Die Genialität des Andersseins - Platz 2 der »Best Sellers« (The New York Times Book Review) Faszinierende Beschreibung des Phänomens der Synästhesie Ungewöhnliche Lebensgeschichte fesselnd erzähltDaniel isst genau 45 Gramm Porridge zum Frühstück und kann das Haus nur verlassen, wenn er zuvor seine Kleidungsstücke gezählt hat. Er nimmt Zahlen als Formen, Farben oder Strukturen wahr und verfügt über unglaubliche Rechenkünste. Auch Fremdsprachen lernt er innerhalb einer Woche fließend. Sein zwanghaftes Bedürfnis nach Ordnung und Routine, aber auch seine erstaunlichen mentalen Fähigkeiten werden verursacht durch das Savant-Syndrom, eine seltene Variante des Asperger-Syndroms(eine Form des Autismus). Dieser authentische Bericht eines genialen Autisten veranschaulichtauf bewegende Weise, was es bedeutet, »anders« zu sein, und bietet einen faszinierenden Einblick in die Kraft des menschlichen Geistes. Ich wurde am 31. Januar geboren einem Mittwoch. Ich weiß, es war ein Mittwoch, denn in meiner Vorstellung ist der Tag blau, und Mittwoch ist immer blau. Mir gefällt mein Geburtsdatum, weil ich die meisten Zahlen darin als glatte, runde Formen vor mir sehen kann so wie ein Kieselstein an einem Strand. Ich habe eine seltsame Krankheit, das sogenannte Savant-Syndrom, das wenig bekannt war, bis es 1988 von dem Schauspieler Dustin Hoffman in dem oscarprämierten Film Rainman dargestellt wurde.Wenn jemand meinen Eltern vor zehn Jahren erzählt hätte, dass ich einmal völlig selbstständig leben, eine Partnerschaft führen und einen Beruf ausüben würde, hätten sie es bestimmt nicht geglaubt, und ich bin nicht sicher, ob ich es selbst geglaubt hätte. Dieses Buch erzählt, wie ich dorthin gelangt bin.Daniel Tammet
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sensationell findet Melanie Mühl dieses Buch von Daniel Tammet, das einen äußerst faszinierenden Einblick in die Inselbegabung des Autisten vermittelt. Ausführlich berichtet sie über das Phänomen der autistischen Savants, die etwa mathematische oder sprachliche Genies sein können, aber oft rechts und links nicht unterscheiden können oder Gefühle nicht verstehen. Auch die Fähigkeiten Tammets, der etwa die mathematische Konstante Pi bis auf 22.514 Stellen nach dem Komma aus dem Gedächtnis aufsagen kann und zehn Sprachen beherrscht, haben sie in Erstaunen versetzt. Anders als die meisten Inselbegabten aber ist Tammet in der Lage, sich selbst zu beobachten, zu beschreiben, mitzuteilen. Das Ergebnis ist vorliegende Lebensgeschichte, die nach Ansicht Mühls in einem berührenden, aber nie pathetischen Tonfall geschrieben ist und neben den außergewöhnlichen Fähigkeiten Tammets auch seinen schwierigen Weg in ein fast normales Leben vor Augen führen. Sie hebt hervor, dass Tammets Sichtweise uns auch "unser eigenes Leben mit anderen Augen" sehen lasse, indem er den Blick für die "Wundermaschine Gehirn" öffne und das Wesen Mensch in ein "anderes Licht" rücke.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2007Vier ist schüchtern und still
Daniel Tammet gibt einzigartige Einblicke in seine Inselbegabung
Er hat sich noch nie geirrt. Daniel Tammet rechnet schneller und präziser als jeder Computer dieser Welt. Bittet man ihn, 13 durch 97 zu teilen, bekommt man ein Ergebnis, das mehr als hundert Stellen nach dem Komma umfasst. Er bildet mühelos die vierte Potenz der Zahl 37 und kann die mathematische Konstante Pi bis auf 22 514 Stellen nach dem Komma aus dem Gedächtnis aufsagen. Wenn Daniel Tammet eine Zahl durch eine andere teilt, sieht er vor seinem inneren Auge eine Spirale, die sich in immer größer werdenden Windungen und Schleifen nach unten schraubt. Von Primzahlen fühlt er sich magisch angezogen, weil sie sich glatt und rund anfühlen, wie Kieselsteine am Meer.
