Eines Morgens Ende August steht Bjørn Hansen am Kongsberger Bahnhof und wartet auf seinen Sohn. Er ist fünfzig, und es ist vier Jahre her, seit er Turid Lammers verlassen hat, die Frau, für die er einst Frau und Kind sitzen ließ und nach Kongsberg zog, um "dem Traum vom gestohlenen Glück" nachzulaufen. Doch auch die Begegnung mit dem Sohn kann Bjørn Hansens Dasein nicht mit Inhalt füllen, und aus Protest gegen das Leben entwickelt er einen Plan, mit dem er sein großes Nein verwirklichen will.
"Elfter Roman, achtzehntes Buch" würde auch Bjørn Hansen gerne lesen, "ein Roman, der zeigt, daß das Leben unmöglich ist". Ein tiefgehender existenzieller Roman, der konzentriert und kompromißlos alle zentralen Themen Solstads aufgreift: Mit messerscharfer Präzision, subtilem Humor und im mahlenden Stil Prousts schildert Solstad das Gefühl des Intellektuellen, ausgegrenzt zu sein. Bjørn Hansen - dem Stadtkämmerer - wird die Gesellschaft immer oberflächlicher und unverständlicher.
"Elfter Roman, achtzehntes Buch" würde auch Bjørn Hansen gerne lesen, "ein Roman, der zeigt, daß das Leben unmöglich ist". Ein tiefgehender existenzieller Roman, der konzentriert und kompromißlos alle zentralen Themen Solstads aufgreift: Mit messerscharfer Präzision, subtilem Humor und im mahlenden Stil Prousts schildert Solstad das Gefühl des Intellektuellen, ausgegrenzt zu sein. Bjørn Hansen - dem Stadtkämmerer - wird die Gesellschaft immer oberflächlicher und unverständlicher.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.2004Im Würgegriff der Misanthropie
Tanztheater seiner Stadt: Dag Solstad weiß nicht, wieso er sie so haßt
Bisher ist uns Dag Solstad entgangen. Jahre- und jahrzehntelang schrieb er Bücher voll, ließ er sich in die Elite der norwegischen Gegenwartsliteratur hineinjubeln, ließ sich die wichtigen Preise nur so hinterherverleihen, ließ sich hierhin übersetzen, aber auch dorthin, neun Sprachräume zeigten Interesse, nur einer aber nicht: dieser. Deutschlandweit Stillschweigen seit Solstads Debüt 1965, all die Jahre wollte das hier niemand lesen oder auch nur übersetzen, an Zufall zu glauben fällt da schwer. Gäbe es nicht die netten Schweizer und hätten die nicht kürzlich erst den Verlag Dörlemann ins Leben gerufen, wir säßen mit leeren Händen auf unserem Sofa, blätterten in der Luft und wüßten nicht, was uns gerade noch gefehlt hätte: nämlich Dag Solstad.
Der Autor, Jahrgang 1941, springt uns ins Gesicht mit einem schmackig bunten Klappumschlag und einem Romantitel, der hingucken läßt (so man nicht Norweger ist und derlei von Solstad schon lange gewohnt ist): "Elfter Roman, achtzehntes Buch" - der Umschlag beschert uns zwei Fragen; die eine nämlich, warum man das sprachlich bessere "Elfter Roman, Buch achtzehn" des Originals nicht beibehalten hat, und eine zweite, die aus dem Titel auf den Inhalt zu schließen versucht: Verbirgt sich dahinter eine gewisse ironische Gewitztheit oder eine ungewisse Ermattung? Das Buch selbst beläßt uns zunächst im unklaren. Ohne große Umstände wirft es uns in die Welt von Bjørn Hansen, einem fünfzigjährigen Mann, dessen bisheriges und von nun an mitzuverfolgendes Leben rasch skizziert ist oder, besser gesagt: rasch skizziert wird.
