Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2010Jedes Rippchen zählt
Almudena Grandes schreibt über zwei verfeindete Familien im Spanischen Bürgerkrieg. Ihr Roman war in Spanien ein Hit - trotz oder wegen der Überdosis Pathos.
Eigentlich mochte sie Aprikosen. Doch seit jenem Tag vor 28 Jahren hatte sie keine mehr gegessen. Denn an jenem Tag änderte sich der Geschmack dieser Früchte für immer. Er schien ihr nicht mehr süß, sondern nur noch faulig, fast könnte man sagen: Er barg das Aroma des Todes. Er änderte sich an jenem Tag, an dem ihr Vater ihr die weiche Frucht reichte, just in jenem Moment, in dem Beamte der Guardia Civil das Haus der Familie stürmten und den Vater mitnahmen. Einige Tage später war er tot. Auf der Beerdigung steckte die junge Anita den Kern der angebissenen Frucht dem Vater ins Totenhemd. Seitdem mag sie keine Aprikosen mehr und das Leben eigentlich auch nicht.
Almudena Grandes präsentiert in ihrem Roman "Das gefrorene Herz" einige starke Szenen. Schade nur, dass sie sie nicht weiterentwickelt, ihr Potential kaum nutzt. Die erwähnten 28 Jahre sind eine lange Zeit, besonders, wenn es sich um eine gefrorene Zeit handelt, die nicht nur Anitas Herz gefrieren lässt. Doch wie es sich lebt mit solch einem Herzen, davon erfährt der Leser auf den gut neunhundert Seiten des Romans wenig. Das mag auch daran liegen, dass die dreißig Figuren, die das Personenverzeichnis aufzählt, selbst die Empathie des einfühlsamsten Schriftstellers überfordern dürften. Nimmt man die Verknüpfungen und Erzählstränge hinzu, die diese Lebensgeschichten zum Plot zusammenbinden sollen, bleibt für die einzelnen Personen auch gar nicht mehr so viel Raum - und noch weniger Tiefe.
Tiefgang aber hätte Grandes gut angestanden. Immerhin versuchte sie sich am literarisch wohl meistbeackerten Thema der spanischen Geschichte: dem Bürgerkrieg und den darauf folgenden Jahrzehnten der Franco-Herrschaft. Das Unternehmen ist umso riskanter, als Grandes sich am umfassenden Gesellschaftsroman versucht, dem breitflächig ausgemalten Porträt einer sich über vier Generationen spannenden Epoche: der Fall von Toledo, die Flüchtlinge, Jahrzehnte später dann, 1975, die Sektkorken, die nach der Nachricht vom Tod des Diktators landauf, landab aus den Flaschen geknallt sein sollen: Nichts davon fehlt. Ebendarum ist es des Guten etwas viel, ebendarum auch landet Grandes immer wieder bei reichlich abgenutzten Motiven. Der Schrecken von Maria Muñoz etwa, die kaum glauben kann, dass es sich bei der zerlumpten Gestalt um ihren Sohn handelt: "Drei Jahre Gefangenschaft und Zwangsarbeit hatten aus ihrem Jüngsten einen Mann ohne Alter gemacht, so erschöpft und ausgezehrt, dass sie die hervortretenden Rippen unter dem Hemd sehen konnte." Wenn ein bekanntes Internetunternehmen demnächst einmal alle Bücher dieser Welt gescannt haben wird, wird sich statistisch nachweisen lassen, warum man als Leser das Gefühl hat, einen solchen Satz schon unendlich oft gelesen zu haben.
Den großen Erfolg, den der um zwei politisch verfeindete, durch Liebesbande aber aneinandergekettete Familien kreisende Roman in Spanien erzielte, mag man sich durch eine Passage aus dem üppigen Dankesregister erklären, das Grandes ihrem Werk folgen lässt. Dort dankt sie unter anderen auch Enrique Morente, einem der bekanntesten Flamencosänger des Landes, für eine bewegende Strophe, die er ihr vortrug - "und dafür, dass er auf meine Frage, wer diesen Text verfasst habe, mit einer ebenso bewegenden Antwort antwortete: das Volk".
Das Volk: immer dicht am Urgrund des Seins, immer auch mit größter Empfindungstiefe begabt. Ein nicht kleinzukriegender Topos, der gerade jetzt, da sich die Spanier westeuropäischen Lebensweisen immer mehr angleichen, neue Konjunktur hat. Symbole der nationalen Identität lassen sich immer mühsamer finden. So bleibt wenig anderes als die Vergangenheit, vor allem der Bürgerkrieg, der den Spaniern eine in Europa einzigartige Geschichte aufzwang. Dem Pathos, das beide Teile der verfeindeten Gesellschaft über Jahrzehnte, bis weit hinter Francos Tod hinaus, noch pflegten, haben Historiker zwar längst die Luft rausgelassen. Aber im Selbstverständnis einer ruppigen Rechten wie einer moralisierenden Linken spielt der Krieg zumindest latent weiterhin eine Rolle. Indem sie auf Seiten der Linken das geschundene Pathos noch einmal kräftig anschwellen lässt, präsentiert sich Grandes, die vorher sehr erfolgreich erst über erotisierte und dann missgelaunte Frauen schrieb, als Schriftstellerin, die die Gefühle ihrer Leser zu bedienen weiß.