Innerhalb von nur einer einzigen Woche lernt Daniel Tammet eine völlig neue Sprache - zehn beherrscht er mittlerweile, darunter hochkomplizierte Sprachen wie Walisisch und Isländisch. Sein Gehirn ist ein gigantisches, perfekt sortiertes Lagerhaus, gefüllt mit Informationen, die jederzeit abrufbar sind. Zahlen nimmt Tammet als Farben wahr. Hinzu kommt, dass für ihn jede Ziffer auch noch eine ganz bestimmte Form und Struktur aufweist. Wissenschaftler nennen diese Begabung Synästhesie. Sie tritt bei nicht einmal einem Prozent der Bevölkerung auf. Das Besondere bei Daniel Tammet jedoch ist, dass seine Synästhesie zusammen mit einer leichten Form von Autismus, dem Asperger-Syndrom, auftritt. Das macht ihn zu einem Wunder.
Menschen wie ihn nennt man Savants, Inselbegabte. Nur etwa hundert dieser Genies gibt es weltweit. Der berühmteste von ihnen heißt Kim Peek, wegen seines brillanten Gedächtnisses nennt man ihn auch Kimputer. Er inspirierte den Regisseur Barry Morrow zu dem Film "Rain Man", der später mit vier Oscars ausgezeichnet wurde. Savants, das sind Menschen, die nicht wissen, wie man einen Schuh zubindet, aber zwanzig Sprachen fließend sprechen, die große Mühe haben, rechts und links zu unterscheiden, aber meisterhaft Klavier spielen, die einen Disney-Film nicht verstehen, aber den Inhalt von Tausenden von Sachbüchern speichern können. Sie sind meistens schwer behindert und unfähig, anderen Zutritt zu ihrem abgezirkelten Kosmos zu gewähren. Ihre Wahrnehmung der inneren und äußeren Welt bleibt in der Regel ein gut gehütetes Geheimnis.
Bei Daniel Tammet ist das anders. Er kann sich selbst beobachten, kann zur Seite treten, seine mentalen Fähigkeiten analysieren und beschreiben. Er weiß, wie sein Gehirn tickt. Darüber hat er ein Buch geschrieben, das nun ins Deutsche übersetzt wurde und den Titel "Elf ist freundlich und Fünf ist laut" trägt. Dieses Buch ist eine Sensation, weil es uns einen einzigartigen Einblick in die Welt der Savants gewährt. In einem anrührenden Ton, der nie ins Pathetische kippt, erzählt es die erstaunliche Lebensgeschichte Daniel Tammets.
Seine Inselbegabung trat urplötzlich auf, nach einer Reihe epileptischer Anfälle in seiner frühen Kindheit - damit fällt er in die Kategorie des, wie es heißt, erworbenen Savant-Syndroms. Für jeden Wissenschaftler ist der achtundzwanzig Jahre alte Brite eine Goldgrube, das perfekte Forschungsobjekt. Und Daniel Tammet lässt sich nur allzu gerne erforschen. Darold A. Treffert, der ehemalige Chef der psychiatrischen Abteilung am St. Agnes Hospital in dem amerikanischen Städtchen Fond du Lac, schreibt im Vorwort des Buches: Nun sei es möglich, die Beschreibungen eines Inselbegabten mit neuropsychologischen Untersuchungen in Beziehung zu setzen. Alles drehe sich schließlich nur um die eine Frage: "Wie machen die das bloß?" Wie funktioniert das Gehirn eines Savants? Wer weiß, fragt sich der Psychiater, vielleicht schlummert ja in uns allen dieses übermenschliche Potential, vielleicht existiert in jedem von uns ein "Rain Man", ein Wunderkind. Vielleicht bedarf es ja einfach nur des richtigen Auslösers, um unsere natürlichen Grenzen zu überschreiten. Es ist verlockend, diesen Gedanken zu Ende zu denken, sich in allen Details auszumalen, wie es wäre, in seiner Haut aus seiner Haut zu können. Wie es wäre, das Natürliche zu überlisten. Daniel Tammets Begabung gehe über alles Menschliche hinaus, sagt seine Lehrerin Sirrý aus Reykjavík, die ihm Isländisch beibrachte. Damit hat sie recht und unrecht zugleich.