Auf der Karriereleiter der Staatsverwaltung sitzt er sich allmählich aufwärts, bis ihm die Begegnung mit Turid Lammers einen Strich durch die Berechnungen macht. Ihretwegen verläßt er Frau und zweijähriges Kind, man versteht nicht genau, wieso, ihretwegen siedelt er von Oslo ins verschlafene Kongsberg über, wird dort Stadtkämmerer und schließt sich, wie Turid, einer örtlichen Laienschauspieltruppe an, ebenfalls ohne rechte Motivation. Die Laienschauspieltruppe führt üblicherweise Operetten auf, einmal jährlich, und läßt sich brav beklatschen, einmal aber, und darauf hat Bjørn Hansen gedrängt, versuchen sie sich an Ibsen, um kläglich zu scheitern. Bald darauf verläßt er auch Turid. Faßt einen Plan. Bekommt zwischendurch noch Besuch von seinem Sohn, mit dem er nicht viel anfangen kann. Setzt dann den Plan um: sein Leben von nun an im Rollstuhl zu verbringen. Und das war's.
Handlung ist nichts; jede Handlung kann grandios oder gruselig umgesetzt werden. In diesem Fall befindet sich der Erzähler fester im Würgegriff der Misanthropie, als seiner Erzählung guttun würde, in ihm spiegelt sich der Autor, der in Interviews um keine kulturpessimistische Platitüde verlegen ist: daß Literatur zu Konsum geworden und die vorherrschende Kultur barbarisch sei; Jugendliche sich beim Tanzen stereotyp bewegten; er das siebzehnte Jahrhundert für sich selber vorziehen würde - er ist ein rechter Gnatz, der alte Dag.
Und zum Ausgnatzen hat er in vorliegendem Buch ein Fähnlein leichter Opfer zusammengezogen: Turid, die verblühte Schönheit. Peter, den dumpf materialistischen Sohn. Die Kleinstadt als solche. Die Laienschauspieler dieser Kleinstadt im Besonderen. Als Schattenrisse eingelebter Vorurteile werden sie herbeizitiert und vorgeführt; und der Leser muß konstatieren, daß die Distanz des Erzählers, der fast nur aus der Totalen beobachtet und subsumiert, nicht das Mitleid erträglich machen soll. Denn da ist keines. Und da kann auch keines sein; dazu sind die Figuren zu papiern konstruiert, ist die Handlung zu wenig schlüssig; mag sie auch nicht verstören, da gar kein Interesse geweckt ist. Gar zu obenhin informiert uns der Erzähler über eine Resignation, welche nach den Bühnenauftritten verspürt werde, floskelt er die Initialzündung der Handlung, jene Affäre mit Turid Lammers, aufs Papier: "So intensiv hatte er noch nie gelebt, denn er wußte, daß er sich in einem Raum befand, in dem er nicht lange bleiben würde. Es war ein gewagtes Spiel. Etwas gestohlenes Glück."
Der Autor agiert so schlapp wie sein Held: Todfeinde, die Bjørn Hansen sich im Job gemacht hat, werden eingeführt, um dann nie wiederaufzutauchen. Die Schilderung Kongsbergs wird einem rasch angelesenen Lexikonauszug überlassen. Manche Erzählpassage strudelt im Kreis und schwemmt Wiederholungen an, die man einem Säulenheiligen in Norwegen vielleicht für genial anrechnen und durchgehen lassen mag, die aber spätestens beim Übersetzen getilgt gehören. Der Schlendrian erinnert an die von einigen haarsträubenden Sachfehlern strotzenden Fußball-WM-Bücher Solstads, welche er gemeinsam mit seinem Koautor Jon Michelet alle vier Jahre vorlegte, bis zuletzt selbst unter seinen langmütigen Landsleuten Murren laut wurde. Das vorliegende Buch erschien in Norwegen bereits 1992 - vielleicht war es damals und dort ja ein wenig richtiger am Platz; weswegen, wüßten wir nicht.
