Sie ist siebzehn. Sie ist in Berlin geboren. Sie heißt Hazal Akgündüz. Eigentlich könnte aus ihr eine gewöhnliche Erwachsene werden. Nur dass ihre aus der Türkei eingewanderten Eltern sich in Deutschland fremd fühlen. Und dass Hazal auf ihrer Suche nach Heimat fatale Fehler begeht. Erst ist es nur ein geklauter Lippenstift. Dann stumpfe Gewalt. Als die Polizei hinter ihr her ist, flieht Hazal nach Istanbul, wo sie noch nie zuvor war. Warmherzig und wild erzählt Fatma Aydemir von den vielen Menschen, die zwischen den Kulturen und Nationen leben, und von ihrer Suche nach einem Platz in der Welt. Man will Hazal helfen, man will mit ihr durch die Nacht rennen, man will wissen, wie es mit ihr und mit uns allen weitergeht.
"Ein warmherziger und wilder Debütroman." Ute Wegmann, Deutschlandfunk, 05.12.17
"Aydemirs Roman will nichts erklären und keine Antworten geben, sondern nur Fragen stellen, vorzugsweise unbequeme. ... Mit 'Ellbogen' wollte die Autorin eine 'schnelle, harte Geschichte erzählen, in der alles schonungslos angeschaut wird'. Sie hat dafür eine überzeugende, klare Sprache gefunden, die ohne jeden Slangmischmasch auskommt." Nicole Henneber, Tagesspiegel, 21.04.17
"'Ellbogen' hat Wucht wie ein Tritt in die Magengrube, auch deshalb, weil es auf Ghetto-Slang-Folklore verzichtet und uns mit einer Protagonistin konfrontiert, die viel zu wütend ist, um versöhnlich zu sein." Christian Möller, WDR 5, 09.03.17
"Wie Fatma Aydemir diese Figur heraufbeschwört, das ist sensationell. Ihr genügen wenige Sätze, um Menschen zu beschreiben, Lügen zu sezieren oder Verzweiflung und Frust spürbar zu machen. Und das in einem ganz eigenen Ton. Hazal erzählt mit Witz, aber auch unterschwellig aggressiv und immer treffend. ... 'Ellbogen' trifft einen wie eine Ohrfeige zum Wachwerden. Der jungen deutschen Literatur kann das nicht schaden." Antje Deistler, Deutschlandfunk Büchermarkt, 07.02.17
"'Ellbogen' ist eine Provokation der liberalen Mehrheitsgesellschaft. ... ein Tritt in den Magen. Genauer, zwei Tritte. Einer für die misogyne türkische Gesellschaft. Und einer für die Verlogenheit der ach so liberalen Deutschen." Philipp Bovermann, Süddeutsche Zeitung, 04.02.17
"Es gibt immer wieder Momente, in denen man sich an Wolfgang Herrndorfs 'Tschick' oder an 'Scherbenpark' von Alina Bronsky erinnert fühlt. 'Ellbogen' ist das Protokoll einer Verrohung, die Aydemir auf beinahe dokumentarische Weise nachzeichnet: mit einer harten Sprache, knappen Dialogen und starken Szenen. Kein Multikulti-Idyll, auch kein cooles Metropolen-Panorama, sondern eine Mischung aus Psychogramm und bedrängender Milieustudie, die es in sich hat." Maike Albath, Deutschlandradio Kultur "Lesart", 01.02.17
"Fatma Aydemir gibt den türkischen Neukölln-Mädchen endlich eine literarische Stimme. ... Sie vermisst die engen Grenzen von Hazals Leben so genau, dass ihr Debüt für die Buchwelt werden könnte, was Fatih Akins 'Gegen die Wand' für die Filmlandschaft ist." Maren Keller, Literatur Spiegel, 2/2017
"Aydemirs Roman will nichts erklären und keine Antworten geben, sondern nur Fragen stellen, vorzugsweise unbequeme. ... Mit 'Ellbogen' wollte die Autorin eine 'schnelle, harte Geschichte erzählen, in der alles schonungslos angeschaut wird'. Sie hat dafür eine überzeugende, klare Sprache gefunden, die ohne jeden Slangmischmasch auskommt." Nicole Henneber, Tagesspiegel, 21.04.17
"'Ellbogen' hat Wucht wie ein Tritt in die Magengrube, auch deshalb, weil es auf Ghetto-Slang-Folklore verzichtet und uns mit einer Protagonistin konfrontiert, die viel zu wütend ist, um versöhnlich zu sein." Christian Möller, WDR 5, 09.03.17
"Wie Fatma Aydemir diese Figur heraufbeschwört, das ist sensationell. Ihr genügen wenige Sätze, um Menschen zu beschreiben, Lügen zu sezieren oder Verzweiflung und Frust spürbar zu machen. Und das in einem ganz eigenen Ton. Hazal erzählt mit Witz, aber auch unterschwellig aggressiv und immer treffend. ... 'Ellbogen' trifft einen wie eine Ohrfeige zum Wachwerden. Der jungen deutschen Literatur kann das nicht schaden." Antje Deistler, Deutschlandfunk Büchermarkt, 07.02.17
"'Ellbogen' ist eine Provokation der liberalen Mehrheitsgesellschaft. ... ein Tritt in den Magen. Genauer, zwei Tritte. Einer für die misogyne türkische Gesellschaft. Und einer für die Verlogenheit der ach so liberalen Deutschen." Philipp Bovermann, Süddeutsche Zeitung, 04.02.17
"Es gibt immer wieder Momente, in denen man sich an Wolfgang Herrndorfs 'Tschick' oder an 'Scherbenpark' von Alina Bronsky erinnert fühlt. 'Ellbogen' ist das Protokoll einer Verrohung, die Aydemir auf beinahe dokumentarische Weise nachzeichnet: mit einer harten Sprache, knappen Dialogen und starken Szenen. Kein Multikulti-Idyll, auch kein cooles Metropolen-Panorama, sondern eine Mischung aus Psychogramm und bedrängender Milieustudie, die es in sich hat." Maike Albath, Deutschlandradio Kultur "Lesart", 01.02.17
