphee bleibt allein zurück. Doch solange Orphee, seine Eltern und auch sein Großvater sich nicht von ihm verabschieden können, solange bleibt Thomas unter ihnen - unsichtbar, aber nicht weniger präsent denn als Lebender ... Thomas erzählt aus dem Off seine Geschichte, die untrennbar mit den Geschichten seines Großvaters, seiner Eltern und seiner Liebe Orphee verbunden ist. Und verwebt all diese Lebensgeschichten zu einer einzigen Erzählung voller Poesie und großer Kraft. Einer Erzählung, die die eine große Frage stellt: Was bleibt von der Liebe im Angesicht des Todes?
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hymnisch bespricht Steffen Gnam den neuen Roman des belgischen Autors Jan De Leeuw, der eindringlich von Tod, Trauer und den Schuldgefühlen der Hinterbliebenen erzählt. Der Kritiker staunt, wie geschickt der Autor in einzelnen Episoden und Perspektivsprüngen die Trauerarbeit und die Erinnerungen der verschiedenen Figuren verknüpft: Jene der Mutter etwa, die sich in einem Totenkult um ihren Sohn verliert und postume Dialoge mit ihm führt. Besonders beeindruckend findet Gnam die Figur des einsamen Großvaters, der mangels lebendiger Zuhörer mit den Toten imaginäre Gespräche über Liebes- und Schmerzerfahrungen führt und den Leser auf teils magische Art und Weise auf eine Reise durch verschiedene Epochen mitnimmt. Großartig auch das Leitmotiv des Frostes, das nicht zuletzt die Kälte der kapitalistischen Gesellschaft widerspiegelt, lobt der Rezensent, der diesem grandiosen Roman auch zahlreiche Exkurse zu großen Trauernden der Geschichte entnimmt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2016Verlass dein Zimmer, und geh in die Welt
Wenn wir Toten die Überlebenden trösten: Jan De Leeuw kennt einen Zufluchtsort für die Liebenden
"Kann ein Herz, das nicht mehr schlägt, noch brechen?" Die Frage steht im Zentrum von "Eisvogelsommer", dem neuesten Romans von Jan De Leeuw. Der belgische Autor, der vor sechs Jahren mit der Satire "Schrödinger, Dr. Linda und eine Leiche im Kühlhaus" bekannt geworden ist, beschreibt auch hier Achterbahnfahrten auf der Nachtseite des Lebens wie Todesfälle und Bewältigungsstrategien, Trauer und Trauerarbeit. "Hier passierte es, hier in diesem Kasten, der durch die Nacht flog", so beginnt die Geschichte zweier füreinander bestimmter Seelen ganz klassisch in der Schiffsschaukel einer Kirmes: "Wir brüllten um die Wette. In ihren Haaren schimmerten die Sterne. Noch nie war ein Jungenherz auf geräuschvollere Weise verlorengegangen."
Im Zentrum des Familienmelodrams stehen die postumen Reminiszenzen des sechzehnjährigen Ich-Erzählers Thomas. Seine Träume, ein berühmter Schriftsteller zu werden und in ewiger Liebe mit seinem Schwarm Orphee verbunden zu sein, endeten jäh bei einem Autounfall. Neben der bis zum Selbstmordversuch um ihn trauernden Orphee gibt es die Figur der einem übersteigerten Totenkult frönenden Mutter, deren eifersüchtig bewahrtes Recht auf Trauer die Beziehung zum Ehemann abklingen lässt.
Die versuchte Kommunikation zwischen den Lebenden und den Toten ist der rote Faden des Romans: So kommentiert Thomas immer wieder aus dem Off das Geschehen oder taucht unvermittelt zu postumen Dialogen und Streitgesprächen auf - sogar in einer Umkleidekabine, in der sich Orphee für Thomas' besten Freund Bram herausputzt. Auch seine Mutter redet unbeirrt mit ihm als dem großen Abwesenden der Geschichte. Und der vereinsamte Großvater, zu dem sie den Kontakt wegen eines "großen Streits" abbrach, redet gleich mit mehreren Toten, "denn die Lebenden besuchen ihn selten".