KLAUS UNGERER
Dag Solstad: "Elfter Roman, achtzehntes Buch". Roman. Aus dem Norwegischen übersetzt von Ina Kronenberger. Dörlemann Verlag, Zürich 2004. 240 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tanztheater seiner Stadt: Dag Solstad weiß nicht, wieso er sie so haßt
Bisher ist uns Dag Solstad entgangen. Jahre- und jahrzehntelang schrieb er Bücher voll, ließ er sich in die Elite der norwegischen Gegenwartsliteratur hineinjubeln, ließ sich die wichtigen Preise nur so hinterherverleihen, ließ sich hierhin übersetzen, aber auch dorthin, neun Sprachräume zeigten Interesse, nur einer aber nicht: dieser. Deutschlandweit Stillschweigen seit Solstads Debüt 1965, all die Jahre wollte das hier niemand lesen oder auch nur übersetzen, an Zufall zu glauben fällt da schwer. Gäbe es nicht die netten Schweizer und hätten die nicht kürzlich erst den Verlag Dörlemann ins Leben gerufen, wir säßen mit leeren Händen auf unserem Sofa, blätterten in der Luft und wüßten nicht, was uns gerade noch gefehlt hätte: nämlich Dag Solstad.
Der Autor, Jahrgang 1941, springt uns ins Gesicht mit einem schmackig bunten Klappumschlag und einem Romantitel, der hingucken läßt (so man nicht Norweger ist und derlei von Solstad schon lange gewohnt ist): "Elfter Roman, achtzehntes Buch" - der Umschlag beschert uns zwei Fragen; die eine nämlich, warum man das sprachlich bessere "Elfter Roman, Buch achtzehn" des Originals nicht beibehalten hat, und eine zweite, die aus dem Titel auf den Inhalt zu schließen versucht: Verbirgt sich dahinter eine gewisse ironische Gewitztheit oder eine ungewisse Ermattung? Das Buch selbst beläßt uns zunächst im unklaren. Ohne große Umstände wirft es uns in die Welt von Bjørn Hansen, einem fünfzigjährigen Mann, dessen bisheriges und von nun an mitzuverfolgendes Leben rasch skizziert ist oder, besser gesagt: rasch skizziert wird.
Auf der Karriereleiter der Staatsverwaltung sitzt er sich allmählich aufwärts, bis ihm die Begegnung mit Turid Lammers einen Strich durch die Berechnungen macht. Ihretwegen verläßt er Frau und zweijähriges Kind, man versteht nicht genau, wieso, ihretwegen siedelt er von Oslo ins verschlafene Kongsberg über, wird dort Stadtkämmerer und schließt sich, wie Turid, einer örtlichen Laienschauspieltruppe an, ebenfalls ohne rechte Motivation. Die Laienschauspieltruppe führt üblicherweise Operetten auf, einmal jährlich, und läßt sich brav beklatschen, einmal aber, und darauf hat Bjørn Hansen gedrängt, versuchen sie sich an Ibsen, um kläglich zu scheitern. Bald darauf verläßt er auch Turid. Faßt einen Plan. Bekommt zwischendurch noch Besuch von seinem Sohn, mit dem er nicht viel anfangen kann. Setzt dann den Plan um: sein Leben von nun an im Rollstuhl zu verbringen. Und das war's.
Handlung ist nichts; jede Handlung kann grandios oder gruselig umgesetzt werden. In diesem Fall befindet sich der Erzähler fester im Würgegriff der Misanthropie, als seiner Erzählung guttun würde, in ihm spiegelt sich der Autor, der in Interviews um keine kulturpessimistische Platitüde verlegen ist: daß Literatur zu Konsum geworden und die vorherrschende Kultur barbarisch sei; Jugendliche sich beim Tanzen stereotyp bewegten; er das siebzehnte Jahrhundert für sich selber vorziehen würde - er ist ein rechter Gnatz, der alte Dag.
Und zum Ausgnatzen hat er in vorliegendem Buch ein Fähnlein leichter Opfer zusammengezogen: Turid, die verblühte Schönheit. Peter, den dumpf materialistischen Sohn. Die Kleinstadt als solche. Die Laienschauspieler dieser Kleinstadt im Besonderen. Als Schattenrisse eingelebter Vorurteile werden sie herbeizitiert und vorgeführt; und der Leser muß konstatieren, daß die Distanz des Erzählers, der fast nur aus der Totalen beobachtet und subsumiert, nicht das Mitleid erträglich machen soll. Denn da ist keines. Und da kann auch keines sein; dazu sind die Figuren zu papiern konstruiert, ist die Handlung zu wenig schlüssig; mag sie auch nicht verstören, da gar kein Interesse geweckt ist. Gar zu obenhin informiert uns der Erzähler über eine Resignation, welche nach den Bühnenauftritten verspürt werde, floskelt er die Initialzündung der Handlung, jene Affäre mit Turid Lammers, aufs Papier: "So intensiv hatte er noch nie gelebt, denn er wußte, daß er sich in einem Raum befand, in dem er nicht lange bleiben würde. Es war ein gewagtes Spiel. Etwas gestohlenes Glück."