"Fatma Aydemir gibt den türkischen Neukölln-Mädchen endlich eine literarische Stimme. ... Sie vermisst die engen Grenzen von Hazals Leben so genau, dass ihr Debüt für die Buchwelt werden könnte, was Fatih Akins 'Gegen die Wand' für die Filmlandschaft ist." Maren Keller, Literatur Spiegel, 2/2017
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.02.2017Nur Mörderin, kein Monster
Fatma Aydemir erzählt in ihrem Debüt "Ellbogen" von der jungen wütenden Hazal, Tochter türkischer Einwanderer. Das Buch will so sehr Zeitgeschehen sein, dass alles Literarische in einen Kampf mit Schlagzeilen ziehen muss
Ein deutsch-türkisches Monster hätte Hazal werden können. Sie, 18, aus Wedding. Ein Monster, das ein Land zeigt: Deutschland. Doch Hazal ist in Seiten eingemauert, in einer Journalistenprosa geschrieben von einer Journalistin, von Fatma Aydemir. Ihr Debütroman "Ellbogen" fühlt sich so an wie eine Woche "Spiegel Online" Lesen. Ohne Pause. Alles kommt einmal vor: Kopftücher, benachteiligte Ausländer, Deutsche, die Ausländer benachteiligen, "Charlie Hebdo", der Hass auf Facebook, IS-Kämpfer und IS-Attentate, Kurden, Flüchtlinge, Silvesternacht in Köln, Neonazis, das "Berghain", Überwachungsbilder von ausländischen U-Bahn-Schlägern, ein Kätzchen und zum Schluss auch noch der Putschversuch in der Türkei.
Ja, es ist ein Headlinebuch. Dabei beginnt es ohne Headlines, beginnt mit einem Versprechen: Jemand, der echtes fremdes Deutschland kennt, schreibt echte fremde deutsche Literatur.
Es ist Hazals Geschichte - in Deutschland wurde sie geboren, die Eltern sind Türken - und sie fängt an mit einem Diebstahl. Hazal ist sieben, sie klaut einen Lippenstift, weil ihre Freundin Desiree ihn kauft. Dann diese Szene: Die Mutter von Hazal bemerkt den Lippenstift, jagt ihre Tochter mit einem Küchenmesser. ",Mit welcher Hand hast du geklaut?', brüllte sie. ,Links oder rechts?' Ich versteckte die Hände hinter meinem Rücken und schob sie in den Spalt zwischen Heizung und Fensterbrett." Aydemirs Sprache ohne Adjektive ist scharf, so schneidend, dass sie auf einmal auf die Schläfen drückt und man trotz Kopfweh mehr von dieser Sprache will.
Der Text aber stürzt in ein Präsens, es ist nicht nachvollziehbar, nicht mehr so literarisch, er stürzt in eine Art von Sätzen, die angeblich die jungen Menschen in den angeblichen Problemvierteln so sagen. Die beinah achtzehnjährige Hazal erzählt über ihr Jetzt, ihr Leben, über Wedding, die Eltern - der Vater Taxifahrer, die Mutter depressiv -, über die Freundinnen, sie heißen Elma, Gül und Ebru, und über Tante Semra, die nicht so lebt wie andere Türkinnen, sie lebt ohne einen Mann. Und während sie erzählt, muss die heranwachsende Hazal so klingen wie Heranwachsende klingen. Deshalb muss sie auch immer wieder "Opfer" sagen oder "Nutte" und Deutsche dann "Kartoffeln" nennen.
Doch grobe Worte in Romansätze zu nähen, reicht nicht, um eine Sprache einer anderen Welt, einer Generation, zu bauen. Wie das so geht, das zeigte "Axolotl Roadkill". Helene Hegemann hat ihre junge und kaputte Heldin so sprechen lassen, dass jedes Wort den Leser immer tiefer in diese andere Welt gestoßen hat. In Aydemirs Roman klingen viele Sätze aber künstlich. Besonders dann, wenn Hazal auch noch reflektieren muss. Das Mädchen denkt sehr feministische Gedanken, sie passen nicht zum Rest. Es ist vermutlich das, was Fatma Aydemir selbst denkt: Es geht um Gleichberechtigung, um Mädchen aus deutsch-türkischen Familien, die immer lernen, nur zu nicken, niemals zu sprechen über ernste Dinge. Es sind nicht die Gedanken dieses Mädchens, das Hazal sein soll. Nicht die des Mädchens, das an seinem 18. Geburtstag nachts einen Studenten an der U-Bahnhaltestelle prügelt, tötet. Nicht die des Mädchens, das alle anderen auf der Welt dafür verantwortlich macht, das es kein gutes Leben hat. Die Deutschen und die Türken.
Aydemirs Eltern sind auch aus der Türkei, sie wurde 1986 in Karlsruhe geboren und ist heute "tageszeitung"-Redakteurin. Wie Wedding ist Karlsruhe kaum, und sicher denken Wedding-Mädchen selten wie Zeitungsredakteurinnen. Deshalb sieht dieses Buch schnell aus wie einer dieser deutschen Fernsehfilme, zum Beispiel über Nazis. Die Villen und KZs sind ausgestattet, wie man so denkt, wie Villen und KZs mal ausgestattet waren. Überall ist Patina pedantisch aufgemalt, alles korrekt auf alt, auf abgenutzt oder auf glänzend und auf neu gesprüht, und trotzdem nur Kulisse, Plastik. So ist auch der Roman von Fatma Aydemir, zumindest, wenn er in Berlin-Wedding spielt. Dass der Roman da spielt, das gefällt sehr bestimmten Lesern, den satten, deutschen, aufrechten und linken.