Seinen realen und imaginierten Zuhörern kredenzt der mitteilungsbedürftige Alte Geschichten "voll Schnee und Tod". Sie beschwören ein fast mittelalterliches dörfliches Ambiente herauf, eine magische Welt voller Fabelwesen und "wunderkräftiger Hügel", die den Liebenden über Generationen als Zufluchtsort galten. In Zeitsprüngen zwischen Liebes- und Schmerzerfahrungen mehrerer Epochen dient die Fiktion in der Fiktion - zunächst hatte De Leeuw eine Kurzgeschichtensammlung geplant - der Auflösung der Familiensaga.
Leitmotivisch in Großvaters Geschichten um Initiation, Liebe und Tod sind Bilder der Kälte wie der Eisvogel als Todesbote - Großvaters Mutter, älterer Bruder und Neffe starben bei einem Hofbrand - oder Zeitstillstand und Froststarre. Auch Orphee kokettiert mit ihrem "Herz aus Eis". Doch das Frostmotiv im Roman spiegelt auch Kältegrade der kapitalistischen Gesellschaft. Erst gestohlene Augenblicke auf der Lichtung im Wald über der Stadt und der "kleine Tod" der Liebe lassen die Helden dieser Kälte entkommen: "Die Stadtgeräusche waren ein Echo von unbedeutendem Leben ohne Liebe. Ich spürte Dein Herz."
De Leeuw zeichnet die vielfältigen Dilemmata der Hinterbliebenen zwischen Trauer, Schuldgefühl des Weiterlebens und Wut auf den Bruch des Treueschwurs ewiger Liebe durch den Tod, zwischen Vergessen als Verrat und der Notwendigkeit des Verwindens, der Suche also nach dem schmalen Pfad des Weiterlebens und Neuerfindens der Liebe. Das Buch lebt vom Wechsel der Perspektiven: Im Nebeneinander der Trauerformen, Sterbensarten und Todesahnungen, in Zeitsprüngen und postumen Puzzlespielen jongliert der Roman zwischen Dies- und Jenseits, bis die Grenzen verschwinden.
Im Universum De Leeuws erscheinen denn auch die wie in Schockstarre ihrem Alltag nachgehenden Durchschnittsmenschen als Marionetten. Exkurse zu großen Trauernden der Geschichte wie Johanna der Wahnsinnigen, die den Sarg ihres Mannes in eine Kutsche packte und damit durchs Land zog, machen das Buch auch zu einer Kulturgeschichte des Abschieds.
Dagegen stellt der Autor die Jahreszeiten des Lebens und auch der Liebe. Die Unaufhaltsamkeit der Verlustgeschichte, die sich im Tod auch der Erinnerung an die Toten erschöpft, erscheint so letztlich auch im Sinne der von uns Gegangenen.
Das bekräftigt nicht zuletzt der verstorbene Thomas, der dem Roman schließlich eine durchaus hoffnungsvolle Note gibt: "Die Erde war eine müde Schläferin, zog ein Augenlid hoch und ein Halbkreis aus Licht glitt durchs Dunkel. Der Tag konnte beginnen. Komm, Liebes, verlass dein Zimmer, und geh hinein in die Welt."
STEFFEN GNAM.
Jan De Leeuw: "Eisvogelsommer". Roman.
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2016. 256 S., geb., [Euro] 16,95. Ab 15 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn wir Toten die Überlebenden trösten: Jan De Leeuw kennt einen Zufluchtsort für die Liebenden
"Kann ein Herz, das nicht mehr schlägt, noch brechen?" Die Frage steht im Zentrum von "Eisvogelsommer", dem neuesten Romans von Jan De Leeuw. Der belgische Autor, der vor sechs Jahren mit der Satire "Schrödinger, Dr. Linda und eine Leiche im Kühlhaus" bekannt geworden ist, beschreibt auch hier Achterbahnfahrten auf der Nachtseite des Lebens wie Todesfälle und Bewältigungsstrategien, Trauer und Trauerarbeit. "Hier passierte es, hier in diesem Kasten, der durch die Nacht flog", so beginnt die Geschichte zweier füreinander bestimmter Seelen ganz klassisch in der Schiffsschaukel einer Kirmes: "Wir brüllten um die Wette. In ihren Haaren schimmerten die Sterne. Noch nie war ein Jungenherz auf geräuschvollere Weise verlorengegangen."