Der Autor agiert so schlapp wie sein Held: Todfeinde, die Bjørn Hansen sich im Job gemacht hat, werden eingeführt, um dann nie wiederaufzutauchen. Die Schilderung Kongsbergs wird einem rasch angelesenen Lexikonauszug überlassen. Manche Erzählpassage strudelt im Kreis und schwemmt Wiederholungen an, die man einem Säulenheiligen in Norwegen vielleicht für genial anrechnen und durchgehen lassen mag, die aber spätestens beim Übersetzen getilgt gehören. Der Schlendrian erinnert an die von einigen haarsträubenden Sachfehlern strotzenden Fußball-WM-Bücher Solstads, welche er gemeinsam mit seinem Koautor Jon Michelet alle vier Jahre vorlegte, bis zuletzt selbst unter seinen langmütigen Landsleuten Murren laut wurde. Das vorliegende Buch erschien in Norwegen bereits 1992 - vielleicht war es damals und dort ja ein wenig richtiger am Platz; weswegen, wüßten wir nicht.
KLAUS UNGERER
Dag Solstad: "Elfter Roman, achtzehntes Buch". Roman. Aus dem Norwegischen übersetzt von Ina Kronenberger. Dörlemann Verlag, Zürich 2004. 240 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2004Das Insekt der Freiheit
Ganz genau: Dag Solstads „Elfter Roman, achtzehntes Buch”
Stammte der Titel „Elfter Roman, achtzehntes Buch” von einem deutschen Autor, könnte man dahinter Bedeutungshuberei oder mindestens den Willen zum Witz vermuten. Norweger sind anders. Es handelt sich hier schlicht um den elften Roman und, bei strenger Zählung, das achtzehnte Buch in der Werkchronologie von Dag Solstad, der nicht nur beim Erfinden von Titeln zu einer gewissen Nüchternheit neigt und gern Ziffern sprechen lässt: Ein autobiographisches Epos überschrieb er mit seinem Geburtsdatum „16.07.41”, einen anderen Roman nannte er nach dessen Erscheinungsjahr „1987”. Bei Nummer elf/achtzehn, im Original vor zwölf Jahren publiziert, sollten deutschsprachige Verlage allerdings einen leisen Vorwurf mitklingen hören: Obwohl Solstad vielen als bedeutendster unter den lebenden Schriftstellern Norwegens gilt und seine Werke schon in diverse Sprachen übersetzt wurden, ist dies das erste seiner Bücher, das auf Deutsch erscheint. Was um so mehr verwundert, als der Autor seit längerem überwiegend in Berlin lebt.
Freilich findet sich in Solstads Arbeiten kaum etwas von dem, was neuere norwegische Literatur hierzulande populär gemacht hat. Von der jugendfreien Weisheitssuche eines Jostein Gaarder ist er so weit entfernt wie von der Geborgenheitsprosa eines Erik Fosnes Hansen oder dem Fabulierfuror eines Lars Saabye Christensen. Solstad, der sich in jungen Jahren als Mitglied der Gruppe „Profil” für experimentelle Literatur stark machte und vom bekennenden Maoisten zum bekennenden Verächter der Spaßkultur gereift ist, entblättert die norwegische Überflussgesellschaft bis auf die Knochen und legt ihren existentiellen Kältekern bloß. Im „Elften Roman” erzählt er mit trügerisch unspektakulären Mitteln eine Geschichte, die in ihrer Alltäglichkeit zunächst fast einlullend wirkt, dabei aber den Leser festhält wie der Fliegenleim das Insekt, um ihn am Ende abrupt in die grenzenlose Freiheit der Sinnleere zu befördern.
