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  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Philosophische Untersuchungen 5
  • Verlag: Mohr Siebeck
  • 1998.
  • Seitenzahl: 328
  • Deutsch
  • Abmessung: 235mm x 165mm x 20mm
  • Gewicht: 530g
  • ISBN-13: 9783161468711
  • ISBN-10: 3161468716
  • Artikelnr.: 07478168
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.1998

Wo kein Konsens ist, hilft der Kontext nicht
Sondern nur Argumentation und Entscheidung: Im Streit um die Abtreibung gibt es keinen Mittelweg

Das Urteil unseres Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1993, in dem die derzeit geltende Regelung des Schwangerschaftsabbruchs abgesegnet wurde, ist und bleibt in seinen argumentativen Brüchen und Ungereimtheiten eine einzige Katastrophe. Es trifft zwar zu, daß eine Bestrafungsregelung der Abtreibung das ungeborene Leben in der Realität nicht sehr wirksam schützen kann. Ist schon deshalb aber der Schutz während der ersten zwölf Schwangerschaftswochen durch eine Fristenregelung mit Beratungspflicht wirksamer - und zwar wirksamer auch als eine konsequente, nicht bloß halbherzige Bestrafungsregelung? Was spricht dafür, daß eine Bestrafungsregelung zwar nicht bezogen auf die Frühabtreibung, wohl aber bezogen auf die Abtreibung von Beginn der dreizehnten Schwangerschaftswoche an als die überlegene Alternative zu betrachten ist? Wird zwar nicht die im zweiten Monat Schwangere, die vor Abschluß ihrer Ausbildung nicht Mutter werden möchte, durch eine Strafandrohung in ihrer Abtreibungsentscheidung wesentlich beeinflußt, wohl aber die im vierten Monat Schwangere, die soeben von ihrem Verlobten verlassen wurde?

Was ist dadurch gewonnen, daß auch die Frühabtreibung, obgleich straflos, nach wie vor als rechtswidrig bezeichnet werden muß? Ist es nicht eine massive Heuchelei, wenn diese "rechtswidrige" Abtreibung nicht nur straflos bleibt, sondern selbst im Vorfeld ihrer Ausführung von niemandem, ob Bürger oder Polizist, auch gegen den Willen der Schwangeren und ihres Arztes, die den Rechtsbruch planen, verhindert werden darf? Ist es unter diesen Umständen nicht in hohem Maß verlogen, wenn unsere Politiker und Rechtsgelehrten jedem einzelnen Ungeborenen von Beginn seiner Existenz an dasselbe Recht auf Leben, das den Geborenen zusteht, als selbstverständlich zusprechen und gleichzeitig auf jene Ethiker, die dies, gestützt auf Argumente, offen ablehnen, mit moralischer Entrüstung reagieren? Birgt es nicht durchaus Gefahren für unerwünschte Minderheiten unter den Geborenen, wenn das wichtigste aller individuellen Rechte, das Menschenrecht auf Leben, von staatlichen Organen je nach Bedarf entweder ernstgenommen oder als Lippenbekenntnis zum Zweck der Täuschung und Beschwichtigung bloß proklamiert wird?

Auf diesem Hintergrund ist die ethisch-philosophische Frage nach dem der Sache angemessenen Beginn des Lebensrechts von allergrößter praktischer Bedeutung. Die vorliegende, auf eine Dissertation zurückgehende Untersuchung dieser Frage hinterläßt jedoch einen recht zwiespältigen Eindruck. Einerseits werden die einschlägigen Argumente aus dem Bereich der angewandten Ethik durchaus kompetent erfaßt und dargestellt. Andererseits aber werden bei der kritischen Erörterung der unterschiedlichen Positionen zum Lebensrecht die entscheidenden Alternativen auf ihre grundlegenden Voraussetzungen hin nicht ausreichend verglichen und geprüft. So kommt die Autorin zu dem sehr merkwürdigen Ergebnis, daß die Frage nach dem angemessenen Status beziehungsweise Lebensrecht der Leibesfrucht bei näherer Betrachtung für die praktische Problemlösung deshalb ungeeignet ist, weil sie derzeit im allgemeinen Konsens der Gesellschaft nicht entscheidbar ist.

Hier übersieht Kaminsky insbesondere, daß es auch innerhalb der angewandten Ethik Punkte gibt, an denen die Weichenstellung nicht von irgendwelchen moralischen Alltagssituationen, sondern von einer philosophischen Stellungnahme zu den fundamentalen Begründungsfragen jeder Ethik abhängt. So kommt es jedenfalls für die Frage nach dem Status der Leibesfrucht entscheidend auf die folgende Alternative an: Ist das Lebensrecht des Menschen angelegt in einem absolut geltenden Natur- oder Vernunftsrecht, das dem Menschen vorgegeben und erkennbar ist sowie in dieser Deutung auch die Leibesfrucht erfaßt? Oder kann dieses Lebensrecht bei realistischer Betrachtung nur als soziales Instrument zum Schutz des elementaren Interesses, das personale Wesen an ihrem Überleben haben, verstanden werden? Zwar gibt es auch auf diese Fragen nach der Grundlage des Lebensrechts unter heutigen Philosophen keine einheitliche Antwort. Dies allein ist aber sicherlich kein Grund, ihnen im Rahmen einer angewandten Ethik auszuweichen.

Recht hat Kaminsky zweifellos mit der Behauptung, daß die Lösung sämtlicher Probleme im Umgang mit dem Embryo beziehungsweise Fötus - von der Abtreibung über die Embryonenforschung bis zur medizinischen Nutzung fötaler Organe - sich aus der Prämisse zum Beginn des Lebensrechts nicht ohne alle weiteren Überlegungen schon deduzieren läßt. Wie etwa die Notwehrregelung unseres Strafrechts zeigt, wird durch das Lebensrecht nicht jede Tötung automatisch zu verbotenem Tun. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, die mit dem Lebensrecht zu vereinbarenden Eingriffe seien losgelöst von allen rechtsethischen Prinzipien im Wege intuitiver Plausibilität jeweils ad hoc bestimmbar. Ein solches von der Autorin empfohlenes Verfahren der "lebensweltlichen Konkretheit", der "konkreten Kontextualität" und der "situativ vermittelten Richtigkeit" macht jede Rechtsethik zum bloßen Spielball der öffentlichen Meinung und ihrer allzu häufigen inneren Widersprüche. Die Grundrechte unserer Verfassung und die ihnen immanenten Werte sollten nicht als Sonntagsredenstoff mißverstanden werden. NORBERT HOERSTER

Carmen Kaminsky: "Embryonen, Ethik und Verantwortung". Eine kritische Analyse der Statusdiskussion als Problemlösungsansatz angewandter Ethik. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 1998. 328 S., br., 84,- DM.

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