Produktdetails
- Verlag: DuMont Reiseverlag
- ISBN-13: 9783770148790
- ISBN-10: 3770148797
- Artikelnr.: 24227129
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999Man muss auf allen Fronten angreifen
Nur die schwachen Tiere meiden den Kampf, und Poesie ist ein Schlag in die Magengrube: Michel Houellebecq, Jahrgang 1958, und sein großer Roman "Elementarteilchen"
In diesem Herbst gibt es ein Buch, das auf beunruhigende, ja erschreckende Weise anders ist: der Roman "Elementarteilchen" des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq. Mehr denn je erscheinen historische Romane, fett, menschlich, schicksalsschwer. Daneben stehen die Exerzitien der Selbstreflexion, der Erinnerung. Und nun dieses Buch: ein Ideenroman, der wie ein Kriegstagebuch aus der Inneren Mongolei ist, eine Abrechnung mit dem modernen Menschen, dessen letzte Epoche 1968 begann.
Die Aufregung, die dem Erscheinen dieses Buches folgt, verrät eines: dass in diesem Buch von einem Verdacht die Rede ist, den die Gesellschaft sich selbst gegenüber hegt. Die "Elementarteilchen" sind ein Manifest, eine Reportage von den Frontlinien der modernen Zeit. "Immer höher wird der Preis, den der einzelne für die Umständlichkeit seines Daseins zu zahlen hat", erklärte einst der Soziologe Helmuth Plessner, "und die Rechnung geht menschlich nicht mehr auf." Vierzig Jahre später hat Michel Houellebecq, 1958 in Paris geboren, dafür einen literarischen Ausdruck gefunden. Er zieht den Strich.
Da soll es eine Mutter gegeben haben, schön, gebildet, in besten Verhältnissen lebend. Sie folgt erst einem und dann vielen anderen Männern und bringt irgendwann zwei Söhne, Bruno und Michel, zur Welt. Aber sie will frei sein, sie will, dass sich ihr eigenes Leben erfüllt, und so wachsen die Knaben bei den Großeltern auf. Ihre Seelen - oder was man dafür halten soll - nehmen dabei großen Schaden. Die beiden wachsen zu den einsamsten Figuren des Universums heran, zwei parallele, aber völlig verschiedene Figuren, eine jede eingeschlossen in ihre schlechte Haut wie in ein Gefängnis. Die "Elementarteilchen" kommen daher wie ein Bildungsroman. Aber wer wollte bei diesem Buch von "Bildung" reden, und wer von "Leben"? Die Gestalten dieses Buches sind geordnet, als ginge es um eine soziologische Fallstudie. Die beiden Karrieren gehorchen einer Mechanik, die sozialpädagogische Lehrbücher wie Werke von epischer Lebensfülle erscheinen lässt. Und doch wird dieses Buch als Kataster der modernen Seele behandelt. Zu Recht.
Das Phänomen Houellebecq ist nicht erst gestern entstanden. Es musste sich aufbauen. Der Schriftsteller hat schon einmal, vor fünf Jahren, einen Roman veröffentlicht, ein kleineres, aber ähnliches Werk. Darin erzählt er die traurige und banale Geschichte eines Informatikers, der durch die französische Provinz reist, um der Landwirtschaft zur elektronischen Datenverarbeitung zu verhelfen. Auch dieser Roman handelt von der Sexualität - oder genauer: davon, wie es ist, wenn von der Suche nach einem Menschen nur die Berührung von Leibern übrig bleibt. Diese wird, streng den Gesetzen des Marktes folgend, so geregelt, dass die Jungen und Schönen alles bekommen, und das gratis, während die Alten und Hässlichen nichts erhalten, selbst wenn sie zu zahlen bereit sind. Der Roman heißt "Ausweitung der Kampfzone", und so ist er gemeint: als Bildungsgeschichte von den Schlachtfeldern des Glückverlangens. Das Buch verbreitete sich wie ein Gerücht: Jahrelang waren die Manuskripte Houellebecqs von den Verlagen abgelehnt worden, und als das Buch endlich bei Maurice Nadeau erschien, dauerte es noch einmal Jahre, bis es zu einem Erfolg wurde. Der Roman setzte sich gleichsam subkutan, unter der Haut des literarischen Betriebs durch.
Die Luft ist dünn geworden für Romanhelden, meint Michel Houellebecq, nicht weniger dünn als für die Helden des romantischen Lebens. Diese Leere füllt, wer dennoch einen Roman schreiben will, mit einer Überdosis Theorie. Die "Elementarteilchen", der zweite Roman dieses Autors, folgt auf den ersten wie der große Krieg auf ein Scharmützel. Dieses Buch soll der Gesellschaftsroman des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts sein. Michel Houellebecq beruft sich auf Honoré de Balzac - des maßlosen Anspruchs wegen, aber auch um der metaphysischen Sehnsucht und des Melodrams willen. Und schließlich lieferte auch Balzac seine Weltformeln für den Alltagsverstand. Man kann sie auch für Theorien halten: "Man darf nicht zögern, Theoretiker zu sein", sagt Michel Houellebecq, "man muss auf allen Fronten angreifen."
Und so klingen manche Sätze aus dem Roman, als stammten sie aus einer Erzählung Guy de Maupassants: "Ohne Schönheit ist ein junges Mädchen unglücklich, denn es hat keine Chance geliebt zu werden. Niemand macht sich zwar über ein solches Mädchen lustig oder schikaniert es; aber es ist gleichsam durchsichtig, kein Blick folgt ihm." Andere Sätze kommen daher, als seien sie aus wissenschaftlichen Handbüchern abgeschrieben: "Die sexuelle Befreiung hatte die Zerstörung der letzten Gemeinschaftsformen zur Folge, der letzten Zwischenstufen, die das Individuum vom Markt trennten." Die "Elementarteilchen" gehören zu einem Genre, mit dem wir alle nicht gerechnet hätten: Sie sind ein Thesenroman, eine ins Barbarische gewendete Fortsetzung des romantischen Reflexionsromans. In diesem Buch arbeitet eine Zentrifuge für gebrauchte Ideen. Was sie von sich schleudert, enthält nicht mehr Leben als eine alte Plastiktüte.