Denn dieses so schön ausstaffierte Türkenleben in Berlin ist was Exotisches, das schaut man sich ganz gerne an: den Çay und diese Orientalen, wie sie zusammen fernsehen, die türkischen Kanäle, und dann sagt man erleichtert, laut: "Was für ein Glück, jetzt haben die Orientalen auch einmal eine Stimme." So ähnlich sagte es der letzte "Literaturspiegel", er sagte: "Aydemir gibt den türkischen Neukölln-Mädchen endlich eine literarische Stimme." Und das war zweimal falsch und halb rassistisch. Denn erst mal geht es niemals um Neukölln im Buch, es spielt in Wedding. Aber die Türken sind die Türken, und ihre Stadtteile egal, dachte man sich vielleicht als satte, deutsche, aufrechte und linke "Literaturspiegel"-Autorin. Doch wenn eine deutsch-deutsche Schriftstellerin die deutsche Heldin in Hellersdorf beschrieben hätte, hätte man Hellersdorf verwechselt, mit Mitte beispielsweise?
Es ist außerdem auch nicht sauber, zu schreiben und zu denken, dass man den armen Ausländern "endlich" mal eine "Stimme" geben müsste, als ob sie keine Stimme hätten, als ob Ausländer in Deutschland keine Romane schreiben würden. Daraus spricht nur die Überheblichkeit, der Voyeurismus, der Wunsch, in eine Orientalen-Türken-Welt hineinzuschauen wie in einen Käfig mit sehr fremden Tieren. Und deshalb sind die Menschen, die diese "Ellbogen"-Geschichte gut finden und schonungslos und rührend, schrecklicher als diese "Ellbogen"-Geschichte es selbst in Wahrheit ist.
Aydemir kann eigentlich erzählen, das sagt die erste Szene, das sagen auch noch andere, sie spielen in Istanbul. Hazal flieht vor der "Sache in Berlin", der U-Bahn-Schlägerei - die Freundinnen, die auch geprügelt haben, sitzen bald schon in Untersuchungshaft -, sie flieht vor ihren Eltern, vor deutscher Polizei in die Türkei, zu einem Freund aus ihrem Facebook: Mehmet. Dort ändert sich die Sprache wieder, und die Beobachtung. In Istanbul sind Damen in Neonsportanzügen und jüngere, die aussehen, als ob sie in der türkischen Version von "Shopping Queen" mitmachten, da ist ein onkelhafter, lockiger Verkäufer, der Russinnen für Schlampen hält. Da ist das Nicht-mehr-schlafen-Können, und da ist Mehmet, er nennt Hazal sein "Baby". In Istanbul ist Hazal eine deutsche Türkin, die sich für ihr deutsch angefärbtes Türkisch schämt.
In Istanbul hat Fatma Aydemir im letzten Jahr auch ein paar Monate gelebt. Und so erklärt sich dieses Istanbul, es ist authentisch, und diese Hazal, auch sie authentisch, denn sie muss nicht mehr künstlich "Opfer" sagen. Alles wird jetzt beschrieben ohne Plastik, wird überzeugend, tief, wird literarisch. Doch es sind Augenblicke. Dann sind sie wieder da: die Schlagzeilen, die auf den Leser einschlagen, brutal und unpoetisch. Es geht um diesen einen Terroranschlag auf den Flughafen Atatürk im Juni letzten Jahres, es geht um Islamisten. Und später sitzt der Mitbewohner Mehmets an einem Tisch und redet über Kurden und redet über Türken, die Kurden hassen, töten. Und Hazal? Auch sie denkt über Kurden nach, sie denkt in Sätzen, die nach gesichtslosen und moralistischen Artikeln klingen aus irgendwelchen Zeitungen: "Denken Menschen, die bei lebendigem Leib in ihren Kellern verbrennen, noch daran, zu beten? Und beten die, die sie verbrennen, dann zum selben Gott?" Und dann spürt Hazal selbst Gewalt, sie landet im Gesicht des Mädchens, schlägt ihr die Augenbraue auf. Es sind die Männer der Anti-Terror-Einheit Erdogans, wer sonst. Hazals Geschichte stürzt dann auch noch in diese eine Nacht im Juli letzten Jahres: Panzer. Maschinengewehre. Putsch.
Vielleicht sollte "Ellbogen" so werden wie ein Film von Fatih Akin. Hazal liebt auch diesen Akin-Film, zum ersten Mal hat sie ihn sich mit ihrer Mutter angeschaut: "Als der Abspann lief, wusste ich: Irgendwas hat ,Gegen die Wand' gerade mit mir gemacht, irgendwas ist jetzt für immer anders." Was in dem Film passiert? Es geht um Sibel, auch Tochter von Einwanderern, Hazals konservative und erdoganverliebte Mutter fasst es dann so zusammen: "Na, die heiratet irgendeinen Penner, damit sie herumhuren kann. Und die Eltern erlauben das auch noch, obwohl sie sehen, was das für ein Penner ist. Und dann auf einmal wollen sie angeblich Ehrenmord machen, und sie geht nach Istanbul, um dort mit dem Herumhuren weiterzumachen. Hallo? Wer lebt denn so? Wer von uns lebt so?" Ja, eine halbkomische, halbgute Stelle, in einem Roman, der es im Gegensatz zu Akins schmerzhaftem, ehrlichem und originellem Film nicht schafft, irgendwas für immer zu verändern.
Hazal hat keine Chance. Ein echtes Monster hätte aus ihr werden können, ein literarisches, ein starkes. Warum man solche Monster braucht? Weil die Literatur durch solche Monster lebt. Durch Helden, die man hassen kann und lieben muss, Helden, die nicht in Leitartikeln denken, die nicht das Zeitgeschehen ablaufen. Und auch, weil Deutschland solche Monster braucht. Weil so ein Monster der Literatur das Land aufschütteln könnte und die Menschen. Denn im Moment sind Deutsche und ist Deutschland zu beschäftigt mit einem schläfrigen, aufzehrenden Gefrage nach dem, was deutsch ist und was nicht. Eine Autorin wie Fatma Aydemir, die auch das fremde Leben kennt, hätte die ewig deutschen Fragen vergessen müssen, nur erzählen. Ohne die Schlagzeilen, das Plastik.