Diese Handbewegungen
Björn Hansen, gerade fünfzig geworden, wartet am Bahnhof des Provinzstädtchens Kongsberg auf einen Reisenden. Doch bevor der Zug einfährt, stockt die Erzählung, und der Autor lässt seinen Helden hundert Seiten lang stehen, um in aller Ruhe die Vorgeschichte abzuwickeln, das Protokoll eines unaufhaltsamen Abstiegs. Vor achtzehn Jahren ist Hansen aus einer vielversprechenden Karriere im Ministerium ausgestiegen, hat seine Familie verlassen und ist nach Kongsberg gezogen, um mit Turid Lammers zusammenzuleben, einer leicht überspannten jungen Frau, die ihn, nach längerem Paris-Aufenthalt in den Norden zurückgekehrt, durch ihre „französischen Handbewegungen” bezauberte. Inzwischen ist das Verhältnis beendet, und Hansen bewohnt - bonjour tristesse - „eine moderne Wohnung im Zentrum Kongsbergs, einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt”. Dag Solstad skizziert eine Affäre, wie es sie zu Tausenden gibt: Flüchtige Verliebtheit krempelt eine Biografie um, und nach ein paar Jahren hängt jemand in einer Gegend fest, in der er sonst nie gelandet wäre, und übt einen Beruf aus, der ihn nicht interessiert, um einer Faszination willen, die er längst nicht mehr nachvollziehen kann.
Björn Hansen ist Stadtkämmerer geworden, weil sich ihm in Kongsberg nichts Besseres bot. Was den studierten Volkswirtschaftler einst im Innersten bewegt hat, wird kenntlich am Inhalt der Bücherkisten, mit denen er in Turids Villa eingezogen und später wieder ausgezogen ist: „Dostojewskij. Puschkin. Thomas Mann. Céline. Borges. Tom Kristensen. Marquez. Proust. Singer. Heinrich Heine. Malraux, Kafka, Kundera, Freud, Kierkegaard, Sartre, Camus, Butor.” In seinem Kleinstadtleben hat er es nur zur Mitwirkung in der Laienschauspieltruppe gebracht, deren Aktivitäten der Autor zum Gegenstand einer fast sadistisch in die Länge gezogenen Provinzkulturposse macht. Hansen hat das auf Lustspiele und Operetten spezialisierte Ensemble überredet, sich ans ernste Fach zu wagen, und sein blamabler Auftritt als Hjalmar Ekdal, der Meister der Lebenslüge, in einer missglückten Aufführung der „Wildente”, hat die Entfremdung zwischen ihm und der theaterbesessenen Turid beschleunigt. Dag Solstad steht Ibsen an Gnadenlosigkeit kaum nach, wenn er die Selbsttäuschungen der alternden Geliebten seziert, ihre erfolglosen Bemühungen, sich als Femme fatale zu inszenieren, und Hansens Schwanken zwischen nachlassender Eifersucht, Loyalität und Furcht vor dem Alleinsein.
Björn Hansen, immerhin, hat aufgehört, sich selbst zu betrügen. Ihn quält, dass er sein Leben vergeudet hat, „ohne auch nur in der Nähe des Weges zu sein, auf dem meine tiefsten Bedürfnisse gesehen und gehört werden können”. Weil ihm die Vorstellung, noch dreißig Jahre so weiterzumachen, unerträglich geworden ist, hat er mit einem drogensüchtigen Arzt einen verrückten Plan ausgeheckt. Bevor der Leser, nach subtiler Spannungssteigerung neugierig geworden, nun aber erfährt, worum es geht, zieht Solstad von neuem eine retardierende Karte aus dem Ärmel: Hansens Sohn Peter, in Abwesenheit des Vaters erwachsen geworden und als Student in Kongsberg angemeldet, quartiert sich bei ihm ein; er ist es, der am Bahnhof erwartet wird. Was im Trivialroman als sinnstiftendes Element herhalten müsste - Wiederbegegnung mit dem Sprössling gibt ausgebranntem Fünfziger neue Lebensimpulse - gerät bei Solstad zu einer Farce über innerfamiliäre Antipathie und Kommunikationslosigkeit. Und wer außer ihm hätte es bislang gewagt, die Generation Popkultur, die sich über „dicke, selbstzufriedene Joggingschuhe” definiert und ansonsten ihre Ignoranz hätschelt, derart unverblümt der Lächerlichkeit preiszugeben?