Das weiß der Autor. Das weiß auch das Publikum. In jedem Satz dieses Buches ist es zu lesen, und bis in das Gesicht, bis in die Kleidung dieses Schriftstellers hinein steht geschrieben: Leser, von mir habt ihr nichts Angenehmes zu erwarten, in diesem Buch werdet ihr niemanden finden, dem ihr eure Sympathie schenken könntet. Ihr werdet dieses Buch nicht mit einem Gefühl der Befriedigung, der milden Sehnsucht aus der Hand legen. "Seien Sie gemein, dann sind Sie wahr", prangt als Leitspruch auf der Rückseite des Romans. Und doch wurden die "Elementarteilchen" nicht nur zu einem literarischen Erfolg, sondern auch zum Gegenstand einer Debatte, wie es sie in Frankreich seit den späten sechziger Jahren, seit dem Streit um Philippe Sollers, Roland Barthes und den Abschied der Intellektuellen von der Linken, nicht mehr gegeben hat.
Nach dreißig Jahren gibt es wieder ein Buch, das dem Leser wie ein Block im Wege steht, und siehe da: Der Leser muss sich entscheiden. Er muss den Block zertrümmern oder die Straßenseite wechseln. Dieses Gefühl scheint die Literatur lange schuldig geblieben zu sein. Seit dem vergangenen Herbst beherrscht nun der kleine Mann mit dem offenen Hemd und der zerdrückten Zigarette das öffentliche Gespräch in Frankreich. Das Buch ist in fast vierhunderttausend Exemplaren verkauft worden, in den französischen Zeitungen sind erste Bestandsaufnahmen erschienen: ein Jahr mit Michel Houellebecq. Mit der Veröffentlichung der "Elementarteilchen" in Deutschland, die hier mit der Debatte um den "Menschenpark" zusammenfällt, wird dieser Autor auch bei uns dem Leser im Wege liegen wie ein Stein.
Was aber ist das Anstößige an diesem Buch? Es erzählt eine Bildungsgeschichte, die mit den Erwartungen des Lesers Schindluder treibt: Bruno Clément, der ältere Halbbruder, dessen Geburt Michel Houellebecq in das Jahr 1956 legt, wächst in der Provinz auf. Er besucht ein Internat, er wäre gern ein erfolgreicher Schüler, von allen geliebt und geachtet. Aber er sieht nicht gut aus, er fühlt sich "kalkweiß, winzig, abstoßend und dick". Seine Jugend wird zu einer langen Qual. "Das schwächste Tier", erläutert der Autor, "besitzt im Allgemeinen die Möglichkeit, den Kampf zu vermeiden, indem es eine Demutsstellung einnimmt. Bruno befand sich in einer ungünstigeren Lage." Brunos Geschichte zitiert die alten Leiden der Heranwachsenden, wie sie mit dem jungen Törleß zum literarischen Gemeingut geworden sind. Nur sind seit den Tagen Robert Musils die Demütigungen gemeiner, die Brutalitäten widerlicher geworden. Dafür gibt es einen Grund: Der freiheitliche Geist der sechziger und siebziger Jahre hat den "Schutzwall" einer mit handfesten Mitteln durchgesetzten Moral geschleift und dadurch die Brutalität erst beflügelt. Was den Zeitgenossen noch immer als Humanisierung erscheint, ist in Wirklichkeit eine Verrohung, eine immer größer werdende Barbarei.
Bruno wird zu einem Gymnasiallehrer, zu einer verkrachten Gestalt, die mit ihren erotischen Bedürfnissen nicht zurechtkommt, weil sie glaubt, in fremden Körpern nach dem Glück forschen zu müssen. "Das Hauptziel seines Lebens war sexueller Art gewesen", heißt es in einer ungelenk schamhaften Formulierung, "sich ein anderes Ziel zu setzen war nicht mehr möglich, das wusste er jetzt. Darin war Bruno charakteristisch für seine Epoche." Dies ist der zweite terroristische Hauptsatz der "Elementarteilchen": Die sexuelle Befreiung, ursprünglich als Triumph über die Entfremdung in der autoritären Gesellschaft gefeiert, entpuppt sich in den Augen von Michel Houellebecq als letzte und entscheidende Strategie des freien Marktes zur Zerstörung "des Paares und der Familie, das heißt, der letzten beiden Gemeinschaften". Erst danach kann der Markt in den letzten Winkel eines jeden Menschen vordringen - um jeden einzelnen auszusaugen und als leere Hülse zurückzulassen.
Bruno lebt allein, so wie sein Halbbruder Michel Djerzinski. Wenn er sein Appartement verlässt, trifft er auf andere Monaden. Sie locken oder weisen zurück, sie ziehen sich an oder stoßen sich ab, kaum dass sie selbst eine Vorstellung davon hätten, was ihnen widerfährt. Wenn sie sprechen, dann reden sie nicht miteinander, sonden halten Monologe. Ihre Texte klingen, als seien sie aus den Traktaten der siebziger Jahre abgeschrieben worden, aus der Soziologie, der Psychologie und aus der Philosophie der Naturwissenschaften. Nichts von alledem ist echt, nichts ist szenisch, keine Figur verlangt nach Anteilnahme, kein Detail fügt sich zu einer großen Erzählung. Als in den Wochen nach Erscheinen der Fortsetzung auf der folgenden Seite
französischen Originalausgabe die "Affäre Houellebecq" heranwuchs, wurde der Streit in der Presse um politische Kategorien geführt. Der Autor wurde zum Reaktionär, zum Faschisten, zum Frauenverachter und zum Buddhisten erklärt. Aber die Leser stießen sich nicht an Politik - und auch nur am Rande an ein paar langen, ekelhaften Passagen, die eher klinisch als pornographisch sind. An Obszönität haben Film und bildende Kunst die Literatur längst überflügelt. Anstößig ist der Roman vor allem wegen der Rücksichtslosigkeit, mit der hier die antimodernen Einwände gegen das moderne Leben mit größter Lautstärke, mit der Wucht eines Schlags in die Magengrube wiederholt werden.
Das Buch erregte das Publikum als Pamphlet, als Thesenanschlag, als Rebellion gegen die Meisterdenker, in deren Schule auch Michel Houellebecq gegangen ist. Denn die "Elementarteilchen" sind die Untoten der siebziger Jahre. Die Hippies des Romans, ihre Zeltplätze und Lebensgewohnheiten, aber auch ihre mystischen Lehren sind Wiedergänger einer älteren Zeit. Das gilt auch für die Theorien: Das Buch führt die unaufgelösten, aber längst zum Konsens geronnenen Debatten der siebziger Jahre fort und will sie beenden. Aber weil die alte Zeit mitsamt ihren Diskussionen, Seminaren und Magazinen untergegangen ist, gibt es grundsätzliche Kritik nur noch in einer schäbigen, grotesken, zuweilen hemmungslos übertreibenden Form. In ihrer Mitte steht der Autor selbst. Er macht keinen Hehl daraus, dass er den größten Teil seiner Geschichten selbst erlebt hat: die Mutter, die ihren Sohn um ihrer sexuellen Freiheit willen verlässt, die Jugend bei den Großeltern, das Leben als Angestellter, die Tage vor dem Computer, die Arbeitslosigkeit, die Depressionen und der Gang ins Irrenhaus. Einzelner als dieser Schriftsteller scheint der Einzelne nie gewesen zu sein.