ANNA PRIZKAU
Fatma Aydemir: "Ellbogen". Hanser, 272 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fatma Aydemir erzählt in ihrem Debüt "Ellbogen" von der jungen wütenden Hazal, Tochter türkischer Einwanderer. Das Buch will so sehr Zeitgeschehen sein, dass alles Literarische in einen Kampf mit Schlagzeilen ziehen muss
Ein deutsch-türkisches Monster hätte Hazal werden können. Sie, 18, aus Wedding. Ein Monster, das ein Land zeigt: Deutschland. Doch Hazal ist in Seiten eingemauert, in einer Journalistenprosa geschrieben von einer Journalistin, von Fatma Aydemir. Ihr Debütroman "Ellbogen" fühlt sich so an wie eine Woche "Spiegel Online" Lesen. Ohne Pause. Alles kommt einmal vor: Kopftücher, benachteiligte Ausländer, Deutsche, die Ausländer benachteiligen, "Charlie Hebdo", der Hass auf Facebook, IS-Kämpfer und IS-Attentate, Kurden, Flüchtlinge, Silvesternacht in Köln, Neonazis, das "Berghain", Überwachungsbilder von ausländischen U-Bahn-Schlägern, ein Kätzchen und zum Schluss auch noch der Putschversuch in der Türkei.
Ja, es ist ein Headlinebuch. Dabei beginnt es ohne Headlines, beginnt mit einem Versprechen: Jemand, der echtes fremdes Deutschland kennt, schreibt echte fremde deutsche Literatur.
Es ist Hazals Geschichte - in Deutschland wurde sie geboren, die Eltern sind Türken - und sie fängt an mit einem Diebstahl. Hazal ist sieben, sie klaut einen Lippenstift, weil ihre Freundin Desiree ihn kauft. Dann diese Szene: Die Mutter von Hazal bemerkt den Lippenstift, jagt ihre Tochter mit einem Küchenmesser. ",Mit welcher Hand hast du geklaut?', brüllte sie. ,Links oder rechts?' Ich versteckte die Hände hinter meinem Rücken und schob sie in den Spalt zwischen Heizung und Fensterbrett." Aydemirs Sprache ohne Adjektive ist scharf, so schneidend, dass sie auf einmal auf die Schläfen drückt und man trotz Kopfweh mehr von dieser Sprache will.
Der Text aber stürzt in ein Präsens, es ist nicht nachvollziehbar, nicht mehr so literarisch, er stürzt in eine Art von Sätzen, die angeblich die jungen Menschen in den angeblichen Problemvierteln so sagen. Die beinah achtzehnjährige Hazal erzählt über ihr Jetzt, ihr Leben, über Wedding, die Eltern - der Vater Taxifahrer, die Mutter depressiv -, über die Freundinnen, sie heißen Elma, Gül und Ebru, und über Tante Semra, die nicht so lebt wie andere Türkinnen, sie lebt ohne einen Mann. Und während sie erzählt, muss die heranwachsende Hazal so klingen wie Heranwachsende klingen. Deshalb muss sie auch immer wieder "Opfer" sagen oder "Nutte" und Deutsche dann "Kartoffeln" nennen.
Doch grobe Worte in Romansätze zu nähen, reicht nicht, um eine Sprache einer anderen Welt, einer Generation, zu bauen. Wie das so geht, das zeigte "Axolotl Roadkill". Helene Hegemann hat ihre junge und kaputte Heldin so sprechen lassen, dass jedes Wort den Leser immer tiefer in diese andere Welt gestoßen hat. In Aydemirs Roman klingen viele Sätze aber künstlich. Besonders dann, wenn Hazal auch noch reflektieren muss. Das Mädchen denkt sehr feministische Gedanken, sie passen nicht zum Rest. Es ist vermutlich das, was Fatma Aydemir selbst denkt: Es geht um Gleichberechtigung, um Mädchen aus deutsch-türkischen Familien, die immer lernen, nur zu nicken, niemals zu sprechen über ernste Dinge. Es sind nicht die Gedanken dieses Mädchens, das Hazal sein soll. Nicht die des Mädchens, das an seinem 18. Geburtstag nachts einen Studenten an der U-Bahnhaltestelle prügelt, tötet. Nicht die des Mädchens, das alle anderen auf der Welt dafür verantwortlich macht, das es kein gutes Leben hat. Die Deutschen und die Türken.
Aydemirs Eltern sind auch aus der Türkei, sie wurde 1986 in Karlsruhe geboren und ist heute "tageszeitung"-Redakteurin. Wie Wedding ist Karlsruhe kaum, und sicher denken Wedding-Mädchen selten wie Zeitungsredakteurinnen. Deshalb sieht dieses Buch schnell aus wie einer dieser deutschen Fernsehfilme, zum Beispiel über Nazis. Die Villen und KZs sind ausgestattet, wie man so denkt, wie Villen und KZs mal ausgestattet waren. Überall ist Patina pedantisch aufgemalt, alles korrekt auf alt, auf abgenutzt oder auf glänzend und auf neu gesprüht, und trotzdem nur Kulisse, Plastik. So ist auch der Roman von Fatma Aydemir, zumindest, wenn er in Berlin-Wedding spielt. Dass der Roman da spielt, das gefällt sehr bestimmten Lesern, den satten, deutschen, aufrechten und linken.