Zahlen führen Regie in Tammets Leben. Sein unendliches Zahlenvokabular besteht aus schönen und hässlichen Ziffern; Einsen passen perfekt zu dunklen Zahlen wie Achten und Neunen, die Zahl 117 ist groß und schlacksig, so wie David Letterman, in dessen Late Night Show er schon saß, die Vier ist schüchtern und still. Bei der 87 denkt er an fallenden Schnee, die 5 erinnert ihn an einen Donnerschlag. Löst er eine komplizierte Rechenaufgabe, spaziert er durch eine bunte Zahlenlandschaft, einen Fluss aus Farben und Formen.
Daniel Tammet bewegt sich in einem Koordinatensystem aus Ziffern. Ohne sie wäre er verloren. Sein Abstraktionsdrang ist die Folge einer großen inneren Beunruhigung durch die Erscheinungen der Außenwelt. Das Zählen tröstet ihn. Erst die algebraische Färbung aller Vorstellungen lässt ihn zur Ruhe kommen. Abstraktion ist sein Fluchtweg. Selbst einen ganz normalen Restaurantbesuch erlebt er als ein Risiko. Tammet erträgt keine übervollen Räume, keine Hitze, keinen Lärm. Er meidet Supermärkte und kauft lieber in überschaubaren Bioläden ein. Manchmal, schreibt er, sei es für ihn schwierig, Emotionen zu verstehen, Metaphern zu begreifen, sich das Uneigentliche zu erschließen. Deshalb helfe er sich mit Zahlen. "Wenn ein Freund sagt, er sei traurig oder niedergeschlagen, stelle ich mir vor, dass ich in der dunklen Leere der Zahl Sechs sitze, um seine Gefühle nachzuempfinden und zu begreifen. Auf diese Weise tragen Zahlen tatsächlich dazu bei, dass ich andere Menschen besser verstehe."
Heute lebt Daniel Tammet mit seinem Freund Neil, einem Computerspezialisten, in dem Küstenstädtchen Herne Bay. Sie haben ein kleines Haus mit einem Garten, in dem sie Obst und Gemüse anbauen. Die beiden lernten sich im Internet kennen, chatteten, schrieben sich vertraute Mails, bis sie sich irgendwann trafen und nicht mehr voneinander ließen. Tammet beschreibt die Anfangsmomente dieser Liebe mit ungeheurer Zärtlichkeit. In Neil hat er einen Seelenverwandten gefunden. Gemeinsam gründen sie den erfolgreichen Online-Sprachkurs "Optimnem", ein Internetunternehmen, das Tammet ermöglicht, von zu Hause aus zu arbeiten und Geld zu verdienen. Situationen, die sich seiner Kontrolle entziehen, versetzen ihn noch immer in Panik.
Jeden Morgen frühstückt er exakt 45 Gramm Porridge. Bevor er das Haus verlässt, zählt er die Kleidungsstücke, die er am Körper trägt. Neil und er sehen sich rund um die Uhr, auch Neil erledigt die meiste Arbeit von zu Hause aus. Vor zwei Jahren hat der britische Sender Channel Five Daniel Tammet entdeckt und einen Dokumentarfilm über ihn gedreht - "Brainman" -, seither ist er eine Berühmtheit. Und Tammet nutzt diese Popularität, er engagiert sich für Wohltätigkeitsorganisationen wie die National Autistis Society und die National Society for Epilepsy. Er versteht sich als Botschafter der Autisten.