Michel Houellebecq hat seinen Roman als Sittengeschichte der vergangenen drei Jahrzehnte angelegt: "Die in den sechziger Jahren zu Wohlstand gekommene Generation um die dreißig konnte sich völlig mit ,Emmanuelle' identifizieren: Der 1974 herausgekommene Film von Just Jaeckin, der einen neuartigen Zeitvertreib, exotische Schauplätze und Phantasmen vor Augen führte, war innerhalb einer Kultur, die tief in der jüdisch-christlichen Tradition verwurzelt blieb, für sich allein ein Manifest für den Übergang in die Freizeitgesellschaft." Die Sittengeschichte liefert den Stoff, durch den der Schriftsteller seine Figuren bewegt, und was ihn dabei vorantreibt, ist der Hass - ein Hass, der keine Form findet, weil er keinen vernünftigen, allgemeinen Ausdruck mehr kennt, uns sich nur noch in Gestalt eines Nervenbündels behaupten kann. In seinem gereizten Widerwillen mischt sich das sorgfältig Beobachtete mit dem falsch Kolportierten, die treffende Formulierung mit dem Gerücht. So entsteht das Pamphlet, das dieses Buch bis in seinen letzten Satz hinein ist. Und so entsteht auch die Dreiheit der Genres, mit denen Michel Houellebecq zur Attacke ausholt: mit Essays, die den Schlag direkt führen sollen, mit Romanen, die den Umweg über das fiktive Experiment nehmen, und mit Gedichten, die so banal sind, als sei in Alexandriner gefaßte Unbedarftheit das beste Mittel, um es der Welt heimzuzahlen. An zwei Stellen der "Elementarteilchen" macht der Hass eine Pause. In beiden Fällen begegnen die Helden, beinahe schon alt, dem Unerwarteten: je einer Frau, mit der sie hätten leben können. Plötzlich ändert sich der Ton. Für ein paar Seiten erinnert der Roman an eine elegische Novelle. Zwei Inseln liegen im Roman, und auf ihnen wird die Rückseite des Pamphlets gezeigt: die Idylle, der Ort jenseits des Marktes. Die große Wut des Charles Péguy, des Mystikers der Affäre Dreyfus, kehrt in diesem Roman in ihrer Doppelgestalt, als Hass und Sehnsucht, wieder. Sie hat nichts von ihrem Tempo verloren, nichts von ihrem motorischen, hämmernden Rhythmus. Nur der Glaube ist dieser großen Wut abhanden gekommen. "Ich habe noch einmal den Versuch gemacht, katholisch zu werden", erzählt Bruno seinem Bruder, "ich lag auf meiner Dunlopillo-Matratze und las ,Das Mysterium der unschuldigen Kinder' und trank dabei Anislikör. Charles Péguy ist schon toll, wirklich wunderschön; aber das hat mich schließlich völlig deprimiert." Tatsächlich gibt es zwischen dem katholischen Widerstand gegen die moderne Welt und Michel Houellebecq eine Parallele: die Revolte wider die Universalisierung des Markts. Der Vertrag von Maastricht ist in den "Elementarteilchen" der zweite große Sündenfall nach der Pille.
Was aber ist mit Michel, dem zwei Jahre später als Bruno zur Welt gekommenen Halbbruder, der Umkehrfigur, in der sich Michel Houellebecq auch selbst zu porträtieren scheint: mit dem reinen Geist, mit der theoretischen Neugierde, mit dem Träumer und Denker? Michel, der Molekularbiologe, ist der Wille zum Wissen. Er kennt keine sinnliche Liebe, er braucht sie nicht, er hat keinen Anteil an der Zirkulation der Geschlechter, und das trennt ihn sogar von der schönen Frau, die ihn für eine kurze Zeit begleitet, bis sie einem Verführer in die Arme sinkt.
Michel ist eine altmodische Figur, eine keusche und asketische Gestalt, die schwer an ihrer Berufung trägt: Es geht zu Ende mit der Welt, es muss etwas anderes her, ein neuer Mensch, ein heiliger Antonius, der von aller Versuchung erlöst ist. Michel zieht sich in ein Forschungslabor zurück und entwickelt eine Theorie, nach der ein genetischer Code sich mit mathematischen Mitteln so schreiben lässt, dass er einfach ist, stabil und unendlich reproduzierbar. Wahrer Humanismus, so endet das Buch, ist nur mit künstlichen Menschen zu erreichen. Die Theorie erweist sich als richtig und praktikabel, die Unesco bezahlt die Entwicklung, und die Entstehung des geklonten Menschens wird im Fernsehen übertragen wie die erste Mondlandung.
Als Michel Houellebecq mit der Schriftstellerei begann, gehörte er zu einer Gruppe von Autoren, die sich um die Zeitschrift "Perpendiculaire" und eine Idee zusammengeschlossen hatte: Die neue Literatur habe dem Einfühlungsvermögen abzuschwören und wieder dokumentarisch zu sein. Als aber die "Elementarteilchen" erschienen, musste Michel Houellebecq die Gruppe verlassen, begleitet von dem Vorwurf, er habe sich nicht deutlich genug von faschistischem Gedankengut distanziert. Houellebecq murmelte etwas von der Freiheit der Erfindung und verschwand. Es half ihm auch nicht, dass der Einfall mit den geklonten Menschen so platt und plump ist, dass er sich ohne Wechsel der Tonlage an die Beschreibung einer Pizza aus dem Tiefkühlfach anschließt.
Dabei wäre es so einfach gewesen, auf den Mechanismus des Romans zu verweisen: Bruno ist Sexualität ohne Fortpflanzung, Michel ist Fortpflanzung ohne Sexualität. Houellebecq läßt den Homunculus die Hoffnung auf eine bessere Zukunft beerben, wie diese Hoffnung den Glauben an ein besseres Leben im Jenseits beerbt hatte - als solle ein Schleichweg gefunden werden, der endlich aus der Geschichte hinausführt. So wie der alte Humanismus eine Phantasie der Bibliothek war, ist der neue ein Gespenst aus dem Genlabor. Doch ein solches Geständnis hätte Michel Houellebecq um einen großen Teil seiner Wirkung gebracht.