Björn Hansen trägt es nicht länger mehr, doch der gigantische (und kostspielige) Betrug, mit dem er sein Dasein auf eine andere Schiene lenken will, ist mindestens so sinnlos wie seine bisherige Existenz. Worin sein Coup besteht, soll hier nicht verraten werden, denn es macht Vergnügen, seinen undurchsichtigen Vorbereitungen zu folgen und ihn ins winterliche Litauen zu begleiten, wo die Weichen für seine Wandlung gestellt werden. Bis zur Schlusspointe, die alles menschliche Tun und Trachten noch einmal in seiner ganzen komischen Erbarmungswürdigkeit entlarvt, bereitet Solstads gletscherkalte, souverän distanzierte Prosa einen seltsam trostreichen Genuss. Was hat der Dichter uns zu sagen? Letzten Endes nicht mehr als dies: Pinkeln kann ein Mann am besten im Stehen, gegen Depressionen hilft nur Nihilismus, und Norwegen ist überall.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
DAG SOLSTAD: Elfter Roman, achtzehntes Buch. Deutsch von Ina Kronenberger. Dörlemann Verlag, Zürich 2004. 240 Seiten, 19,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Ganz genau: Dag Solstads „Elfter Roman, achtzehntes Buch”
Stammte der Titel „Elfter Roman, achtzehntes Buch” von einem deutschen Autor, könnte man dahinter Bedeutungshuberei oder mindestens den Willen zum Witz vermuten. Norweger sind anders. Es handelt sich hier schlicht um den elften Roman und, bei strenger Zählung, das achtzehnte Buch in der Werkchronologie von Dag Solstad, der nicht nur beim Erfinden von Titeln zu einer gewissen Nüchternheit neigt und gern Ziffern sprechen lässt: Ein autobiographisches Epos überschrieb er mit seinem Geburtsdatum „16.07.41”, einen anderen Roman nannte er nach dessen Erscheinungsjahr „1987”. Bei Nummer elf/achtzehn, im Original vor zwölf Jahren publiziert, sollten deutschsprachige Verlage allerdings einen leisen Vorwurf mitklingen hören: Obwohl Solstad vielen als bedeutendster unter den lebenden Schriftstellern Norwegens gilt und seine Werke schon in diverse Sprachen übersetzt wurden, ist dies das erste seiner Bücher, das auf Deutsch erscheint. Was um so mehr verwundert, als der Autor seit längerem überwiegend in Berlin lebt.
Freilich findet sich in Solstads Arbeiten kaum etwas von dem, was neuere norwegische Literatur hierzulande populär gemacht hat. Von der jugendfreien Weisheitssuche eines Jostein Gaarder ist er so weit entfernt wie von der Geborgenheitsprosa eines Erik Fosnes Hansen oder dem Fabulierfuror eines Lars Saabye Christensen. Solstad, der sich in jungen Jahren als Mitglied der Gruppe „Profil” für experimentelle Literatur stark machte und vom bekennenden Maoisten zum bekennenden Verächter der Spaßkultur gereift ist, entblättert die norwegische Überflussgesellschaft bis auf die Knochen und legt ihren existentiellen Kältekern bloß. Im „Elften Roman” erzählt er mit trügerisch unspektakulären Mitteln eine Geschichte, die in ihrer Alltäglichkeit zunächst fast einlullend wirkt, dabei aber den Leser festhält wie der Fliegenleim das Insekt, um ihn am Ende abrupt in die grenzenlose Freiheit der Sinnleere zu befördern.