Dass Daniel Tammet heute ein fast normales Leben führt, verdankt er einem jahrelangen Lernprozess. All die Kodes, die unsere soziale Interaktion diktieren und die für uns ganz selbstverständlich sind, musste er mühsam entschlüsseln. Seine acht Geschwister zwangen ihn dazu, nach und nach ein Gefühl für Kommunikation zu entwickeln. Vom Fenster aus beobachtete er seine Brüder und Schwestern im Garten, er studierte ihre Bewegungen, ihre Blicke, ihr Spiel. In der Schule blieb er dennoch ein Außenseiter. Einer, der niemandem in die Augen sah und über den die anderen Kinder nur verständnislos den Kopf schüttelten - wenn sie ihn nicht mit ihren Bosheiten quälten. Wohl fühlte sich Daniel Tammet in dieser Zeit nur an zwei Orten: zu Hause und in der örtlichen Bibliothek, wo er sich in Enzyklopädien verlor und lange Listen mit den Namen und Daten aller amerikanischer Präsidenten erstellte.
Mit achtzehn reist er nach Litauen, in die Stadt Kaunas, wo er ein Auslandsjahr verbringt und Englisch unterrichtet. Es ist das allererste Mal, dass er auf sich alleine gestellt ist, ohne das schützende Netzwerk Großfamilie. Dieses Jahr sollte das wichtigste Jahr seines Lebens werden. Tammet lernt, sich unter Menschen zu bewegen, er schließt Freundschaften, geht ins Kino, fährt täglich mit dem Bus. Er übernimmt für sich selbst Verantwortung. Für ihn ein gewaltiger Schritt. "Litauen", schreibt er, "hatte mir die Gelegenheit gegeben, mich selbst etwas objektiver zu betrachten und mich mit meinem ,Anderssein' zu arrangieren, weil ich dort erkannte, dass es nichts Negatives sein muss." In der Fremde bastelt er an einer Art Handbuch der Kommunikation. Ein Datenbestand, der ihm Sicherheit gibt und auf den er in heiklen Situationen vertrauen kann.
Noch als Jugendlicher verwirrten ihn idiomatische Redewendungen. Ihre Eigentümlichkeiten blieben ihm fremd. Auf Sätze wie "Ich bin heute mit dem falschen Fuß aufgestanden" stellte er die Gegenfrage, warum man denn nicht gleich mit dem richtigen Fuß aufgestanden sei. Auch die Redensart "Du bist aber durch den Wind" machte ihn stutzig. Müssen wir nicht alle durch den Wind? Als Neil ihm bei der ersten Begegnung mit dem Satz schmeichelte, "Dein Foto wird dir nicht gerecht", verstand Tammet kein Wort. Er weiß nicht, wie man zwischen den Zeilen liest. Erst die Erfahrung lehrte ihn, dass auf die Aussage "Ich hatte heute einen schlechten Tag" eine einfühlsame Frage nach dem Grund des Unwohlseins erwartet wird. In seinem Buch schreibt er: "Ich erkenne nicht intuitiv, wenn jemand eine Antwort auf eine Äußerung erwartet, und habe nur durch sehr viel Übung gelernt, wie man Sprache als Mittel des sozialen Austauschs benutzt."
Man liest Daniel Tammets Erzählungen und staunt. Es ist mehr als nur ein Staunen über die phantastischen Fähigkeiten dieses Menschen. Es ist ein Staunen über das eigene Bild, das man nun wunderbarer wahrnimmt als vor der Lektüre des Buches. Daniel Tammets Sichtweise lässt uns unser eigenes Leben mit anderen Augen sehen. Er öffnet uns den Blick für die Wundermaschine Gehirn. Er rückt das Wesen Mensch in ein anderes Licht. Man wird gewahr, wie es tief in uns brodelt und wie viel zerbrechlicher, als wir meinen, unser scheinbar so intaktes System doch ist.
MELANIE MÜHL
Daniel Tammet: "Elf ist freundlich und Fünf ist laut". Ein genialer Autist erklärt seine Welt. Mit Vorworten von Darold Treffert und Simon Baron-Cohen. Aus dem Englischen übersetzt von Maren Klostermann. Patmos Verlag, Düsseldorf 2007. 247 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Daniel Tammet gibt einzigartige Einblicke in seine Inselbegabung
Er hat sich noch nie geirrt. Daniel Tammet rechnet schneller und präziser als jeder Computer dieser Welt. Bittet man ihn, 13 durch 97 zu teilen, bekommt man ein Ergebnis, das mehr als hundert Stellen nach dem Komma umfasst. Er bildet mühelos die vierte Potenz der Zahl 37 und kann die mathematische Konstante Pi bis auf 22 514 Stellen nach dem Komma aus dem Gedächtnis aufsagen. Wenn Daniel Tammet eine Zahl durch eine andere teilt, sieht er vor seinem inneren Auge eine Spirale, die sich in immer größer werdenden Windungen und Schleifen nach unten schraubt. Von Primzahlen fühlt er sich magisch angezogen, weil sie sich glatt und rund anfühlen, wie Kieselsteine am Meer.