Vor fast zwanzig Jahren hatte Botho Strauß, in seinen Skizzen mit dem Titel "Paare Passanten", einen Gassenhauer der Ideologiekritik geprägt: "Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muß sein: ohne sie!" Er selbst hat sich nicht an die Empfehlung zur Verrohung gehalten. Michel Houellebecq ist ein Nachfahr dieses Programms, auch wenn er seinen Paten kaum kennen wird. "Jemand hat in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die Entstehung eines monströsen und globalen Mangels verspürt", möchte Michel Houellebecq von sich selbst überliefert wissen, "außerstande, das Phänomen klar zu umreißen, hat er uns jedoch - als Zeugnis seiner Inkompetenz - einige Gedichte hinterlassen." Das Geniale und das Schreckliche an Michel Houellebecq besteht darin, daß ein großes Publikum solche Zeugnisse, solche Zumutungen versteht und aufnimmt. In dieser Wirkung kehrt eine vormoderne Aufgabe von Dichtung mit großer Kraft zurück: die Literatur als moralische Anstalt. Das Eintauchen in den Schlamm, in das Verworfene, in die absolute Niedertracht soll reinigend wirken - so wie einst Voltaires "Candide" und Johann Carl Wezels "Belphegor". Die Mittel allerdings sind nicht mehr dieselben, sie sind gemeiner geworden, weil auch das Milieu gemeiner geworden ist.
In den Roman "Elementarteilchen" sind Gedichte gemischt wie Ausrufezeichen. In Frankreich hat Michel Houellebecq vor kurzem seinen dritten Band mit Versen veröffentlicht. Eines der Gedichte im Roman geht so: "Wir gehen den einsamen Weg hinab / bis zu der Stelle, an der alles schwarz ist. / Ohne Kinder und ohne Frauen / tauchen wir mitten in der Nacht in den See / (und das Wasser auf unseren alten Körpern ist so kalt)." Solche Gedichte sind trivial wie Supermärkte. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere ist das Wehklagen, das sich erhebt, wenn Wahrnehmung und Absicht unter keinen Umständen zueinander passen wollen. Dieses Geschrei kann man nur zwischen den Zeilen hören.
Die Technik des verschwiegenen Schmerzes ist heute weniger in der Lyrik als in der populären Musik zu Hause. An ihr, und an ihrer übergroßen Wirkung, will sich Michel Houellebecq ein Beispiel nehmen: Die Verse sollen sich in die Seele senken wie ein Riff, wie musikalisches Gusseisen, das sich auch nicht weiter in seine Bestandteile reduzieren lässt. In diesem Sommer las Michel Houellebecq seine Gedichte bei öffentlichen Veranstaltungen auf den französischen Ferienstränden vor. Begleitet wurde er von einer fünfköpfigen Kapelle, die den Text mit einer Musik im Stil der frühen siebziger Jahre unterlegte. Die Lesungen waren ein Erfolg: Unter einem gelben Sonnenschirm stand der Dichter, vor ihm das Volk in Sonnencreme und Badehose - ein Missionar unter Heiden.
Michel Houellebecq: "Elementarteilchen". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Uli Wittmann. DuMont Buchverlag, Köln 1999. 360 S., geb., 44,- DM.
Michel Houellebecq: "Die Welt als Supermarkt". Interventionen. Aus dem Französischen übersetzt von Hella Faust. DuMont Buchverlag, Köln 1999. 98 S., br., 34,- DM.
Michel Houellebecq: "Renaissance". Poèmes. Flammarion, Paris 1999, 122 S., br., 80 FF.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nur die schwachen Tiere meiden den Kampf, und Poesie ist ein Schlag in die Magengrube: Michel Houellebecq, Jahrgang 1958, und sein großer Roman "Elementarteilchen"
In diesem Herbst gibt es ein Buch, das auf beunruhigende, ja erschreckende Weise anders ist: der Roman "Elementarteilchen" des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq. Mehr denn je erscheinen historische Romane, fett, menschlich, schicksalsschwer. Daneben stehen die Exerzitien der Selbstreflexion, der Erinnerung. Und nun dieses Buch: ein Ideenroman, der wie ein Kriegstagebuch aus der Inneren Mongolei ist, eine Abrechnung mit dem modernen Menschen, dessen letzte Epoche 1968 begann.
Die Aufregung, die dem Erscheinen dieses Buches folgt, verrät eines: dass in diesem Buch von einem Verdacht die Rede ist, den die Gesellschaft sich selbst gegenüber hegt. Die "Elementarteilchen" sind ein Manifest, eine Reportage von den Frontlinien der modernen Zeit. "Immer höher wird der Preis, den der einzelne für die Umständlichkeit seines Daseins zu zahlen hat", erklärte einst der Soziologe Helmuth Plessner, "und die Rechnung geht menschlich nicht mehr auf." Vierzig Jahre später hat Michel Houellebecq, 1958 in Paris geboren, dafür einen literarischen Ausdruck gefunden. Er zieht den Strich.
Da soll es eine Mutter gegeben haben, schön, gebildet, in besten Verhältnissen lebend. Sie folgt erst einem und dann vielen anderen Männern und bringt irgendwann zwei Söhne, Bruno und Michel, zur Welt. Aber sie will frei sein, sie will, dass sich ihr eigenes Leben erfüllt, und so wachsen die Knaben bei den Großeltern auf. Ihre Seelen - oder was man dafür halten soll - nehmen dabei großen Schaden. Die beiden wachsen zu den einsamsten Figuren des Universums heran, zwei parallele, aber völlig verschiedene Figuren, eine jede eingeschlossen in ihre schlechte Haut wie in ein Gefängnis. Die "Elementarteilchen" kommen daher wie ein Bildungsroman. Aber wer wollte bei diesem Buch von "Bildung" reden, und wer von "Leben"? Die Gestalten dieses Buches sind geordnet, als ginge es um eine soziologische Fallstudie. Die beiden Karrieren gehorchen einer Mechanik, die sozialpädagogische Lehrbücher wie Werke von epischer Lebensfülle erscheinen lässt. Und doch wird dieses Buch als Kataster der modernen Seele behandelt. Zu Recht.
