»Elegie«, ein großer Trauergesang, zählt zu den wichtigsten amerikanischen Gedichtbänden im letzten Jahrzehnt - hier erscheint er erstmals auf Deutsch.Mary Jo Bang spricht in den Gedichten des Zyklus »Elegie« von der Erfahrung eines unerträglichen Verlusts: dem Tod ihres Sohnes. In Etappen durchleben wir als Leser den Trauerprozess, immer wieder kehren wir zu zwei verstörenden Themen zurück: zur sich im Trauern immer neu verzerrenden Wahrnehmung von Zeit und zur Erkenntnis, dass auch die Elegie eine Art von Vorstellung ist, in dem sich die Person im Schmerz aufspaltet und Inneres und Äußeres anscheinend unterschiedlichen Regieanweisungen folgen. Aus dem imaginierten Gespräch mit dem Abwesenden, der Selbstanklage, dem nagenden Gefühl von Schuld, dem Dauergefühl des Ungenügens angesichts des Geschehenen, entwickelt sich auch ein Dialog zwischen der Form der Gedichte und der Trauer. Die Gedichte berichten nicht - sie sind Erfahrung.KEHREN WIR ZURÜCKZum Anfang, dem Morgenanbruch,der Geburt all dessen,was du sein würdest. Die kalte Handdes Januars lehrte die Uhr, die Zeit zu lesen.Und jetzt ist Juli, Halbjahres-Tag, der für nichts steht als die Harke,die wieder die Meutewilder Hunde in den Käfig schiebt.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2018So leicht lässt sich das
Hirn nicht unterkriegen
Mary Jo Bangs Gedichte beobachten die Trauer
Vielleicht ähnelt die Trauer einer dickwandigen Kapsel. Nach dem Tod eines nahen Menschen mag es dem Trauernden so vorkommen, als sei er nichts als dieses Gefühl. Mit der Zeit zieht sich der Schmerz zwar in kleine umgrenzte Bereiche zurück. Doch von dort kann er jederzeit in den Alltag hineindrängen und den Trauernden umschließen. In der Sprache der Gedichte von Mary Jo Bang klingt das so: „Später / war es, als würde das Leben im / Nachglühen einer Sterngeburt gelebt / und aus Resten / eines kollabierten Sterns eine / schnelldrehende Solarleiche entstehen“.
Die Dichterin Mary Jo Bang, 1946 in Missouri geboren, ist die große Nervenkünstlerin der amerikanischen Gegenwartslyrik. Ihre poetische Grundhaltung hat sie einmal in einem Vers formuliert: „Jemand rastet aus und zerschmettert jäh das statische Abstraktum.“ Nicht, dass Bang an jedem Schreibtag tatsächlich ausrasten würde. Aber die Beweglichkeit ihrer Verse speist sich aus einer bestimmten Art von poetischer Energie, mit der sie Gedanken und feinste Körperwahrnehmungen so schnell verbinden kann, dass sich das eine vom anderen manchmal kaum trennen lässt. Als ihr Sohn 2004 an einer Überdosis Tabletten starb, nutzte sie ihr hellwaches dichterisches Sensorium für eine berückende Sammlung von Gedichten, die jede trockene Abstraktion unterläuft.
Es beginnt mit einem zurückgelassenen Hut am Haken und der Frage nach dem Ich. Doch die Ideen wollen sich nicht verknüpfen. Der Nullpunkt inmitten der allesverschlingenden Trauer könnte deutlicher kaum bezeichnet sein: „Alle Wege führen zu meinem leeren Kopf (...) // Was einmal Denken war, / ist geknackt.“ Die gewohnten Zeitvorstellungen schwinden – da erscheint es nur konsequent, den Lauf der Verse an Assoziationen und Klangfiguren zu binden.
Doch so leicht lässt sich das „zarte, elegante Gehirn“ nicht unterkriegen. Immer wieder zeigt sich die Kraft des Denkens in kleinen Reflexionen und in der sich ändernden Geschwindigkeit der Verse. „Brain“ und „mind“ sind die am häufigsten verwendeten Wörter in diesem Band. Und so unternimmt der Geist „seine tägliche Pilgerreise / durch Ramschmomente“. Auf dass die Routinen und Abläufe helfen mögen, dass die Schreibende nicht den Verstand verliert. Bis der Schlaf eine kurze Erlösung bringt. Doch auch nachts wälzt die Zeit manchmal nur Stunde um Stunde, bis der Morgen kommt.
