»Was für eine Sprache! Mariam Kühsel-Hussaini beherrscht die Kunst des federleichten Erzählens mit unerhörten Wortkombinationen. Das ist es, was wir von der Literatur wollen.« Elke Heidenreich, DIE ZEIT, zu »Tschudi«
Es ist kein dunkler Traum, es ist Deutschland 1933. Emil Cioran, rumänischer Stipendiat der Philosophie, manifestiert in Berlin seinen Glauben an den Selbstmord. Rudolf Diels, erster Chef von Hitlers Gestapo, will Deutschland vor dem eigenen Selbstmord bewahren. Doch schon bald blicken beide in einen gemeinsamen Abgrund, denn sie passen sich nicht an.
1933, es ist die Stunde Hitlers. Emil Cioran kommt nach Berlin, um gegen die Philosophie zu rebellieren. Er träumt vom Tod und er will der Erste sein, der keine Lügen mehr erweckt. Rudolf Diels, der Chef der Geheimpolizei, will Deutschland dienen, doch einzig und allein dem Rechtsstaat und seinem Strafanspruch. Frontal zum ganzen Puls dieses brennenden Augenblicks, entfalten sich ihre Persönlichkeiten:Cioran ersehnt Unsterblichkeit, Diels erhält auf dem Obersalzberg einen Mordbefehl von Hitler. Im Wettlauf mit der Zeit, von ihr paralysiert und gejagt - getrieben von ihren großen Wünschen, umgeben von menschlichen Dämonen - beginnen Emil Cioran und Rudolf Diels ihre Aufgabe zu ihrem Schicksal zu machen.
»Was für eine Sprache! Mariam Kühsel-Hussaini beherrscht die Kunst des federleichten Erzählens mit unerhörten Wortkombinationen. Das ist es, was wir von der Literatur wollen.« Elke Heidenreich, DIE ZEIT, zu »Tschudi«
»Es ist vor allem die Erzähltemperatur, die dieses Buch zu einem Ereignis macht. Die deutsche Sprache wird so lange durchgeschüttelt, bis sie aufwacht und Dinge sagt, die so neu, wild und impressionistisch sind wie ihr Gegenstand. Die Sprache macht ihre Loopings im Luftraum eines in der aktuellen deutschen Literatur sonst sorgsam vermiedenen Pathos. Manchmal springt man beim Lesen ungläubig einen Satz zurück ... Kühsel-Hussaini schattiert, umhaucht, umtupft -- Tschudi ist auch ein großer politischer Roman über Deutschland und das, was hätte werden können.« Niklas Maak, FAZ, zu »Tschudi«
»In verführerischem, treibendem Rhythmus erzählt die Schriftstellerin darin von dem Museumsdirektor, der den Impressionismus nach Deutschland brachte. Fasziniert, ja: elektrisiert habe ich diesen Roman verschlungen.« Alexander Jürgs, faz.net, zu »Tschudi«
»Ein ansteckend-begeisternder Roman.« Paul Stoop, Deutschlandfunk, zu »Tschudi«
»Ein ganz starkes Buch. So virtuos geschrieben, so informativ, so anschaulich, so unterhaltend, so fesselnd. Ein Roman für den Geist und das Gefühl gleichermaßen.« Frank Statzner, Hessischer Rundfunk zu »Tschudi«
»Mariam Kühsel-Hussaini giesst den Visionär Tschudi und seine Epoche in ein federleichtes, schillerndes, expressives und immer eigenwilliges Deutsch. Jedes Kapitel ein Bild, doch nichts steht still. Ein Berlin-Roman, wie man ihn noch nicht gelesen hat.« Martina Läubli, NZZ am Sonntag zu »Tschudi«
Es ist kein dunkler Traum, es ist Deutschland 1933. Emil Cioran, rumänischer Stipendiat der Philosophie, manifestiert in Berlin seinen Glauben an den Selbstmord. Rudolf Diels, erster Chef von Hitlers Gestapo, will Deutschland vor dem eigenen Selbstmord bewahren. Doch schon bald blicken beide in einen gemeinsamen Abgrund, denn sie passen sich nicht an.