Im Zentrum des Familienmelodrams stehen die postumen Reminiszenzen des sechzehnjährigen Ich-Erzählers Thomas. Seine Träume, ein berühmter Schriftsteller zu werden und in ewiger Liebe mit seinem Schwarm Orphee verbunden zu sein, endeten jäh bei einem Autounfall. Neben der bis zum Selbstmordversuch um ihn trauernden Orphee gibt es die Figur der einem übersteigerten Totenkult frönenden Mutter, deren eifersüchtig bewahrtes Recht auf Trauer die Beziehung zum Ehemann abklingen lässt.
Die versuchte Kommunikation zwischen den Lebenden und den Toten ist der rote Faden des Romans: So kommentiert Thomas immer wieder aus dem Off das Geschehen oder taucht unvermittelt zu postumen Dialogen und Streitgesprächen auf - sogar in einer Umkleidekabine, in der sich Orphee für Thomas' besten Freund Bram herausputzt. Auch seine Mutter redet unbeirrt mit ihm als dem großen Abwesenden der Geschichte. Und der vereinsamte Großvater, zu dem sie den Kontakt wegen eines "großen Streits" abbrach, redet gleich mit mehreren Toten, "denn die Lebenden besuchen ihn selten".
Seinen realen und imaginierten Zuhörern kredenzt der mitteilungsbedürftige Alte Geschichten "voll Schnee und Tod". Sie beschwören ein fast mittelalterliches dörfliches Ambiente herauf, eine magische Welt voller Fabelwesen und "wunderkräftiger Hügel", die den Liebenden über Generationen als Zufluchtsort galten. In Zeitsprüngen zwischen Liebes- und Schmerzerfahrungen mehrerer Epochen dient die Fiktion in der Fiktion - zunächst hatte De Leeuw eine Kurzgeschichtensammlung geplant - der Auflösung der Familiensaga.
Leitmotivisch in Großvaters Geschichten um Initiation, Liebe und Tod sind Bilder der Kälte wie der Eisvogel als Todesbote - Großvaters Mutter, älterer Bruder und Neffe starben bei einem Hofbrand - oder Zeitstillstand und Froststarre. Auch Orphee kokettiert mit ihrem "Herz aus Eis". Doch das Frostmotiv im Roman spiegelt auch Kältegrade der kapitalistischen Gesellschaft. Erst gestohlene Augenblicke auf der Lichtung im Wald über der Stadt und der "kleine Tod" der Liebe lassen die Helden dieser Kälte entkommen: "Die Stadtgeräusche waren ein Echo von unbedeutendem Leben ohne Liebe. Ich spürte Dein Herz."
De Leeuw zeichnet die vielfältigen Dilemmata der Hinterbliebenen zwischen Trauer, Schuldgefühl des Weiterlebens und Wut auf den Bruch des Treueschwurs ewiger Liebe durch den Tod, zwischen Vergessen als Verrat und der Notwendigkeit des Verwindens, der Suche also nach dem schmalen Pfad des Weiterlebens und Neuerfindens der Liebe. Das Buch lebt vom Wechsel der Perspektiven: Im Nebeneinander der Trauerformen, Sterbensarten und Todesahnungen, in Zeitsprüngen und postumen Puzzlespielen jongliert der Roman zwischen Dies- und Jenseits, bis die Grenzen verschwinden.
Im Universum De Leeuws erscheinen denn auch die wie in Schockstarre ihrem Alltag nachgehenden Durchschnittsmenschen als Marionetten. Exkurse zu großen Trauernden der Geschichte wie Johanna der Wahnsinnigen, die den Sarg ihres Mannes in eine Kutsche packte und damit durchs Land zog, machen das Buch auch zu einer Kulturgeschichte des Abschieds.
Dagegen stellt der Autor die Jahreszeiten des Lebens und auch der Liebe. Die Unaufhaltsamkeit der Verlustgeschichte, die sich im Tod auch der Erinnerung an die Toten erschöpft, erscheint so letztlich auch im Sinne der von uns Gegangenen.
Das bekräftigt nicht zuletzt der verstorbene Thomas, der dem Roman schließlich eine durchaus hoffnungsvolle Note gibt: "Die Erde war eine müde Schläferin, zog ein Augenlid hoch und ein Halbkreis aus Licht glitt durchs Dunkel. Der Tag konnte beginnen. Komm, Liebes, verlass dein Zimmer, und geh hinein in die Welt."
STEFFEN GNAM.
Jan De Leeuw: "Eisvogelsommer". Roman.
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2016. 256 S., geb., [Euro] 16,95. Ab 15 J.
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