Denn dieses so schön ausstaffierte Türkenleben in Berlin ist was Exotisches, das schaut man sich ganz gerne an: den Çay und diese Orientalen, wie sie zusammen fernsehen, die türkischen Kanäle, und dann sagt man erleichtert, laut: "Was für ein Glück, jetzt haben die Orientalen auch einmal eine Stimme." So ähnlich sagte es der letzte "Literaturspiegel", er sagte: "Aydemir gibt den türkischen Neukölln-Mädchen endlich eine literarische Stimme." Und das war zweimal falsch und halb rassistisch. Denn erst mal geht es niemals um Neukölln im Buch, es spielt in Wedding. Aber die Türken sind die Türken, und ihre Stadtteile egal, dachte man sich vielleicht als satte, deutsche, aufrechte und linke "Literaturspiegel"-Autorin. Doch wenn eine deutsch-deutsche Schriftstellerin die deutsche Heldin in Hellersdorf beschrieben hätte, hätte man Hellersdorf verwechselt, mit Mitte beispielsweise?
Es ist außerdem auch nicht sauber, zu schreiben und zu denken, dass man den armen Ausländern "endlich" mal eine "Stimme" geben müsste, als ob sie keine Stimme hätten, als ob Ausländer in Deutschland keine Romane schreiben würden. Daraus spricht nur die Überheblichkeit, der Voyeurismus, der Wunsch, in eine Orientalen-Türken-Welt hineinzuschauen wie in einen Käfig mit sehr fremden Tieren. Und deshalb sind die Menschen, die diese "Ellbogen"-Geschichte gut finden und schonungslos und rührend, schrecklicher als diese "Ellbogen"-Geschichte es selbst in Wahrheit ist.
Aydemir kann eigentlich erzählen, das sagt die erste Szene, das sagen auch noch andere, sie spielen in Istanbul. Hazal flieht vor der "Sache in Berlin", der U-Bahn-Schlägerei - die Freundinnen, die auch geprügelt haben, sitzen bald schon in Untersuchungshaft -, sie flieht vor ihren Eltern, vor deutscher Polizei in die Türkei, zu einem Freund aus ihrem Facebook: Mehmet. Dort ändert sich die Sprache wieder, und die Beobachtung. In Istanbul sind Damen in Neonsportanzügen und jüngere, die aussehen, als ob sie in der türkischen Version von "Shopping Queen" mitmachten, da ist ein onkelhafter, lockiger Verkäufer, der Russinnen für Schlampen hält. Da ist das Nicht-mehr-schlafen-Können, und da ist Mehmet, er nennt Hazal sein "Baby". In Istanbul ist Hazal eine deutsche Türkin, die sich für ihr deutsch angefärbtes Türkisch schämt.
In Istanbul hat Fatma Aydemir im letzten Jahr auch ein paar Monate gelebt. Und so erklärt sich dieses Istanbul, es ist authentisch, und diese Hazal, auch sie authentisch, denn sie muss nicht mehr künstlich "Opfer" sagen. Alles wird jetzt beschrieben ohne Plastik, wird überzeugend, tief, wird literarisch. Doch es sind Augenblicke. Dann sind sie wieder da: die Schlagzeilen, die auf den Leser einschlagen, brutal und unpoetisch. Es geht um diesen einen Terroranschlag auf den Flughafen Atatürk im Juni letzten Jahres, es geht um Islamisten. Und später sitzt der Mitbewohner Mehmets an einem Tisch und redet über Kurden und redet über Türken, die Kurden hassen, töten. Und Hazal? Auch sie denkt über Kurden nach, sie denkt in Sätzen, die nach gesichtslosen und moralistischen Artikeln klingen aus irgendwelchen Zeitungen: "Denken Menschen, die bei lebendigem Leib in ihren Kellern verbrennen, noch daran, zu beten? Und beten die, die sie verbrennen, dann zum selben Gott?" Und dann spürt Hazal selbst Gewalt, sie landet im Gesicht des Mädchens, schlägt ihr die Augenbraue auf. Es sind die Männer der Anti-Terror-Einheit Erdogans, wer sonst. Hazals Geschichte stürzt dann auch noch in diese eine Nacht im Juli letzten Jahres: Panzer. Maschinengewehre. Putsch.
Vielleicht sollte "Ellbogen" so werden wie ein Film von Fatih Akin. Hazal liebt auch diesen Akin-Film, zum ersten Mal hat sie ihn sich mit ihrer Mutter angeschaut: "Als der Abspann lief, wusste ich: Irgendwas hat ,Gegen die Wand' gerade mit mir gemacht, irgendwas ist jetzt für immer anders." Was in dem Film passiert? Es geht um Sibel, auch Tochter von Einwanderern, Hazals konservative und erdoganverliebte Mutter fasst es dann so zusammen: "Na, die heiratet irgendeinen Penner, damit sie herumhuren kann. Und die Eltern erlauben das auch noch, obwohl sie sehen, was das für ein Penner ist. Und dann auf einmal wollen sie angeblich Ehrenmord machen, und sie geht nach Istanbul, um dort mit dem Herumhuren weiterzumachen. Hallo? Wer lebt denn so? Wer von uns lebt so?" Ja, eine halbkomische, halbgute Stelle, in einem Roman, der es im Gegensatz zu Akins schmerzhaftem, ehrlichem und originellem Film nicht schafft, irgendwas für immer zu verändern.
Hazal hat keine Chance. Ein echtes Monster hätte aus ihr werden können, ein literarisches, ein starkes. Warum man solche Monster braucht? Weil die Literatur durch solche Monster lebt. Durch Helden, die man hassen kann und lieben muss, Helden, die nicht in Leitartikeln denken, die nicht das Zeitgeschehen ablaufen. Und auch, weil Deutschland solche Monster braucht. Weil so ein Monster der Literatur das Land aufschütteln könnte und die Menschen. Denn im Moment sind Deutsche und ist Deutschland zu beschäftigt mit einem schläfrigen, aufzehrenden Gefrage nach dem, was deutsch ist und was nicht. Eine Autorin wie Fatma Aydemir, die auch das fremde Leben kennt, hätte die ewig deutschen Fragen vergessen müssen, nur erzählen. Ohne die Schlagzeilen, das Plastik.