1933, es ist die Stunde Hitlers. Emil Cioran kommt nach Berlin, um gegen die Philosophie zu rebellieren. Er träumt vom Tod und er will der Erste sein, der keine Lügen mehr erweckt. Rudolf Diels, der Chef der Geheimpolizei, will Deutschland dienen, doch einzig und allein dem Rechtsstaat und seinem Strafanspruch. Frontal zum ganzen Puls dieses brennenden Augenblicks, entfalten sich ihre Persönlichkeiten:Cioran ersehnt Unsterblichkeit, Diels erhält auf dem Obersalzberg einen Mordbefehl von Hitler. Im Wettlauf mit der Zeit, von ihr paralysiert und gejagt - getrieben von ihren großen Wünschen, umgeben von menschlichen Dämonen - beginnen Emil Cioran und Rudolf Diels ihre Aufgabe zu ihrem Schicksal zu machen.
»Was für eine Sprache! Mariam Kühsel-Hussaini beherrscht die Kunst des federleichten Erzählens mit unerhörten Wortkombinationen. Das ist es, was wir von der Literatur wollen.« Elke Heidenreich, DIE ZEIT, zu »Tschudi«
»Es ist vor allem die Erzähltemperatur, die dieses Buch zu einem Ereignis macht. Die deutsche Sprache wird so lange durchgeschüttelt, bis sie aufwacht und Dinge sagt, die so neu, wild und impressionistisch sind wie ihr Gegenstand. Die Sprache macht ihre Loopings im Luftraum eines in der aktuellen deutschen Literatur sonst sorgsam vermiedenen Pathos. Manchmal springt man beim Lesen ungläubig einen Satz zurück ... Kühsel-Hussaini schattiert, umhaucht, umtupft -- Tschudi ist auch ein großer politischer Roman über Deutschland und das, was hätte werden können.« Niklas Maak, FAZ, zu »Tschudi«
»In verführerischem, treibendem Rhythmus erzählt die Schriftstellerin darin von dem Museumsdirektor, der den Impressionismus nach Deutschland brachte. Fasziniert, ja: elektrisiert habe ich diesen Roman verschlungen.« Alexander Jürgs, faz.net, zu »Tschudi«
»Ein ansteckend-begeisternder Roman.« Paul Stoop, Deutschlandfunk, zu »Tschudi«
»Ein ganz starkes Buch. So virtuos geschrieben, so informativ, so anschaulich, so unterhaltend, so fesselnd. Ein Roman für den Geist und das Gefühl gleichermaßen.« Frank Statzner, Hessischer Rundfunk zu »Tschudi«
»Mariam Kühsel-Hussaini giesst den Visionär Tschudi und seine Epoche in ein federleichtes, schillerndes, expressives und immer eigenwilliges Deutsch. Jedes Kapitel ein Bild, doch nichts steht still. Ein Berlin-Roman, wie man ihn noch nicht gelesen hat.« Martina Läubli, NZZ am Sonntag zu »Tschudi«
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Emilia Kröger staunt, wie der Roman von Mariam Kühsel-Hussaini es ihr ermöglicht, über die psychologisierende Innensicht der Figuren eine Epoche nachzuempfinden. Außer den beiden Protagonisten, dem Philosophen Emil Ciorans und dem Gestapochef Rudolf Dries, nutzt die Autorin laut Kröger noch eine Reihe weiterer Personen der Handlungszeit 1933 bis 1935, etwa Carl Orff oder Heinrich Himmler, um die Gewalthaltigkeit der Ära zu veranschaulichen. Dass sie die Figuren mitunter nur "anreißt" stellt für Kröger kein Problem dar. Wie die Erzählperspektiven im Roman wechseln und sich überlagern, findet Kröger reizvoll. Das Ergebnis ist ein ungewöhnliches, ein düsteres Zeitdokument, meint sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Dieser Roman ist ein seltenes Zeugnis poetischer Könnerschaft. Ihm gelingt, in einer Weise auf die nationalsozialistische Schreckensherrschaft zu blicken, die schlechterdings auch jene berühren muss, die lange nach dieser Zeit geboren wurden. Mit diesem "Emil" festigt Mariam Kühsel-Hussaini ihre Ausnahmestellung im vielstimmigen Kanon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.« Jan Drees, Deutschlandfunk, 18. September 2022 Jan Drees Deutschlandfunk 20220918
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.11.2022Hitler auf
dem Rheinschiff
Mariam Kühsel-Hussaini schreibt auf Deutsch,
doch darunter ahnt man andere Muster.