KERSTEN KNIPP
Almudena Grandes: "Das gefrorene Herz". Roman. Aus dem Spanischen von Roberto de Hollanda. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 960 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Almudena Grandes schreibt über zwei verfeindete Familien im Spanischen Bürgerkrieg. Ihr Roman war in Spanien ein Hit - trotz oder wegen der Überdosis Pathos.
Eigentlich mochte sie Aprikosen. Doch seit jenem Tag vor 28 Jahren hatte sie keine mehr gegessen. Denn an jenem Tag änderte sich der Geschmack dieser Früchte für immer. Er schien ihr nicht mehr süß, sondern nur noch faulig, fast könnte man sagen: Er barg das Aroma des Todes. Er änderte sich an jenem Tag, an dem ihr Vater ihr die weiche Frucht reichte, just in jenem Moment, in dem Beamte der Guardia Civil das Haus der Familie stürmten und den Vater mitnahmen. Einige Tage später war er tot. Auf der Beerdigung steckte die junge Anita den Kern der angebissenen Frucht dem Vater ins Totenhemd. Seitdem mag sie keine Aprikosen mehr und das Leben eigentlich auch nicht.
Almudena Grandes präsentiert in ihrem Roman "Das gefrorene Herz" einige starke Szenen. Schade nur, dass sie sie nicht weiterentwickelt, ihr Potential kaum nutzt. Die erwähnten 28 Jahre sind eine lange Zeit, besonders, wenn es sich um eine gefrorene Zeit handelt, die nicht nur Anitas Herz gefrieren lässt. Doch wie es sich lebt mit solch einem Herzen, davon erfährt der Leser auf den gut neunhundert Seiten des Romans wenig. Das mag auch daran liegen, dass die dreißig Figuren, die das Personenverzeichnis aufzählt, selbst die Empathie des einfühlsamsten Schriftstellers überfordern dürften. Nimmt man die Verknüpfungen und Erzählstränge hinzu, die diese Lebensgeschichten zum Plot zusammenbinden sollen, bleibt für die einzelnen Personen auch gar nicht mehr so viel Raum - und noch weniger Tiefe.
Tiefgang aber hätte Grandes gut angestanden. Immerhin versuchte sie sich am literarisch wohl meistbeackerten Thema der spanischen Geschichte: dem Bürgerkrieg und den darauf folgenden Jahrzehnten der Franco-Herrschaft. Das Unternehmen ist umso riskanter, als Grandes sich am umfassenden Gesellschaftsroman versucht, dem breitflächig ausgemalten Porträt einer sich über vier Generationen spannenden Epoche: der Fall von Toledo, die Flüchtlinge, Jahrzehnte später dann, 1975, die Sektkorken, die nach der Nachricht vom Tod des Diktators landauf, landab aus den Flaschen geknallt sein sollen: Nichts davon fehlt. Ebendarum ist es des Guten etwas viel, ebendarum auch landet Grandes immer wieder bei reichlich abgenutzten Motiven. Der Schrecken von Maria Muñoz etwa, die kaum glauben kann, dass es sich bei der zerlumpten Gestalt um ihren Sohn handelt: "Drei Jahre Gefangenschaft und Zwangsarbeit hatten aus ihrem Jüngsten einen Mann ohne Alter gemacht, so erschöpft und ausgezehrt, dass sie die hervortretenden Rippen unter dem Hemd sehen konnte." Wenn ein bekanntes Internetunternehmen demnächst einmal alle Bücher dieser Welt gescannt haben wird, wird sich statistisch nachweisen lassen, warum man als Leser das Gefühl hat, einen solchen Satz schon unendlich oft gelesen zu haben.
Den großen Erfolg, den der um zwei politisch verfeindete, durch Liebesbande aber aneinandergekettete Familien kreisende Roman in Spanien erzielte, mag man sich durch eine Passage aus dem üppigen Dankesregister erklären, das Grandes ihrem Werk folgen lässt. Dort dankt sie unter anderen auch Enrique Morente, einem der bekanntesten Flamencosänger des Landes, für eine bewegende Strophe, die er ihr vortrug - "und dafür, dass er auf meine Frage, wer diesen Text verfasst habe, mit einer ebenso bewegenden Antwort antwortete: das Volk".
Das Volk: immer dicht am Urgrund des Seins, immer auch mit größter Empfindungstiefe begabt. Ein nicht kleinzukriegender Topos, der gerade jetzt, da sich die Spanier westeuropäischen Lebensweisen immer mehr angleichen, neue Konjunktur hat. Symbole der nationalen Identität lassen sich immer mühsamer finden. So bleibt wenig anderes als die Vergangenheit, vor allem der Bürgerkrieg, der den Spaniern eine in Europa einzigartige Geschichte aufzwang. Dem Pathos, das beide Teile der verfeindeten Gesellschaft über Jahrzehnte, bis weit hinter Francos Tod hinaus, noch pflegten, haben Historiker zwar längst die Luft rausgelassen. Aber im Selbstverständnis einer ruppigen Rechten wie einer moralisierenden Linken spielt der Krieg zumindest latent weiterhin eine Rolle. Indem sie auf Seiten der Linken das geschundene Pathos noch einmal kräftig anschwellen lässt, präsentiert sich Grandes, die vorher sehr erfolgreich erst über erotisierte und dann missgelaunte Frauen schrieb, als Schriftstellerin, die die Gefühle ihrer Leser zu bedienen weiß.
KERSTEN KNIPP
Almudena Grandes: "Das gefrorene Herz". Roman. Aus dem Spanischen von Roberto de Hollanda. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 960 S., geb., 24,90 [Euro].
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