„Elegie“ ist weniger ein Gedächtnisbuch für das Leben des verstorbenen Sohnes als ein Umkreisen der Trauer. Und ein Versuch, den Schmerz zugleich schreibend zu entfalten und zu analysieren. In weit verzweigten Gedanken und Wahrnehmungen untersucht Bang den Umschlag von Lust in Schmerz und von Trauer in Sorge. Und immer wieder sieht sie sich das Gefüge der Zeit und vor allem der Sprache an. Das Spannende an diesem Unternehmen ist, dass Bang für ihre Analyse genau jene Mittel benutzt, die sie analysiert: Metaphern, Vergleiche, Klangspiele und Erinnerungssprünge: „Die Uhr mit ihrem digitalen Blinken / ist auch nur ein klägliches Bitten um mehr. // Wörter, die entgleiten, kaum mehr als / Eisschollen in einer Szene aus Weiß“. So schließen sich präsentische Schreiberfahrung und Nachdenken fortwährend kurz.
Wie lassen sich diese Sprachblitze übersetzen? Wie kann man all die Lücken, Beschleunigungen und Bremsmanöver in einer anderen Sprache spielen lassen? „Eine große Autorin ist hier erstmals auf Deutsch zu entdecken“, wirbt der Verlag auf dem Buchumschlag. Das stimmt nicht ganz. 2010 ist im kleinen luxbooks Verlag (den es inzwischen nicht mehr gibt) eine schöne Auswahl aus Bangs lyrischem Gesamtwerk erschienen. Darin finden sich auch zehn Gedichte aus „Elegie“, übersetzt von Barbara Thimm.
Wo Thimm sehr genau der semantischen Bewegung des Originals folgt, versuchen Uda Strätling und Matthias Göritz nun eher, die rhythmische Signatur von Bangs Versen nachzuformen. Das gelingt immer dann, wenn sich das rhythmische Moment mit einem Blick für die Bedeutungsnuancen der Wörter verbindet. So macht das Übersetzerduo aus der mit einem Kosenamen und Lautverwandlungen spielenden Formulierung „Broke bough of one / Limb. Lambikin, let’s go back / To the beginning“ im Deutschen die schöne Variante „Astbruch einer / Gabel. Schnäbelchen. Gehen wir zurück / zum Anfang“. Andere Lösungen sind weniger überzeugend. Aus „Never to be hospital bedded, mother loved“ wird hier der Satz „Nie mehr klinikbettbar, mutterliebbar“. Und die im Englischen schwingende Fügung „Out there was a row / Of everything she remembered“ ist nun ein stumpfes „Dort draußen war die Reihe / all dessen, wessen sie sich entsann“.
Mary Jo Bang tastet dem Tod und der Trauer nach, ohne ihnen ihr Geheimnis zu nehmen. Dabei markiert sie sehr genau, dass Trauer auch ein Moment von Inszenierung hat. So ist es nicht überraschend, wenn im „Hirn-Theater“ immer wieder Bilder aus der griechischen Tragödie aufleuchten.
Mitunter sind all die mythischen Gestalten und schnatternden Chöre ein wenig zu viel. Aber das schmälert nicht die Kraft dieser Gedichte. Bang umkreist mit ihrer Sprache das Unbegreifliche des Todes – und zeigt uns, dass das Kopfspektakel im besten Fall ein „Knäuel aus Wahrheit und Erinnerung“ ist.
NICO BLEUTGE
„Brain“ und „mind“ sind die
am häufigsten verwendeten
Wörter in diesem Band
Mary Jo Bang tastet dem Tod
und der Trauer nach, ohne ihnen
ihr Geheimnis zu nehmen
Mary Jo Bang: Elegie.
Gedichte. Aus dem Englischen von Matthias Göritz und Uda Strätling. Wallstein, Göttingen 2018.