Das hat abwechselnd
hinreißende und verwirrende Folgen
VON BURKHARD MÜLLER
Mariam Kühsel-Hussaini, 1987 in Afghanistan geboren, aber schon als Kind nach Deutschland gelangt, hat bereits eine ganze Reihe von Romanen vorgelegt, zuletzt das viel beachtete „Tschudi“, nach dem Namen des Berliner Museumsdirektors, der zur vorletzten Jahrhundertwende, zum Missfallen seines Kaisers, französische Impressionisten erwarb. An diesem Buch hatten sich die Geister geschieden zwischen Begeisterung und Totalverriss. Liest man Kühsel-Hussainis neues Buch, denkt man sich: Recht hatten vermutlich beide.
Auch mit ihrem neuen Buch, dessen Titel wiederum nur knapp einen Namen aufruft, „Emil“, hat sich die Autorin die Geschichte Berlins zum Gegenstand genommen. Wir befinden uns am Anfang der nationalsozialistischen Herrschaft, und Emil ist niemand anderes als Emil Cioran, der rumänisch-französische Existenzialphilosoph, der seit den Achtzigern einen wachsenden Ruhm als Denker des „Cafard“ genoss, der tiefen depressiven Verstimmung, und als wortgewaltiger Prophet von der Vergeblichkeit aller Hoffnung und allen Daseins. Vor nicht allzulanger Zeit sind einige seiner frühen, auf Rumänisch verfassten Schriften ans Licht gelangt, und es erwies sich, dass er in der Zeit seines Deutschland-Stipendiums von 1933 bis 1935 ein großer Bewunderer der deutschen Faschisten war. Das führte zu Bestürzungen; aber es hätte auch schon vorher Anlass gegeben, dem pathetisch-unpräzisen Gefuchtel dieses Bajazzos des Schmerzes misstraut hatte. Zur zweiten Hauptfigur macht das Buch Rudolf Diels, in den Anfängen des Nazistaats Chef der Gestapo, auch er eine zwielichtige, aber eben nicht rein dunkle Figur. Dieses Nebeneinander zweier verschiedenartiger dubioser Charaktere, die in ihren jeweiligen Sphären agieren, ist originell. Es hat aber den praktischen Nachteil, dass die beiden sich nicht begegnen können und die Handlung bis zum Schluss in zwei fast überschneidungsfreien Bahnen läuft, wobei der eine Handlungsstrang (derjenige von Diels), sich immer mehr beschleunigt, der andere jedoch (derjenige Ciorans) allmählich bis fast zum Stillstand abbremst.
Man staunt über die Kühnheit der Autorin, die nicht nur lange Gesprächspartien mit Goebbels und Goering erfindet, sondern es sogar riskiert, Hitler, mit Diels an der Reling eines Rheinschiffs stehend, seitenlang über den Auftrag der Vorsehung sinnieren zu lassen. Dabei passiert etwas, was Kühsel-Hussaini sonst nie passiert: Sie verliert, wenn auch nur vorübergehend, die eigene Sprache.
Denn dass sie eine überaus eigene Sprache hat, werden selbst ihre schärfsten Kritiker nicht bestreiten. Ihre Sprache bewahrt die Autorin davor, in die klassischen Fallen des historischen Romans zu gehen, vor allem beim Dialog, dem sonst meistens nur die Wahl bleibt zwischen schnoddriger Modernität und willkürlicher Altertümelei wie bei der Frakturschrift auf einer Bierflasche. Kühsel-Hussaini begeht ihre Fehlgriffe sämtlich auf eigene Faust. Das hebt sie aus dem Genre heraus, auch wenn man öfters mit Bedauern feststellt, dass da etwas nicht funktioniert.