Innerhalb von nur einer einzigen Woche lernt Daniel Tammet eine völlig neue Sprache - zehn beherrscht er mittlerweile, darunter hochkomplizierte Sprachen wie Walisisch und Isländisch. Sein Gehirn ist ein gigantisches, perfekt sortiertes Lagerhaus, gefüllt mit Informationen, die jederzeit abrufbar sind. Zahlen nimmt Tammet als Farben wahr. Hinzu kommt, dass für ihn jede Ziffer auch noch eine ganz bestimmte Form und Struktur aufweist. Wissenschaftler nennen diese Begabung Synästhesie. Sie tritt bei nicht einmal einem Prozent der Bevölkerung auf. Das Besondere bei Daniel Tammet jedoch ist, dass seine Synästhesie zusammen mit einer leichten Form von Autismus, dem Asperger-Syndrom, auftritt. Das macht ihn zu einem Wunder.
Menschen wie ihn nennt man Savants, Inselbegabte. Nur etwa hundert dieser Genies gibt es weltweit. Der berühmteste von ihnen heißt Kim Peek, wegen seines brillanten Gedächtnisses nennt man ihn auch Kimputer. Er inspirierte den Regisseur Barry Morrow zu dem Film "Rain Man", der später mit vier Oscars ausgezeichnet wurde. Savants, das sind Menschen, die nicht wissen, wie man einen Schuh zubindet, aber zwanzig Sprachen fließend sprechen, die große Mühe haben, rechts und links zu unterscheiden, aber meisterhaft Klavier spielen, die einen Disney-Film nicht verstehen, aber den Inhalt von Tausenden von Sachbüchern speichern können. Sie sind meistens schwer behindert und unfähig, anderen Zutritt zu ihrem abgezirkelten Kosmos zu gewähren. Ihre Wahrnehmung der inneren und äußeren Welt bleibt in der Regel ein gut gehütetes Geheimnis.
Bei Daniel Tammet ist das anders. Er kann sich selbst beobachten, kann zur Seite treten, seine mentalen Fähigkeiten analysieren und beschreiben. Er weiß, wie sein Gehirn tickt. Darüber hat er ein Buch geschrieben, das nun ins Deutsche übersetzt wurde und den Titel "Elf ist freundlich und Fünf ist laut" trägt. Dieses Buch ist eine Sensation, weil es uns einen einzigartigen Einblick in die Welt der Savants gewährt. In einem anrührenden Ton, der nie ins Pathetische kippt, erzählt es die erstaunliche Lebensgeschichte Daniel Tammets.
Seine Inselbegabung trat urplötzlich auf, nach einer Reihe epileptischer Anfälle in seiner frühen Kindheit - damit fällt er in die Kategorie des, wie es heißt, erworbenen Savant-Syndroms. Für jeden Wissenschaftler ist der achtundzwanzig Jahre alte Brite eine Goldgrube, das perfekte Forschungsobjekt. Und Daniel Tammet lässt sich nur allzu gerne erforschen. Darold A. Treffert, der ehemalige Chef der psychiatrischen Abteilung am St. Agnes Hospital in dem amerikanischen Städtchen Fond du Lac, schreibt im Vorwort des Buches: Nun sei es möglich, die Beschreibungen eines Inselbegabten mit neuropsychologischen Untersuchungen in Beziehung zu setzen. Alles drehe sich schließlich nur um die eine Frage: "Wie machen die das bloß?" Wie funktioniert das Gehirn eines Savants? Wer weiß, fragt sich der Psychiater, vielleicht schlummert ja in uns allen dieses übermenschliche Potential, vielleicht existiert in jedem von uns ein "Rain Man", ein Wunderkind. Vielleicht bedarf es ja einfach nur des richtigen Auslösers, um unsere natürlichen Grenzen zu überschreiten. Es ist verlockend, diesen Gedanken zu Ende zu denken, sich in allen Details auszumalen, wie es wäre, in seiner Haut aus seiner Haut zu können. Wie es wäre, das Natürliche zu überlisten. Daniel Tammets Begabung gehe über alles Menschliche hinaus, sagt seine Lehrerin Sirrý aus Reykjavík, die ihm Isländisch beibrachte. Damit hat sie recht und unrecht zugleich.