Das Phänomen Houellebecq ist nicht erst gestern entstanden. Es musste sich aufbauen. Der Schriftsteller hat schon einmal, vor fünf Jahren, einen Roman veröffentlicht, ein kleineres, aber ähnliches Werk. Darin erzählt er die traurige und banale Geschichte eines Informatikers, der durch die französische Provinz reist, um der Landwirtschaft zur elektronischen Datenverarbeitung zu verhelfen. Auch dieser Roman handelt von der Sexualität - oder genauer: davon, wie es ist, wenn von der Suche nach einem Menschen nur die Berührung von Leibern übrig bleibt. Diese wird, streng den Gesetzen des Marktes folgend, so geregelt, dass die Jungen und Schönen alles bekommen, und das gratis, während die Alten und Hässlichen nichts erhalten, selbst wenn sie zu zahlen bereit sind. Der Roman heißt "Ausweitung der Kampfzone", und so ist er gemeint: als Bildungsgeschichte von den Schlachtfeldern des Glückverlangens. Das Buch verbreitete sich wie ein Gerücht: Jahrelang waren die Manuskripte Houellebecqs von den Verlagen abgelehnt worden, und als das Buch endlich bei Maurice Nadeau erschien, dauerte es noch einmal Jahre, bis es zu einem Erfolg wurde. Der Roman setzte sich gleichsam subkutan, unter der Haut des literarischen Betriebs durch.
Die Luft ist dünn geworden für Romanhelden, meint Michel Houellebecq, nicht weniger dünn als für die Helden des romantischen Lebens. Diese Leere füllt, wer dennoch einen Roman schreiben will, mit einer Überdosis Theorie. Die "Elementarteilchen", der zweite Roman dieses Autors, folgt auf den ersten wie der große Krieg auf ein Scharmützel. Dieses Buch soll der Gesellschaftsroman des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts sein. Michel Houellebecq beruft sich auf Honoré de Balzac - des maßlosen Anspruchs wegen, aber auch um der metaphysischen Sehnsucht und des Melodrams willen. Und schließlich lieferte auch Balzac seine Weltformeln für den Alltagsverstand. Man kann sie auch für Theorien halten: "Man darf nicht zögern, Theoretiker zu sein", sagt Michel Houellebecq, "man muss auf allen Fronten angreifen."
Und so klingen manche Sätze aus dem Roman, als stammten sie aus einer Erzählung Guy de Maupassants: "Ohne Schönheit ist ein junges Mädchen unglücklich, denn es hat keine Chance geliebt zu werden. Niemand macht sich zwar über ein solches Mädchen lustig oder schikaniert es; aber es ist gleichsam durchsichtig, kein Blick folgt ihm." Andere Sätze kommen daher, als seien sie aus wissenschaftlichen Handbüchern abgeschrieben: "Die sexuelle Befreiung hatte die Zerstörung der letzten Gemeinschaftsformen zur Folge, der letzten Zwischenstufen, die das Individuum vom Markt trennten." Die "Elementarteilchen" gehören zu einem Genre, mit dem wir alle nicht gerechnet hätten: Sie sind ein Thesenroman, eine ins Barbarische gewendete Fortsetzung des romantischen Reflexionsromans. In diesem Buch arbeitet eine Zentrifuge für gebrauchte Ideen. Was sie von sich schleudert, enthält nicht mehr Leben als eine alte Plastiktüte.
Das weiß der Autor. Das weiß auch das Publikum. In jedem Satz dieses Buches ist es zu lesen, und bis in das Gesicht, bis in die Kleidung dieses Schriftstellers hinein steht geschrieben: Leser, von mir habt ihr nichts Angenehmes zu erwarten, in diesem Buch werdet ihr niemanden finden, dem ihr eure Sympathie schenken könntet. Ihr werdet dieses Buch nicht mit einem Gefühl der Befriedigung, der milden Sehnsucht aus der Hand legen. "Seien Sie gemein, dann sind Sie wahr", prangt als Leitspruch auf der Rückseite des Romans. Und doch wurden die "Elementarteilchen" nicht nur zu einem literarischen Erfolg, sondern auch zum Gegenstand einer Debatte, wie es sie in Frankreich seit den späten sechziger Jahren, seit dem Streit um Philippe Sollers, Roland Barthes und den Abschied der Intellektuellen von der Linken, nicht mehr gegeben hat.
Nach dreißig Jahren gibt es wieder ein Buch, das dem Leser wie ein Block im Wege steht, und siehe da: Der Leser muss sich entscheiden. Er muss den Block zertrümmern oder die Straßenseite wechseln. Dieses Gefühl scheint die Literatur lange schuldig geblieben zu sein. Seit dem vergangenen Herbst beherrscht nun der kleine Mann mit dem offenen Hemd und der zerdrückten Zigarette das öffentliche Gespräch in Frankreich. Das Buch ist in fast vierhunderttausend Exemplaren verkauft worden, in den französischen Zeitungen sind erste Bestandsaufnahmen erschienen: ein Jahr mit Michel Houellebecq. Mit der Veröffentlichung der "Elementarteilchen" in Deutschland, die hier mit der Debatte um den "Menschenpark" zusammenfällt, wird dieser Autor auch bei uns dem Leser im Wege liegen wie ein Stein.
Was aber ist das Anstößige an diesem Buch? Es erzählt eine Bildungsgeschichte, die mit den Erwartungen des Lesers Schindluder treibt: Bruno Clément, der ältere Halbbruder, dessen Geburt Michel Houellebecq in das Jahr 1956 legt, wächst in der Provinz auf. Er besucht ein Internat, er wäre gern ein erfolgreicher Schüler, von allen geliebt und geachtet. Aber er sieht nicht gut aus, er fühlt sich "kalkweiß, winzig, abstoßend und dick". Seine Jugend wird zu einer langen Qual. "Das schwächste Tier", erläutert der Autor, "besitzt im Allgemeinen die Möglichkeit, den Kampf zu vermeiden, indem es eine Demutsstellung einnimmt. Bruno befand sich in einer ungünstigeren Lage." Brunos Geschichte zitiert die alten Leiden der Heranwachsenden, wie sie mit dem jungen Törleß zum literarischen Gemeingut geworden sind. Nur sind seit den Tagen Robert Musils die Demütigungen gemeiner, die Brutalitäten widerlicher geworden. Dafür gibt es einen Grund: Der freiheitliche Geist der sechziger und siebziger Jahre hat den "Schutzwall" einer mit handfesten Mitteln durchgesetzten Moral geschleift und dadurch die Brutalität erst beflügelt. Was den Zeitgenossen noch immer als Humanisierung erscheint, ist in Wirklichkeit eine Verrohung, eine immer größer werdende Barbarei.