Im Ausland geborene Autorinnen, die auf Deutsch schreiben, haben die deutsche Gegenwartssprache in hohem Grad bereichert. Marica Bodrozic und Nino Haratischwili können mehr als perfekt Deutsch: Sie entdecken Möglichkeiten unserer Sprache, an die die Alteingesessenen nie gedacht hätten. Zu dieser Gruppe gehört auch Kühsel-Hussaini, die der deutschen Sprache auf ihre Weise noch viel mehr abgewinnt - um nicht zu sagen, mehr abzwingen will, als sie hergibt.
„Fahnen überall... überall, wohin das Lid nur reicht!“, so heißt es gleich zu Anfang. Aber so kann man das Auge nicht umschreiben, denn das Lid sieht nicht, im Gegenteil, es schließt den Blick. Eher gingen stattdessen noch die öfters erscheinenden „Linsen“, wenngleich auch sie unter der Nähe zur Hülsenfrucht leiden. Aber dann wieder, wenn eine Frau leidenschaftlich das Gesicht eines Mannes küsst, der von seiner Studentenzeit in einer schlagenden Verbindung eine ausgesprochene „Hackfresse“ zurückbehalten hat: „Im rechten und wirklich hauchzarten Mundwinkel verweilte sie besonders gern, um dann die wohl drastischste Narbe abzufahren, ihre Zunge spürte, wie sich die Wange hier vom Kinn fast schon trennte, und sie war ,in’ seinem Gesicht, zwischen dieser Kluft aus Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, so tief, dass es sie kribbelte, so tief, dass sie, während sie die letzten Narben, die genau das Kinn abschlossen, mitsamt seinem milden Rasierwassergeschmack einlutschte, sagte: ,Du... ich will schon wieder.’“ Das mag bizarr sein, aber man sieht es vor sich; man mag es für geschmacklos halten und schmeckt doch, was diese Zunge schmeckt.
Hier ist der Punkt, an dem Emil und die Autorin sich berühren: „Was ist das, dieses offene Geheimnis, das ich hier einatme? Wo ist die Langeweile meines verfluchten Ursprungs, meines zappelnd besessenen Rumäniens, dessen Wollen kein eigenes Ziel, keine Überwältigung besitzt -“. Das klingt wie eine elend wörtliche Übersetzung. So schlecht mit Pauken und Trompeten muss man erst mal schreiben können. Es ist genau der Ton des sinistren Cioran selbst.
Mit anderen Worten, Kühsel-Hussaini trifft Cioran deswegen so gut, weil sie in ihm, wenn schon keinen Seelen-, so doch einen Sprachverwandten gefunden hat. Ihre Sprache redet Deutsch, denkt aber aus anderen Mustern, was abwechselnd entzückende und verwirrende Folgen hat: „Diese Berliner Wohnungen wiegen einen.“ Handelt es sich beim hier vorausgesetzten Gerät um eine Wiege oder eine Waage? Schwer zu sagen. Und nie hört diese Autorin auf, sich über das Berlinerische zu wundern. „Der Totenkopf, haik jehört, soll nu ümma stärka in die Uniformen einfließen“. Das “haik“ ist genau erfasst, das „ümma“ vielleicht nicht ganz so. „Hitler hat in ihr (der Deutschen) Herz hineingesprochen“: Das würde sich kein Einheimischer so zu sagen trauen; und doch ist es wahr.
Cioran gelangt letztlich mit all seiner theatralischen Verzweiflung und Eitelkeit nicht über sich selbst und die Seiten seines Journals hinaus, er kocht gewissermaßen ganz nach innen; das ermüdet auf die Dauer. Wer Kühsel-Hussaini dagegen wirklich fasziniert, das ist sein Gegenpol Rudolf Diels. (Er ist es auch, der so leidenschaftlich in seine Narben geküsst wird.) Ihn erklärt sie, mit einigem Trotz, zum „Widerständler“ gegen das neue Regime. Das lässt sich beim Chef der Gestapo wohl mit ziemlicher Sicherheit ausschließen.