Diese Handbewegungen
Björn Hansen, gerade fünfzig geworden, wartet am Bahnhof des Provinzstädtchens Kongsberg auf einen Reisenden. Doch bevor der Zug einfährt, stockt die Erzählung, und der Autor lässt seinen Helden hundert Seiten lang stehen, um in aller Ruhe die Vorgeschichte abzuwickeln, das Protokoll eines unaufhaltsamen Abstiegs. Vor achtzehn Jahren ist Hansen aus einer vielversprechenden Karriere im Ministerium ausgestiegen, hat seine Familie verlassen und ist nach Kongsberg gezogen, um mit Turid Lammers zusammenzuleben, einer leicht überspannten jungen Frau, die ihn, nach längerem Paris-Aufenthalt in den Norden zurückgekehrt, durch ihre „französischen Handbewegungen” bezauberte. Inzwischen ist das Verhältnis beendet, und Hansen bewohnt - bonjour tristesse - „eine moderne Wohnung im Zentrum Kongsbergs, einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt”. Dag Solstad skizziert eine Affäre, wie es sie zu Tausenden gibt: Flüchtige Verliebtheit krempelt eine Biografie um, und nach ein paar Jahren hängt jemand in einer Gegend fest, in der er sonst nie gelandet wäre, und übt einen Beruf aus, der ihn nicht interessiert, um einer Faszination willen, die er längst nicht mehr nachvollziehen kann.
Björn Hansen ist Stadtkämmerer geworden, weil sich ihm in Kongsberg nichts Besseres bot. Was den studierten Volkswirtschaftler einst im Innersten bewegt hat, wird kenntlich am Inhalt der Bücherkisten, mit denen er in Turids Villa eingezogen und später wieder ausgezogen ist: „Dostojewskij. Puschkin. Thomas Mann. Céline. Borges. Tom Kristensen. Marquez. Proust. Singer. Heinrich Heine. Malraux, Kafka, Kundera, Freud, Kierkegaard, Sartre, Camus, Butor.” In seinem Kleinstadtleben hat er es nur zur Mitwirkung in der Laienschauspieltruppe gebracht, deren Aktivitäten der Autor zum Gegenstand einer fast sadistisch in die Länge gezogenen Provinzkulturposse macht. Hansen hat das auf Lustspiele und Operetten spezialisierte Ensemble überredet, sich ans ernste Fach zu wagen, und sein blamabler Auftritt als Hjalmar Ekdal, der Meister der Lebenslüge, in einer missglückten Aufführung der „Wildente”, hat die Entfremdung zwischen ihm und der theaterbesessenen Turid beschleunigt. Dag Solstad steht Ibsen an Gnadenlosigkeit kaum nach, wenn er die Selbsttäuschungen der alternden Geliebten seziert, ihre erfolglosen Bemühungen, sich als Femme fatale zu inszenieren, und Hansens Schwanken zwischen nachlassender Eifersucht, Loyalität und Furcht vor dem Alleinsein.
Björn Hansen, immerhin, hat aufgehört, sich selbst zu betrügen. Ihn quält, dass er sein Leben vergeudet hat, „ohne auch nur in der Nähe des Weges zu sein, auf dem meine tiefsten Bedürfnisse gesehen und gehört werden können”. Weil ihm die Vorstellung, noch dreißig Jahre so weiterzumachen, unerträglich geworden ist, hat er mit einem drogensüchtigen Arzt einen verrückten Plan ausgeheckt. Bevor der Leser, nach subtiler Spannungssteigerung neugierig geworden, nun aber erfährt, worum es geht, zieht Solstad von neuem eine retardierende Karte aus dem Ärmel: Hansens Sohn Peter, in Abwesenheit des Vaters erwachsen geworden und als Student in Kongsberg angemeldet, quartiert sich bei ihm ein; er ist es, der am Bahnhof erwartet wird. Was im Trivialroman als sinnstiftendes Element herhalten müsste - Wiederbegegnung mit dem Sprössling gibt ausgebranntem Fünfziger neue Lebensimpulse - gerät bei Solstad zu einer Farce über innerfamiliäre Antipathie und Kommunikationslosigkeit. Und wer außer ihm hätte es bislang gewagt, die Generation Popkultur, die sich über „dicke, selbstzufriedene Joggingschuhe” definiert und ansonsten ihre Ignoranz hätschelt, derart unverblümt der Lächerlichkeit preiszugeben?