Bruno wird zu einem Gymnasiallehrer, zu einer verkrachten Gestalt, die mit ihren erotischen Bedürfnissen nicht zurechtkommt, weil sie glaubt, in fremden Körpern nach dem Glück forschen zu müssen. "Das Hauptziel seines Lebens war sexueller Art gewesen", heißt es in einer ungelenk schamhaften Formulierung, "sich ein anderes Ziel zu setzen war nicht mehr möglich, das wusste er jetzt. Darin war Bruno charakteristisch für seine Epoche." Dies ist der zweite terroristische Hauptsatz der "Elementarteilchen": Die sexuelle Befreiung, ursprünglich als Triumph über die Entfremdung in der autoritären Gesellschaft gefeiert, entpuppt sich in den Augen von Michel Houellebecq als letzte und entscheidende Strategie des freien Marktes zur Zerstörung "des Paares und der Familie, das heißt, der letzten beiden Gemeinschaften". Erst danach kann der Markt in den letzten Winkel eines jeden Menschen vordringen - um jeden einzelnen auszusaugen und als leere Hülse zurückzulassen.
Bruno lebt allein, so wie sein Halbbruder Michel Djerzinski. Wenn er sein Appartement verlässt, trifft er auf andere Monaden. Sie locken oder weisen zurück, sie ziehen sich an oder stoßen sich ab, kaum dass sie selbst eine Vorstellung davon hätten, was ihnen widerfährt. Wenn sie sprechen, dann reden sie nicht miteinander, sonden halten Monologe. Ihre Texte klingen, als seien sie aus den Traktaten der siebziger Jahre abgeschrieben worden, aus der Soziologie, der Psychologie und aus der Philosophie der Naturwissenschaften. Nichts von alledem ist echt, nichts ist szenisch, keine Figur verlangt nach Anteilnahme, kein Detail fügt sich zu einer großen Erzählung. Als in den Wochen nach Erscheinen der Fortsetzung auf der folgenden Seite
französischen Originalausgabe die "Affäre Houellebecq" heranwuchs, wurde der Streit in der Presse um politische Kategorien geführt. Der Autor wurde zum Reaktionär, zum Faschisten, zum Frauenverachter und zum Buddhisten erklärt. Aber die Leser stießen sich nicht an Politik - und auch nur am Rande an ein paar langen, ekelhaften Passagen, die eher klinisch als pornographisch sind. An Obszönität haben Film und bildende Kunst die Literatur längst überflügelt. Anstößig ist der Roman vor allem wegen der Rücksichtslosigkeit, mit der hier die antimodernen Einwände gegen das moderne Leben mit größter Lautstärke, mit der Wucht eines Schlags in die Magengrube wiederholt werden.
Das Buch erregte das Publikum als Pamphlet, als Thesenanschlag, als Rebellion gegen die Meisterdenker, in deren Schule auch Michel Houellebecq gegangen ist. Denn die "Elementarteilchen" sind die Untoten der siebziger Jahre. Die Hippies des Romans, ihre Zeltplätze und Lebensgewohnheiten, aber auch ihre mystischen Lehren sind Wiedergänger einer älteren Zeit. Das gilt auch für die Theorien: Das Buch führt die unaufgelösten, aber längst zum Konsens geronnenen Debatten der siebziger Jahre fort und will sie beenden. Aber weil die alte Zeit mitsamt ihren Diskussionen, Seminaren und Magazinen untergegangen ist, gibt es grundsätzliche Kritik nur noch in einer schäbigen, grotesken, zuweilen hemmungslos übertreibenden Form. In ihrer Mitte steht der Autor selbst. Er macht keinen Hehl daraus, dass er den größten Teil seiner Geschichten selbst erlebt hat: die Mutter, die ihren Sohn um ihrer sexuellen Freiheit willen verlässt, die Jugend bei den Großeltern, das Leben als Angestellter, die Tage vor dem Computer, die Arbeitslosigkeit, die Depressionen und der Gang ins Irrenhaus. Einzelner als dieser Schriftsteller scheint der Einzelne nie gewesen zu sein.
Michel Houellebecq hat seinen Roman als Sittengeschichte der vergangenen drei Jahrzehnte angelegt: "Die in den sechziger Jahren zu Wohlstand gekommene Generation um die dreißig konnte sich völlig mit ,Emmanuelle' identifizieren: Der 1974 herausgekommene Film von Just Jaeckin, der einen neuartigen Zeitvertreib, exotische Schauplätze und Phantasmen vor Augen führte, war innerhalb einer Kultur, die tief in der jüdisch-christlichen Tradition verwurzelt blieb, für sich allein ein Manifest für den Übergang in die Freizeitgesellschaft." Die Sittengeschichte liefert den Stoff, durch den der Schriftsteller seine Figuren bewegt, und was ihn dabei vorantreibt, ist der Hass - ein Hass, der keine Form findet, weil er keinen vernünftigen, allgemeinen Ausdruck mehr kennt, uns sich nur noch in Gestalt eines Nervenbündels behaupten kann. In seinem gereizten Widerwillen mischt sich das sorgfältig Beobachtete mit dem falsch Kolportierten, die treffende Formulierung mit dem Gerücht. So entsteht das Pamphlet, das dieses Buch bis in seinen letzten Satz hinein ist. Und so entsteht auch die Dreiheit der Genres, mit denen Michel Houellebecq zur Attacke ausholt: mit Essays, die den Schlag direkt führen sollen, mit Romanen, die den Umweg über das fiktive Experiment nehmen, und mit Gedichten, die so banal sind, als sei in Alexandriner gefaßte Unbedarftheit das beste Mittel, um es der Welt heimzuzahlen. An zwei Stellen der "Elementarteilchen" macht der Hass eine Pause. In beiden Fällen begegnen die Helden, beinahe schon alt, dem Unerwarteten: je einer Frau, mit der sie hätten leben können. Plötzlich ändert sich der Ton. Für ein paar Seiten erinnert der Roman an eine elegische Novelle. Zwei Inseln liegen im Roman, und auf ihnen wird die Rückseite des Pamphlets gezeigt: die Idylle, der Ort jenseits des Marktes. Die große Wut des Charles Péguy, des Mystikers der Affäre Dreyfus, kehrt in diesem Roman in ihrer Doppelgestalt, als Hass und Sehnsucht, wieder. Sie hat nichts von ihrem Tempo verloren, nichts von ihrem motorischen, hämmernden Rhythmus. Nur der Glaube ist dieser großen Wut abhanden gekommen. "Ich habe noch einmal den Versuch gemacht, katholisch zu werden", erzählt Bruno seinem Bruder, "ich lag auf meiner Dunlopillo-Matratze und las ,Das Mysterium der unschuldigen Kinder' und trank dabei Anislikör. Charles Péguy ist schon toll, wirklich wunderschön; aber das hat mich schließlich völlig deprimiert." Tatsächlich gibt es zwischen dem katholischen Widerstand gegen die moderne Welt und Michel Houellebecq eine Parallele: die Revolte wider die Universalisierung des Markts. Der Vertrag von Maastricht ist in den "Elementarteilchen" der zweite große Sündenfall nach der Pille.