ANNA PRIZKAU
Fatma Aydemir: "Ellbogen". Hanser, 272 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.02.2017Diese Wut gehört ihr
In ihrem Debüt „Ellbogen“ erzählt Fatma Aydemir von einer jungen Deutschtürkin, die einen Menschen tötet – und das nicht bereut
„Migrationshintergrund“, so was sagen nur „Opfer“, Menschen mit Abitur, die fettige Haare haben. Hazal hat aufgehört, an das Gelaber ihrer Lehrer zu glauben. Doch an das Leben ihrer türkischen Gastarbeiter-Eltern glaubt sie auch nicht: Brav in einem Friseursalon Haare zusammenfegen, „irgendwann den Sohn irgendeines beschissenen Nachbarn heiraten und mich mit Goldschmuck behängen lassen.“
Am wenigsten glaubt Hazal an sich selbst. Das ändert sich im Verlauf von „Ellbogen“. Doch die Art und Weise, wie der Debütroman von Fatma Aydemir diese Selbstfindung erzählt, enthält jede Menge Sprengstoff. Ausgerechnet in der Nacht, in der sie volljährig, erwachsen, mündig wird, tötet Hazal einen Menschen – und weigert sich anschließend, die Tat zu bereuen. Sie will kein „Opfer“ mehr sein. Dann lieber Täter.
„Ellbogen“ ist eine Provokation der liberalen Mehrheitsgesellschaft, die Autorin muss es wissen. Fatma Aydemir, geboren 1986 in Karlsruhe, lebt als taz-Redakteurin in Berlin. In einer Kolumne schilderte sie neulich den Wunsch, den AfD-Politiker Björn Höcke einen „Hurensohn“ zu nennen, aber „das geht natürlich nicht, das ist falsch“. Sie schreibt: „Dass das stärkste Schimpfwort, das ich einem Nazi entgegenkeifen möchte, eines ist, das Frauen und insbesondere Sexarbeiter*innen abwertet, sagt viel über unsere Welt aus.“
Hazal und ihre beiden Freundinnen haben hingegen keinerlei Probleme, den „Penis Power Talk“, wie Aydemir ihn in der Kolumne nennt, mitzumachen. „Fluchtis“ sind für Gül „voll pervers“, obwohl Selmas Mutter selbst vor dem Krieg in Bosnien geflohen ist, und zum Leben fällt Hazal ein, dem gehöre mal „ordentlich die Mutter gefickt“. Und dann ist da natürlich noch diese Sache, als sie in der Nacht von Hazals achtzehntem Geburtstag vom Türsteher nicht in den Club gelassen werden und auf dem zerknirschten Heimweg dieser beschissen grinsende Student in der U 6 an der Bahnsteigkante steht. Nie sehen wir Hazal deutlicher vor uns, als wenn sie uns von den Aufnahmen der Überwachungskamera entgegengrinst.
Von diesem Punkt an müsste eigentlich alles den Bach runtergehen, aber Fatma Aydemir lässt ihre Protagonistin davonkommen, anstatt den zivilgesellschaftlich gesegneten Mistkübel über ihr auszuschütten. Hazal flieht nach Istanbul. Sie bereut ihre Tat nicht. Sie wird sagen, sie habe sich das erste Mal gefühlt, „als sei nicht schon jeder Stein auf meinem Weg vorherbestimmt“.
Ein Haufen klassischer Romane erzählt davon, wie ein Verbrechen zum Initialschuss einer selbstverantwortlichen Subjektivität wird. Üblicherweise stellt sich der Held souverän den Konsequenzen seiner Tat. Er lässt sich die Tat zwar nicht nehmen, bestätigt damit aber die prinzipielle Wirksamkeit des Rechts, dem er trotzt. Eine Win-win-Situation für Gesetz und Delinquent. Genau das macht Hazal nicht. Sie liefert zwar eine Menge Erklärungen („Weil solche Typen herumrennen und denken, die Welt gehört ihnen“), aber die Erzählerin Aydemir sät geschickt Zweifel, wie ernst es Hazal damit ist. Sie scheint selbst nicht so genau zu wissen, warum sie es getan hat. Und es ist ihr auch egal. Sie will nicht beichten.
So erlebt sie nämlich den deutschen Staat, als einen süßholzraspelnden Inquisitor. Sie wird in der ersten Szene im Supermarkt beim Klauen erwischt, der Ladendetektiv nimmt sie in die Mangel. Genüsslich erzählt er ihr was von Abschiebung. Erst als Hazal weint und ihm von ihren superstrengen türkischen Eltern vorschluchzt, von ihrem Vater, der sie schlägt, lässt er sie gehen. Vorher kassiert er noch eine „Fangprämie“. Hazal sagt: „Der Typ zieht mich ab und kommt sich vor wie ein Sozialarbeiter. Er hält mir noch eine Moralpredigt, aber da höre ich schon nicht mehr zu und überlege, wo ich schnellstens Geld herbekomme.“
Diese Hazal, die lügt, um zu überleben, die sich selbst fremd bleibt, steht uns als Protagonistin einer Milieustudie nur aus spöttischer Distanz zur Verfügung, um ein bisschen über ihre schmuddelige Welt im Wedding zu erzählen. Von den Serien ihrer Eltern, in denen Erdoğan „die Titten verboten“ hat. Von ihrem Vater, der sie schlägt. Das ganze „Türkending“ kommt ihr vor „wie ein schlechter deutscher Film“. Doch kurz nach der Episode mit dem Ladendetektiv sagt Hazal: „Ich habe nicht das weinende türkische Mädchen gespielt, das Angst vor seinen Eltern hat, vor der Abschiebung, vor sich selbst. Dieses Mädchen, das bin ich.“
Istanbul soll nun das wahre Leben sein, aber sie kennt die Stadt nur aus Erzählungen und von Werbeplakaten: Istanbul, Stadt der Träume. Dort erlebt sie eine neue, eine für sie gewissermaßen komplementäre Fremde. In den überall gegenwärtigen Blicken der Männer. Und in der Atmosphäre einer Politisierung, denn Hazal kommt kurz vor dem Putschversuch des Militärs am Bosporus an. Irgendwie gehört sie dort hinein, ein menschlicher Sonderfall zum Ausnahmezustand.