Zahlen führen Regie in Tammets Leben. Sein unendliches Zahlenvokabular besteht aus schönen und hässlichen Ziffern; Einsen passen perfekt zu dunklen Zahlen wie Achten und Neunen, die Zahl 117 ist groß und schlacksig, so wie David Letterman, in dessen Late Night Show er schon saß, die Vier ist schüchtern und still. Bei der 87 denkt er an fallenden Schnee, die 5 erinnert ihn an einen Donnerschlag. Löst er eine komplizierte Rechenaufgabe, spaziert er durch eine bunte Zahlenlandschaft, einen Fluss aus Farben und Formen.
Daniel Tammet bewegt sich in einem Koordinatensystem aus Ziffern. Ohne sie wäre er verloren. Sein Abstraktionsdrang ist die Folge einer großen inneren Beunruhigung durch die Erscheinungen der Außenwelt. Das Zählen tröstet ihn. Erst die algebraische Färbung aller Vorstellungen lässt ihn zur Ruhe kommen. Abstraktion ist sein Fluchtweg. Selbst einen ganz normalen Restaurantbesuch erlebt er als ein Risiko. Tammet erträgt keine übervollen Räume, keine Hitze, keinen Lärm. Er meidet Supermärkte und kauft lieber in überschaubaren Bioläden ein. Manchmal, schreibt er, sei es für ihn schwierig, Emotionen zu verstehen, Metaphern zu begreifen, sich das Uneigentliche zu erschließen. Deshalb helfe er sich mit Zahlen. "Wenn ein Freund sagt, er sei traurig oder niedergeschlagen, stelle ich mir vor, dass ich in der dunklen Leere der Zahl Sechs sitze, um seine Gefühle nachzuempfinden und zu begreifen. Auf diese Weise tragen Zahlen tatsächlich dazu bei, dass ich andere Menschen besser verstehe."
Heute lebt Daniel Tammet mit seinem Freund Neil, einem Computerspezialisten, in dem Küstenstädtchen Herne Bay. Sie haben ein kleines Haus mit einem Garten, in dem sie Obst und Gemüse anbauen. Die beiden lernten sich im Internet kennen, chatteten, schrieben sich vertraute Mails, bis sie sich irgendwann trafen und nicht mehr voneinander ließen. Tammet beschreibt die Anfangsmomente dieser Liebe mit ungeheurer Zärtlichkeit. In Neil hat er einen Seelenverwandten gefunden. Gemeinsam gründen sie den erfolgreichen Online-Sprachkurs "Optimnem", ein Internetunternehmen, das Tammet ermöglicht, von zu Hause aus zu arbeiten und Geld zu verdienen. Situationen, die sich seiner Kontrolle entziehen, versetzen ihn noch immer in Panik.
Jeden Morgen frühstückt er exakt 45 Gramm Porridge. Bevor er das Haus verlässt, zählt er die Kleidungsstücke, die er am Körper trägt. Neil und er sehen sich rund um die Uhr, auch Neil erledigt die meiste Arbeit von zu Hause aus. Vor zwei Jahren hat der britische Sender Channel Five Daniel Tammet entdeckt und einen Dokumentarfilm über ihn gedreht - "Brainman" -, seither ist er eine Berühmtheit. Und Tammet nutzt diese Popularität, er engagiert sich für Wohltätigkeitsorganisationen wie die National Autistis Society und die National Society for Epilepsy. Er versteht sich als Botschafter der Autisten.