Was aber ist mit Michel, dem zwei Jahre später als Bruno zur Welt gekommenen Halbbruder, der Umkehrfigur, in der sich Michel Houellebecq auch selbst zu porträtieren scheint: mit dem reinen Geist, mit der theoretischen Neugierde, mit dem Träumer und Denker? Michel, der Molekularbiologe, ist der Wille zum Wissen. Er kennt keine sinnliche Liebe, er braucht sie nicht, er hat keinen Anteil an der Zirkulation der Geschlechter, und das trennt ihn sogar von der schönen Frau, die ihn für eine kurze Zeit begleitet, bis sie einem Verführer in die Arme sinkt.
Michel ist eine altmodische Figur, eine keusche und asketische Gestalt, die schwer an ihrer Berufung trägt: Es geht zu Ende mit der Welt, es muss etwas anderes her, ein neuer Mensch, ein heiliger Antonius, der von aller Versuchung erlöst ist. Michel zieht sich in ein Forschungslabor zurück und entwickelt eine Theorie, nach der ein genetischer Code sich mit mathematischen Mitteln so schreiben lässt, dass er einfach ist, stabil und unendlich reproduzierbar. Wahrer Humanismus, so endet das Buch, ist nur mit künstlichen Menschen zu erreichen. Die Theorie erweist sich als richtig und praktikabel, die Unesco bezahlt die Entwicklung, und die Entstehung des geklonten Menschens wird im Fernsehen übertragen wie die erste Mondlandung.
Als Michel Houellebecq mit der Schriftstellerei begann, gehörte er zu einer Gruppe von Autoren, die sich um die Zeitschrift "Perpendiculaire" und eine Idee zusammengeschlossen hatte: Die neue Literatur habe dem Einfühlungsvermögen abzuschwören und wieder dokumentarisch zu sein. Als aber die "Elementarteilchen" erschienen, musste Michel Houellebecq die Gruppe verlassen, begleitet von dem Vorwurf, er habe sich nicht deutlich genug von faschistischem Gedankengut distanziert. Houellebecq murmelte etwas von der Freiheit der Erfindung und verschwand. Es half ihm auch nicht, dass der Einfall mit den geklonten Menschen so platt und plump ist, dass er sich ohne Wechsel der Tonlage an die Beschreibung einer Pizza aus dem Tiefkühlfach anschließt.
Dabei wäre es so einfach gewesen, auf den Mechanismus des Romans zu verweisen: Bruno ist Sexualität ohne Fortpflanzung, Michel ist Fortpflanzung ohne Sexualität. Houellebecq läßt den Homunculus die Hoffnung auf eine bessere Zukunft beerben, wie diese Hoffnung den Glauben an ein besseres Leben im Jenseits beerbt hatte - als solle ein Schleichweg gefunden werden, der endlich aus der Geschichte hinausführt. So wie der alte Humanismus eine Phantasie der Bibliothek war, ist der neue ein Gespenst aus dem Genlabor. Doch ein solches Geständnis hätte Michel Houellebecq um einen großen Teil seiner Wirkung gebracht.
Vor fast zwanzig Jahren hatte Botho Strauß, in seinen Skizzen mit dem Titel "Paare Passanten", einen Gassenhauer der Ideologiekritik geprägt: "Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muß sein: ohne sie!" Er selbst hat sich nicht an die Empfehlung zur Verrohung gehalten. Michel Houellebecq ist ein Nachfahr dieses Programms, auch wenn er seinen Paten kaum kennen wird. "Jemand hat in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die Entstehung eines monströsen und globalen Mangels verspürt", möchte Michel Houellebecq von sich selbst überliefert wissen, "außerstande, das Phänomen klar zu umreißen, hat er uns jedoch - als Zeugnis seiner Inkompetenz - einige Gedichte hinterlassen." Das Geniale und das Schreckliche an Michel Houellebecq besteht darin, daß ein großes Publikum solche Zeugnisse, solche Zumutungen versteht und aufnimmt. In dieser Wirkung kehrt eine vormoderne Aufgabe von Dichtung mit großer Kraft zurück: die Literatur als moralische Anstalt. Das Eintauchen in den Schlamm, in das Verworfene, in die absolute Niedertracht soll reinigend wirken - so wie einst Voltaires "Candide" und Johann Carl Wezels "Belphegor". Die Mittel allerdings sind nicht mehr dieselben, sie sind gemeiner geworden, weil auch das Milieu gemeiner geworden ist.
In den Roman "Elementarteilchen" sind Gedichte gemischt wie Ausrufezeichen. In Frankreich hat Michel Houellebecq vor kurzem seinen dritten Band mit Versen veröffentlicht. Eines der Gedichte im Roman geht so: "Wir gehen den einsamen Weg hinab / bis zu der Stelle, an der alles schwarz ist. / Ohne Kinder und ohne Frauen / tauchen wir mitten in der Nacht in den See / (und das Wasser auf unseren alten Körpern ist so kalt)." Solche Gedichte sind trivial wie Supermärkte. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere ist das Wehklagen, das sich erhebt, wenn Wahrnehmung und Absicht unter keinen Umständen zueinander passen wollen. Dieses Geschrei kann man nur zwischen den Zeilen hören.
Die Technik des verschwiegenen Schmerzes ist heute weniger in der Lyrik als in der populären Musik zu Hause. An ihr, und an ihrer übergroßen Wirkung, will sich Michel Houellebecq ein Beispiel nehmen: Die Verse sollen sich in die Seele senken wie ein Riff, wie musikalisches Gusseisen, das sich auch nicht weiter in seine Bestandteile reduzieren lässt. In diesem Sommer las Michel Houellebecq seine Gedichte bei öffentlichen Veranstaltungen auf den französischen Ferienstränden vor. Begleitet wurde er von einer fünfköpfigen Kapelle, die den Text mit einer Musik im Stil der frühen siebziger Jahre unterlegte. Die Lesungen waren ein Erfolg: Unter einem gelben Sonnenschirm stand der Dichter, vor ihm das Volk in Sonnencreme und Badehose - ein Missionar unter Heiden.
Michel Houellebecq: "Elementarteilchen". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Uli Wittmann. DuMont Buchverlag, Köln 1999. 360 S., geb., 44,- DM.