Fatma Aydemirs doppelbödige Sprache der Lüge ist eine völlig andere als die von Feridun Zaimoglu, der 1995 mit „Kanak Sprak“ das Wort „Kanake“ literaturfähig gemacht hat. Ihm ging es darum, eine wahrhaftige, eine angemessene Sprache für den „Kosmos von Kanakistan“ zu schaffen: Rau, schnell, atemlos verhackstückt, ein migrationsdeutsches Esperanto, vollgesogen mit Neuköllner Lebenswirklichkeit. Für Zaimoglu verband sich damit die Hoffnung, etwas der Black Consciousness-Bewegung Analoges zu schaffen.
Zwei Jahrzehnte später ist die Hoffnung passé, das sprachliche Experiment abgeblasen, der literarische Ernstfall eingetroffen. Hazal macht klare Ansagen, Aydemir schreibt klare Sätze. Wir kommen der Protagonistin nahe, ganz ohne Zaimoglus stilistische Dönerisierung, aber eine knochenharte Schicht Wut trennt uns von ihr. „Was soll denn daran unklar sein?“, fragt Hazal herausfordernd und zitiert ein Wort, das sie aus Zeitungen kennt. „Wir hatten Streitlust, wir hassen deutsche Studenten.“
Dafür wird diese Heldin keine Reue zeigen. Hazal tut etwas, was für türkische Mädchen nicht vorgesehen ist. Sie trifft eigene Entscheidungen, auch wenn es die falschen sind. „Ellbogen“ ist ein Tritt in den Magen. Genauer, zwei Tritte. Einer für die misogyne türkische Gesellschaft. Und einer für die Verlogenheit der ach so liberalen Deutschen. Hazal sagt über den Ladendetektiv, der sie drangsaliert hat: „Dieser Hurensohn wollte mich nur betteln sehen.“
PHILIPP BOVERMANN
Fatma Aydemir: Ellbogen. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2017. 272 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Ich habe nicht
das weinende türkische
Mädchen gespielt, das
Angst vor seinen Eltern hat,
vor der Abschiebung,
vor sich selbst. Dieses
Mädchen, das bin ich.“
ICH-ERZÄHLERIN HAZAL IM ROMAN
Den deutschen Staat erlebt
die Protagonistin Hazal als
süßholzraspelnden Inquisitor
Diese Heldin zeigt keine Reue.
Sie trifft ihre Entscheidungen,
auch wenn es die falschen sind
Journalistin, taz-Redakteurin und nun Romanautorin: Fatma Aydemir.
Foto: Bradley Secker
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In ihrem Debüt „Ellbogen“ erzählt Fatma Aydemir von einer jungen Deutschtürkin, die einen Menschen tötet – und das nicht bereut
„Migrationshintergrund“, so was sagen nur „Opfer“, Menschen mit Abitur, die fettige Haare haben. Hazal hat aufgehört, an das Gelaber ihrer Lehrer zu glauben. Doch an das Leben ihrer türkischen Gastarbeiter-Eltern glaubt sie auch nicht: Brav in einem Friseursalon Haare zusammenfegen, „irgendwann den Sohn irgendeines beschissenen Nachbarn heiraten und mich mit Goldschmuck behängen lassen.“
Am wenigsten glaubt Hazal an sich selbst. Das ändert sich im Verlauf von „Ellbogen“. Doch die Art und Weise, wie der Debütroman von Fatma Aydemir diese Selbstfindung erzählt, enthält jede Menge Sprengstoff. Ausgerechnet in der Nacht, in der sie volljährig, erwachsen, mündig wird, tötet Hazal einen Menschen – und weigert sich anschließend, die Tat zu bereuen. Sie will kein „Opfer“ mehr sein. Dann lieber Täter.
„Ellbogen“ ist eine Provokation der liberalen Mehrheitsgesellschaft, die Autorin muss es wissen. Fatma Aydemir, geboren 1986 in Karlsruhe, lebt als taz-Redakteurin in Berlin. In einer Kolumne schilderte sie neulich den Wunsch, den AfD-Politiker Björn Höcke einen „Hurensohn“ zu nennen, aber „das geht natürlich nicht, das ist falsch“. Sie schreibt: „Dass das stärkste Schimpfwort, das ich einem Nazi entgegenkeifen möchte, eines ist, das Frauen und insbesondere Sexarbeiter*innen abwertet, sagt viel über unsere Welt aus.“
Hazal und ihre beiden Freundinnen haben hingegen keinerlei Probleme, den „Penis Power Talk“, wie Aydemir ihn in der Kolumne nennt, mitzumachen. „Fluchtis“ sind für Gül „voll pervers“, obwohl Selmas Mutter selbst vor dem Krieg in Bosnien geflohen ist, und zum Leben fällt Hazal ein, dem gehöre mal „ordentlich die Mutter gefickt“. Und dann ist da natürlich noch diese Sache, als sie in der Nacht von Hazals achtzehntem Geburtstag vom Türsteher nicht in den Club gelassen werden und auf dem zerknirschten Heimweg dieser beschissen grinsende Student in der U 6 an der Bahnsteigkante steht. Nie sehen wir Hazal deutlicher vor uns, als wenn sie uns von den Aufnahmen der Überwachungskamera entgegengrinst.