172 Seiten, 20 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Hirn nicht unterkriegen
Mary Jo Bangs Gedichte beobachten die Trauer
Vielleicht ähnelt die Trauer einer dickwandigen Kapsel. Nach dem Tod eines nahen Menschen mag es dem Trauernden so vorkommen, als sei er nichts als dieses Gefühl. Mit der Zeit zieht sich der Schmerz zwar in kleine umgrenzte Bereiche zurück. Doch von dort kann er jederzeit in den Alltag hineindrängen und den Trauernden umschließen. In der Sprache der Gedichte von Mary Jo Bang klingt das so: „Später / war es, als würde das Leben im / Nachglühen einer Sterngeburt gelebt / und aus Resten / eines kollabierten Sterns eine / schnelldrehende Solarleiche entstehen“.
Die Dichterin Mary Jo Bang, 1946 in Missouri geboren, ist die große Nervenkünstlerin der amerikanischen Gegenwartslyrik. Ihre poetische Grundhaltung hat sie einmal in einem Vers formuliert: „Jemand rastet aus und zerschmettert jäh das statische Abstraktum.“ Nicht, dass Bang an jedem Schreibtag tatsächlich ausrasten würde. Aber die Beweglichkeit ihrer Verse speist sich aus einer bestimmten Art von poetischer Energie, mit der sie Gedanken und feinste Körperwahrnehmungen so schnell verbinden kann, dass sich das eine vom anderen manchmal kaum trennen lässt. Als ihr Sohn 2004 an einer Überdosis Tabletten starb, nutzte sie ihr hellwaches dichterisches Sensorium für eine berückende Sammlung von Gedichten, die jede trockene Abstraktion unterläuft.
Es beginnt mit einem zurückgelassenen Hut am Haken und der Frage nach dem Ich. Doch die Ideen wollen sich nicht verknüpfen. Der Nullpunkt inmitten der allesverschlingenden Trauer könnte deutlicher kaum bezeichnet sein: „Alle Wege führen zu meinem leeren Kopf (...) // Was einmal Denken war, / ist geknackt.“ Die gewohnten Zeitvorstellungen schwinden – da erscheint es nur konsequent, den Lauf der Verse an Assoziationen und Klangfiguren zu binden.
Doch so leicht lässt sich das „zarte, elegante Gehirn“ nicht unterkriegen. Immer wieder zeigt sich die Kraft des Denkens in kleinen Reflexionen und in der sich ändernden Geschwindigkeit der Verse. „Brain“ und „mind“ sind die am häufigsten verwendeten Wörter in diesem Band. Und so unternimmt der Geist „seine tägliche Pilgerreise / durch Ramschmomente“. Auf dass die Routinen und Abläufe helfen mögen, dass die Schreibende nicht den Verstand verliert. Bis der Schlaf eine kurze Erlösung bringt. Doch auch nachts wälzt die Zeit manchmal nur Stunde um Stunde, bis der Morgen kommt.
„Elegie“ ist weniger ein Gedächtnisbuch für das Leben des verstorbenen Sohnes als ein Umkreisen der Trauer. Und ein Versuch, den Schmerz zugleich schreibend zu entfalten und zu analysieren. In weit verzweigten Gedanken und Wahrnehmungen untersucht Bang den Umschlag von Lust in Schmerz und von Trauer in Sorge. Und immer wieder sieht sie sich das Gefüge der Zeit und vor allem der Sprache an. Das Spannende an diesem Unternehmen ist, dass Bang für ihre Analyse genau jene Mittel benutzt, die sie analysiert: Metaphern, Vergleiche, Klangspiele und Erinnerungssprünge: „Die Uhr mit ihrem digitalen Blinken / ist auch nur ein klägliches Bitten um mehr. // Wörter, die entgleiten, kaum mehr als / Eisschollen in einer Szene aus Weiß“. So schließen sich präsentische Schreiberfahrung und Nachdenken fortwährend kurz.
Wie lassen sich diese Sprachblitze übersetzen? Wie kann man all die Lücken, Beschleunigungen und Bremsmanöver in einer anderen Sprache spielen lassen? „Eine große Autorin ist hier erstmals auf Deutsch zu entdecken“, wirbt der Verlag auf dem Buchumschlag. Das stimmt nicht ganz. 2010 ist im kleinen luxbooks Verlag (den es inzwischen nicht mehr gibt) eine schöne Auswahl aus Bangs lyrischem Gesamtwerk erschienen. Darin finden sich auch zehn Gedichte aus „Elegie“, übersetzt von Barbara Thimm.