Michel Houellebecq: "Die Welt als Supermarkt". Interventionen. Aus dem Französischen übersetzt von Hella Faust. DuMont Buchverlag, Köln 1999. 98 S., br., 34,- DM.
Michel Houellebecq: "Renaissance". Poèmes. Flammarion, Paris 1999, 122 S., br., 80 FF.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
In einer Sammelrezension bespricht Volker Weidermann drei Bücher, die sich mit Weltuntergangsszenarien befassen - oder dem Gegenteil davon.
1) Michel Houellebecq "Elementarteilchen" (DuMont)
Hier hat der Autor ein "streckenweise brilliantes Buch" vorgelegt, findet Weidermann, der Houellebecq außerdem bescheinigt, Leere und Sehnsucht im Leben der beiden Protagonisten mit "außergewöhnlicher Kraft und Eindringlichkeit" geschildert zu haben. Dieses Lob klingt letztlich aber nach nicht viel mehr als einer Höflichkeitsformel, denn nur einen Absatz später scheut sich Weidermann nicht, Houellebecq in ideologischer Hinsicht bei den Nationalsozialisten einzureihen. Wie diese wolle Houellebecq "Weltbrandstifter" sein. Da fragt sich der Leser denn doch, ob es nicht Weidermann ist, der ein wenig laut auf die Pauke haut. Denn letztlich ist das, was er Houellebecq in erster Linie vorwirft, so dramatisch nicht: Nämlich dass der Autor das Leiden seiner Protagonisten "zum Leiden der ganzen westlichen Welt" verallgemeinert.
2) Douglas Coupland "Girlfriend in a coma" (Hoffmann & Campe)
Ganz begeistert ist Volker Weidermann hingegen von Couplands Buch: Es sei - obwohl moralisch - "selten peinlich [sic!] und politisch nie beunruhigend". Bei der Schilderung der Sinnleere in seiner Generation zeige Coupland, dass er sie - anders als Houellebecq - gut kenne. Der Autor mache auch nicht den Fehler, "von zwei durchgeknallten Außenseitertypen" auf die übrige Menschheit zu schließen. Bei Coupland gibt es einen Engel, der als eine Art "deus ex machina" den Lethargikern Beine und ihnen klar macht, dass sie die Welt selbst gestalten können. Weidermann sieht in Couplands Erzählung "eine Art revolutionsromantischen Weckruf für seine Generation", der daran erinnere, dasss man - mit ein wenig Feuer unter dem Hintern - auch als Vierzigjähriger noch die Welt verändern kann.
3) Ludger Lütkehaus "Nichts" (Haffmanns Verlag)
Kein Urteil fällt Volker Weidermann über Lütkehaus` "Nichts". Vielmehr denkt er laut darüber nach, was dieser wohl über die Untergangsszenarien von Coupland, Houellebecq und Co. sagen würde. Lütkehaus sei nämlich kein Anhänger solcher Ideen. Sinnsuche kann auch entspannend sein, interpretiert Weidermann, der in "Nichts" immerhin ein "fulminantes Philosophiegeschichtswerk" sieht. Mit Lütkehaus` Ideen, dass Nihilismus die Antwort auf die Angst vor dem Untergang sein könne (da der Nihilist sich nun einmal an gar nichts bindet, nicht einmal an das Leben), scheint der Rezensent ohne weiteren Kommentar einverstanden zu sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
1) Michel Houellebecq "Elementarteilchen" (DuMont)
Hier hat der Autor ein "streckenweise brilliantes Buch" vorgelegt, findet Weidermann, der Houellebecq außerdem bescheinigt, Leere und Sehnsucht im Leben der beiden Protagonisten mit "außergewöhnlicher Kraft und Eindringlichkeit" geschildert zu haben. Dieses Lob klingt letztlich aber nach nicht viel mehr als einer Höflichkeitsformel, denn nur einen Absatz später scheut sich Weidermann nicht, Houellebecq in ideologischer Hinsicht bei den Nationalsozialisten einzureihen. Wie diese wolle Houellebecq "Weltbrandstifter" sein. Da fragt sich der Leser denn doch, ob es nicht Weidermann ist, der ein wenig laut auf die Pauke haut. Denn letztlich ist das, was er Houellebecq in erster Linie vorwirft, so dramatisch nicht: Nämlich dass der Autor das Leiden seiner Protagonisten "zum Leiden der ganzen westlichen Welt" verallgemeinert.
2) Douglas Coupland "Girlfriend in a coma" (Hoffmann & Campe)
Ganz begeistert ist Volker Weidermann hingegen von Couplands Buch: Es sei - obwohl moralisch - "selten peinlich [sic!] und politisch nie beunruhigend". Bei der Schilderung der Sinnleere in seiner Generation zeige Coupland, dass er sie - anders als Houellebecq - gut kenne. Der Autor mache auch nicht den Fehler, "von zwei durchgeknallten Außenseitertypen" auf die übrige Menschheit zu schließen. Bei Coupland gibt es einen Engel, der als eine Art "deus ex machina" den Lethargikern Beine und ihnen klar macht, dass sie die Welt selbst gestalten können. Weidermann sieht in Couplands Erzählung "eine Art revolutionsromantischen Weckruf für seine Generation", der daran erinnere, dasss man - mit ein wenig Feuer unter dem Hintern - auch als Vierzigjähriger noch die Welt verändern kann.
3) Ludger Lütkehaus "Nichts" (Haffmanns Verlag)
Kein Urteil fällt Volker Weidermann über Lütkehaus` "Nichts". Vielmehr denkt er laut darüber nach, was dieser wohl über die Untergangsszenarien von Coupland, Houellebecq und Co. sagen würde. Lütkehaus sei nämlich kein Anhänger solcher Ideen. Sinnsuche kann auch entspannend sein, interpretiert Weidermann, der in "Nichts" immerhin ein "fulminantes Philosophiegeschichtswerk" sieht. Mit Lütkehaus` Ideen, dass Nihilismus die Antwort auf die Angst vor dem Untergang sein könne (da der Nihilist sich nun einmal an gar nichts bindet, nicht einmal an das Leben), scheint der Rezensent ohne weiteren Kommentar einverstanden zu sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
»In Paris ist man pro oder contra Houellebecq.« NEW YORKER »Ein atemraubend spannender Text.« FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG "Michel Houellebecq spendet Trost in völlig auswegloser Lage.(...) Der Trost, den dieses Buch zu spenden vermag ist immer noch außerordentlich wirksam. Gleichzeitig ist er übertrieben und grob, ja fast derb." DIE ZEIT