Björn Hansen trägt es nicht länger mehr, doch der gigantische (und kostspielige) Betrug, mit dem er sein Dasein auf eine andere Schiene lenken will, ist mindestens so sinnlos wie seine bisherige Existenz. Worin sein Coup besteht, soll hier nicht verraten werden, denn es macht Vergnügen, seinen undurchsichtigen Vorbereitungen zu folgen und ihn ins winterliche Litauen zu begleiten, wo die Weichen für seine Wandlung gestellt werden. Bis zur Schlusspointe, die alles menschliche Tun und Trachten noch einmal in seiner ganzen komischen Erbarmungswürdigkeit entlarvt, bereitet Solstads gletscherkalte, souverän distanzierte Prosa einen seltsam trostreichen Genuss. Was hat der Dichter uns zu sagen? Letzten Endes nicht mehr als dies: Pinkeln kann ein Mann am besten im Stehen, gegen Depressionen hilft nur Nihilismus, und Norwegen ist überall.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
DAG SOLSTAD: Elfter Roman, achtzehntes Buch. Deutsch von Ina Kronenberger. Dörlemann Verlag, Zürich 2004. 240 Seiten, 19,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
"Sperrig, ja biblisch" kommt Aldo Keel der Titel vor, und im Laufe der Besprechung merkt man, dass mit dem Biblischen wohl das Alte Testament gemeint ist. Dag Solstadt hat mit der Geschichte der Entfremdung des Björn Hansen einen "pessimistischen, ja gnadenlosen" Roman verfasst, so unser Rezensent. Das Buch erschien schon 1992 im Original, wurde aber erst jetzt ins Deutsche übertragen - als erstes Buch des Schriftstellers überhaupt. Obwohl Solstadt nach eigener Aussage sein Tun als Gegengewicht zur um sich greifenden Spaßkultur versteht, ist seine Prosa von einer "sonderbaren, leicht ironischen Distanz" zu seinen eigenen Aussagen, Mutmaßungen und Gedanken geprägt, erklärt unser Rezensent. In "gedrechselten", manchmal auch "koketten", aber "stets eleganten" Sätzen bearbeite und verändere der Autor das gerade erst Gesagte, "nach der Art des Sprachspiels". So gelingt es Solstadt mit "bösartig filigraner Feder", die Stadien der Liebe, die seine Figuren durchmachen, in all ihren Erscheinungsformen und Schattierungen von Treue, Zweifel und Eifersucht "auszuleuchten", resümiert unser beeindruckter Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Dag Solstad gilt vielen Norwegern als größter Literat im Land.« Matthias Hannemann / Frankfurter Allgemeine Zeitung »Der norwegische Romancier gehört zu den ganz Großen seines Landes. ... Dass auch deutschsprachige Leser:innen einen Zugang zu diesem außergewöhnlichen Romankosmos erhalten, dafür sorgt seit 2004 der Zürcher Dörlemann Verlag mit seiner verdienstvollen Solstad-Reihe, die von Ina Kronenberger übersetzt wird.« Katrin Hillgruber / Der Tagesspiegel »Dass ein Autor, dem regelmäßig großartige Kritiken, hochdotierte Preise und bedeutende Auflagen beschert werden, dass dessen Bücher in zahlreiche Sprachen, bislang aber nicht ins Deutsche übersetzt wurden - es bleibt unverständlich.« Hans-Ulrich Probst / 52 Beste Bücher, Radio SRF2 »Im Elften Roman erzählt Solstad mit trügerisch unspektakulären Mitteln eine Geschichte, die in ihrer Alltäglichkeit zunächst fast einlullend wirkt, dabei aber den Leser festhält wie der Fliegenleim das Insekt.« Kristina Maidt-Zinke / Süddeutsche Zeitung »In Skandinavien gehört der Norweger Dag Solstad schon lange zur ersten Garde der Autoren, jetzt liegt mit dem Roman Elfter Roman, achtzehntes Buch erstmals ein Werk auf Deutsch vor. Darin besticht er mit der schlichten Präzision der Sprache.« Schwäbische Zeitung