Dass Daniel Tammet heute ein fast normales Leben führt, verdankt er einem jahrelangen Lernprozess. All die Kodes, die unsere soziale Interaktion diktieren und die für uns ganz selbstverständlich sind, musste er mühsam entschlüsseln. Seine acht Geschwister zwangen ihn dazu, nach und nach ein Gefühl für Kommunikation zu entwickeln. Vom Fenster aus beobachtete er seine Brüder und Schwestern im Garten, er studierte ihre Bewegungen, ihre Blicke, ihr Spiel. In der Schule blieb er dennoch ein Außenseiter. Einer, der niemandem in die Augen sah und über den die anderen Kinder nur verständnislos den Kopf schüttelten - wenn sie ihn nicht mit ihren Bosheiten quälten. Wohl fühlte sich Daniel Tammet in dieser Zeit nur an zwei Orten: zu Hause und in der örtlichen Bibliothek, wo er sich in Enzyklopädien verlor und lange Listen mit den Namen und Daten aller amerikanischer Präsidenten erstellte.
Mit achtzehn reist er nach Litauen, in die Stadt Kaunas, wo er ein Auslandsjahr verbringt und Englisch unterrichtet. Es ist das allererste Mal, dass er auf sich alleine gestellt ist, ohne das schützende Netzwerk Großfamilie. Dieses Jahr sollte das wichtigste Jahr seines Lebens werden. Tammet lernt, sich unter Menschen zu bewegen, er schließt Freundschaften, geht ins Kino, fährt täglich mit dem Bus. Er übernimmt für sich selbst Verantwortung. Für ihn ein gewaltiger Schritt. "Litauen", schreibt er, "hatte mir die Gelegenheit gegeben, mich selbst etwas objektiver zu betrachten und mich mit meinem ,Anderssein' zu arrangieren, weil ich dort erkannte, dass es nichts Negatives sein muss." In der Fremde bastelt er an einer Art Handbuch der Kommunikation. Ein Datenbestand, der ihm Sicherheit gibt und auf den er in heiklen Situationen vertrauen kann.
Noch als Jugendlicher verwirrten ihn idiomatische Redewendungen. Ihre Eigentümlichkeiten blieben ihm fremd. Auf Sätze wie "Ich bin heute mit dem falschen Fuß aufgestanden" stellte er die Gegenfrage, warum man denn nicht gleich mit dem richtigen Fuß aufgestanden sei. Auch die Redensart "Du bist aber durch den Wind" machte ihn stutzig. Müssen wir nicht alle durch den Wind? Als Neil ihm bei der ersten Begegnung mit dem Satz schmeichelte, "Dein Foto wird dir nicht gerecht", verstand Tammet kein Wort. Er weiß nicht, wie man zwischen den Zeilen liest. Erst die Erfahrung lehrte ihn, dass auf die Aussage "Ich hatte heute einen schlechten Tag" eine einfühlsame Frage nach dem Grund des Unwohlseins erwartet wird. In seinem Buch schreibt er: "Ich erkenne nicht intuitiv, wenn jemand eine Antwort auf eine Äußerung erwartet, und habe nur durch sehr viel Übung gelernt, wie man Sprache als Mittel des sozialen Austauschs benutzt."
Man liest Daniel Tammets Erzählungen und staunt. Es ist mehr als nur ein Staunen über die phantastischen Fähigkeiten dieses Menschen. Es ist ein Staunen über das eigene Bild, das man nun wunderbarer wahrnimmt als vor der Lektüre des Buches. Daniel Tammets Sichtweise lässt uns unser eigenes Leben mit anderen Augen sehen. Er öffnet uns den Blick für die Wundermaschine Gehirn. Er rückt das Wesen Mensch in ein anderes Licht. Man wird gewahr, wie es tief in uns brodelt und wie viel zerbrechlicher, als wir meinen, unser scheinbar so intaktes System doch ist.
MELANIE MÜHL
Daniel Tammet: "Elf ist freundlich und Fünf ist laut". Ein genialer Autist erklärt seine Welt. Mit Vorworten von Darold Treffert und Simon Baron-Cohen. Aus dem Englischen übersetzt von Maren Klostermann. Patmos Verlag, Düsseldorf 2007. 247 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main