Wo Thimm sehr genau der semantischen Bewegung des Originals folgt, versuchen Uda Strätling und Matthias Göritz nun eher, die rhythmische Signatur von Bangs Versen nachzuformen. Das gelingt immer dann, wenn sich das rhythmische Moment mit einem Blick für die Bedeutungsnuancen der Wörter verbindet. So macht das Übersetzerduo aus der mit einem Kosenamen und Lautverwandlungen spielenden Formulierung „Broke bough of one / Limb. Lambikin, let’s go back / To the beginning“ im Deutschen die schöne Variante „Astbruch einer / Gabel. Schnäbelchen. Gehen wir zurück / zum Anfang“. Andere Lösungen sind weniger überzeugend. Aus „Never to be hospital bedded, mother loved“ wird hier der Satz „Nie mehr klinikbettbar, mutterliebbar“. Und die im Englischen schwingende Fügung „Out there was a row / Of everything she remembered“ ist nun ein stumpfes „Dort draußen war die Reihe / all dessen, wessen sie sich entsann“.
Mary Jo Bang tastet dem Tod und der Trauer nach, ohne ihnen ihr Geheimnis zu nehmen. Dabei markiert sie sehr genau, dass Trauer auch ein Moment von Inszenierung hat. So ist es nicht überraschend, wenn im „Hirn-Theater“ immer wieder Bilder aus der griechischen Tragödie aufleuchten.
Mitunter sind all die mythischen Gestalten und schnatternden Chöre ein wenig zu viel. Aber das schmälert nicht die Kraft dieser Gedichte. Bang umkreist mit ihrer Sprache das Unbegreifliche des Todes – und zeigt uns, dass das Kopfspektakel im besten Fall ein „Knäuel aus Wahrheit und Erinnerung“ ist.
NICO BLEUTGE
„Brain“ und „mind“ sind die
am häufigsten verwendeten
Wörter in diesem Band
Mary Jo Bang tastet dem Tod
und der Trauer nach, ohne ihnen
ihr Geheimnis zu nehmen
Mary Jo Bang: Elegie.
Gedichte. Aus dem Englischen von Matthias Göritz und Uda Strätling. Wallstein, Göttingen 2018.
172 Seiten, 20 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Mary Jo Bang tastet dem Tod und der Trauer nach, ohne ihnen ihr Geheimnis zu nehmen.« (Nico Bleutge, Süddeutsche Zeitung, 20.03.2018) »ein fulminanter Text, der tatsächlich noch lange diskutiert werden sollte« (Jan Wilm, Deutschlandfunk Büchermarkt, 13.06.2018) »ein extrem berührendes Buch« (Claudia Kramatschek, Deutschlandfunk Kultur »Lyrik lesen«, 15.04.2018) »Ihr gelingt in Versen (...), die Trauer um den Verlust des eigenen Kindes in ergreifende Worte zu fassen.« (Andreas Wirthensohn, Wiener Zeitung extra, 07./08.07.2018) »Was für Töne Mary Jo Bang ihrer Klage abringt, es erstaunt und ergreift.« (Bettina Hartz, Fixpoetry, 14.05.2018) »Es ist ein großes Verdienst des Wallstein Verlags, dass diese Autorin nun erstmals auch auf Deutsch zu entdecken ist.« (Markus Jäger, ekz.bibliotheksservice, 22.05.2018) »Gewiss ein erstaunliches, wagnisvolles und zugleich 'verständliches' Buch einer Sprachkünstlerin allerersten Rangs.« (Jonis Hartmann, Textem, 18.06.2018) »Strätlingund Göritz haben eine hochkomplexe, brillante Elegie endlich einer deutschen Leserschaft zugänglich gemacht.« (Kai Sammet, www.literaturkritik.de, August 2018) »Eine ehrliche, eigensinnige und berührende Auseinandersetzung mit dem Verlust eines Menschen, einem lyrischen Erlebnisbericht ähnelnd, der unter die Haut geht.« (Anne Tebben, Der evangelische Buchberater, 03/2018)