Von diesem Punkt an müsste eigentlich alles den Bach runtergehen, aber Fatma Aydemir lässt ihre Protagonistin davonkommen, anstatt den zivilgesellschaftlich gesegneten Mistkübel über ihr auszuschütten. Hazal flieht nach Istanbul. Sie bereut ihre Tat nicht. Sie wird sagen, sie habe sich das erste Mal gefühlt, „als sei nicht schon jeder Stein auf meinem Weg vorherbestimmt“.
Ein Haufen klassischer Romane erzählt davon, wie ein Verbrechen zum Initialschuss einer selbstverantwortlichen Subjektivität wird. Üblicherweise stellt sich der Held souverän den Konsequenzen seiner Tat. Er lässt sich die Tat zwar nicht nehmen, bestätigt damit aber die prinzipielle Wirksamkeit des Rechts, dem er trotzt. Eine Win-win-Situation für Gesetz und Delinquent. Genau das macht Hazal nicht. Sie liefert zwar eine Menge Erklärungen („Weil solche Typen herumrennen und denken, die Welt gehört ihnen“), aber die Erzählerin Aydemir sät geschickt Zweifel, wie ernst es Hazal damit ist. Sie scheint selbst nicht so genau zu wissen, warum sie es getan hat. Und es ist ihr auch egal. Sie will nicht beichten.
So erlebt sie nämlich den deutschen Staat, als einen süßholzraspelnden Inquisitor. Sie wird in der ersten Szene im Supermarkt beim Klauen erwischt, der Ladendetektiv nimmt sie in die Mangel. Genüsslich erzählt er ihr was von Abschiebung. Erst als Hazal weint und ihm von ihren superstrengen türkischen Eltern vorschluchzt, von ihrem Vater, der sie schlägt, lässt er sie gehen. Vorher kassiert er noch eine „Fangprämie“. Hazal sagt: „Der Typ zieht mich ab und kommt sich vor wie ein Sozialarbeiter. Er hält mir noch eine Moralpredigt, aber da höre ich schon nicht mehr zu und überlege, wo ich schnellstens Geld herbekomme.“
Diese Hazal, die lügt, um zu überleben, die sich selbst fremd bleibt, steht uns als Protagonistin einer Milieustudie nur aus spöttischer Distanz zur Verfügung, um ein bisschen über ihre schmuddelige Welt im Wedding zu erzählen. Von den Serien ihrer Eltern, in denen Erdoğan „die Titten verboten“ hat. Von ihrem Vater, der sie schlägt. Das ganze „Türkending“ kommt ihr vor „wie ein schlechter deutscher Film“. Doch kurz nach der Episode mit dem Ladendetektiv sagt Hazal: „Ich habe nicht das weinende türkische Mädchen gespielt, das Angst vor seinen Eltern hat, vor der Abschiebung, vor sich selbst. Dieses Mädchen, das bin ich.“
Istanbul soll nun das wahre Leben sein, aber sie kennt die Stadt nur aus Erzählungen und von Werbeplakaten: Istanbul, Stadt der Träume. Dort erlebt sie eine neue, eine für sie gewissermaßen komplementäre Fremde. In den überall gegenwärtigen Blicken der Männer. Und in der Atmosphäre einer Politisierung, denn Hazal kommt kurz vor dem Putschversuch des Militärs am Bosporus an. Irgendwie gehört sie dort hinein, ein menschlicher Sonderfall zum Ausnahmezustand.
Fatma Aydemirs doppelbödige Sprache der Lüge ist eine völlig andere als die von Feridun Zaimoglu, der 1995 mit „Kanak Sprak“ das Wort „Kanake“ literaturfähig gemacht hat. Ihm ging es darum, eine wahrhaftige, eine angemessene Sprache für den „Kosmos von Kanakistan“ zu schaffen: Rau, schnell, atemlos verhackstückt, ein migrationsdeutsches Esperanto, vollgesogen mit Neuköllner Lebenswirklichkeit. Für Zaimoglu verband sich damit die Hoffnung, etwas der Black Consciousness-Bewegung Analoges zu schaffen.
Zwei Jahrzehnte später ist die Hoffnung passé, das sprachliche Experiment abgeblasen, der literarische Ernstfall eingetroffen. Hazal macht klare Ansagen, Aydemir schreibt klare Sätze. Wir kommen der Protagonistin nahe, ganz ohne Zaimoglus stilistische Dönerisierung, aber eine knochenharte Schicht Wut trennt uns von ihr. „Was soll denn daran unklar sein?“, fragt Hazal herausfordernd und zitiert ein Wort, das sie aus Zeitungen kennt. „Wir hatten Streitlust, wir hassen deutsche Studenten.“
Dafür wird diese Heldin keine Reue zeigen. Hazal tut etwas, was für türkische Mädchen nicht vorgesehen ist. Sie trifft eigene Entscheidungen, auch wenn es die falschen sind. „Ellbogen“ ist ein Tritt in den Magen. Genauer, zwei Tritte. Einer für die misogyne türkische Gesellschaft. Und einer für die Verlogenheit der ach so liberalen Deutschen. Hazal sagt über den Ladendetektiv, der sie drangsaliert hat: „Dieser Hurensohn wollte mich nur betteln sehen.“
PHILIPP BOVERMANN
Fatma Aydemir: Ellbogen. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2017. 272 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Ich habe nicht
das weinende türkische
Mädchen gespielt, das
Angst vor seinen Eltern hat,
vor der Abschiebung,
vor sich selbst. Dieses
Mädchen, das bin ich.“
ICH-ERZÄHLERIN HAZAL IM ROMAN
Den deutschen Staat erlebt
die Protagonistin Hazal als
süßholzraspelnden Inquisitor
Diese Heldin zeigt keine Reue.
Sie trifft ihre Entscheidungen,
auch wenn es die falschen sind
Journalistin, taz-Redakteurin und nun Romanautorin: Fatma Aydemir.
Foto: Bradley Secker
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