Aber Diels gebot der SA und der SS in ihren Folterkellern Einhalt. Gerade weil er ein Nazi in führender Stellung war, konnte er die schlimmsten Exzesse abbiegen. War er darum ein Held? Kühsel-Hussaini will es so und wird damit auf Widerstand stoßen. Doch ist ein Held nur, wer das Böse eins zu eins bekämpft und dabei zugrundegeht – oder auch wer mitmacht und es von innen heraus abzumildern sucht?
Immer wieder wird Diels bei Hitler und Göring vorstellig und erreicht die Freilassung von KZ-Insassen, die beispielsweise auf dem Rücken keine Haut mehr haben, weil sie ihnen komplett abgepeitscht worden ist. Die sadistischen Ungeheuerlichkeiten gerade der NS-Anfangszeit breitet die Autorin in einem Detailreichtum aus, der in den Routinen unserer Gedächtniskultur nur selten zur Sprache kommt, denn so genau will man es dann doch nicht mehr wissen. Aber nur vor diesem absolut entsetzlichen Hintergrund kann das relative Verdienst eines Einzelnen, der ansonsten bis über beide Ohren verstrickt ist, im nötigen Kontrast erscheinen. Das ist ein Wagnis. Ein Wagnis wie auch die Sprache, in der wir das alles erfahren. Beides zusammen bewirkt, dass man, was sich wahrlich nicht von allen Büchern sagen lässt, dieses Buch mit keinem anderen verwechseln wird.
Man staunt über die Kühnheit
der Autorin, die ganze Gespräche
mit Goebbels erfindet
War Rudolf Diels,
der Chef der Gestapo,
ein verkannter Held?
Mariam Kühsel-Hussaini: Emil. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2022.
320 Seiten, 24 Euro.
In Emil Cioran hat sie keinen Seelen-, aber zumindest einen Sprachverwandten gefunden: die 1987 in Afghanistan geborene Schriftstellerin Mariam Kühsel-Hussaini.
Foto: Patrick Bienert
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
dem Rheinschiff
Mariam Kühsel-Hussaini schreibt auf Deutsch,
doch darunter ahnt man andere Muster.
Das hat abwechselnd
hinreißende und verwirrende Folgen
VON BURKHARD MÜLLER
Mariam Kühsel-Hussaini, 1987 in Afghanistan geboren, aber schon als Kind nach Deutschland gelangt, hat bereits eine ganze Reihe von Romanen vorgelegt, zuletzt das viel beachtete „Tschudi“, nach dem Namen des Berliner Museumsdirektors, der zur vorletzten Jahrhundertwende, zum Missfallen seines Kaisers, französische Impressionisten erwarb. An diesem Buch hatten sich die Geister geschieden zwischen Begeisterung und Totalverriss. Liest man Kühsel-Hussainis neues Buch, denkt man sich: Recht hatten vermutlich beide.
Auch mit ihrem neuen Buch, dessen Titel wiederum nur knapp einen Namen aufruft, „Emil“, hat sich die Autorin die Geschichte Berlins zum Gegenstand genommen. Wir befinden uns am Anfang der nationalsozialistischen Herrschaft, und Emil ist niemand anderes als Emil Cioran, der rumänisch-französische Existenzialphilosoph, der seit den Achtzigern einen wachsenden Ruhm als Denker des „Cafard“ genoss, der tiefen depressiven Verstimmung, und als wortgewaltiger Prophet von der Vergeblichkeit aller Hoffnung und allen Daseins. Vor nicht allzulanger Zeit sind einige seiner frühen, auf Rumänisch verfassten Schriften ans Licht gelangt, und es erwies sich, dass er in der Zeit seines Deutschland-Stipendiums von 1933 bis 1935 ein großer Bewunderer der deutschen Faschisten war. Das führte zu Bestürzungen; aber es hätte auch schon vorher Anlass gegeben, dem pathetisch-unpräzisen Gefuchtel dieses Bajazzos des Schmerzes misstraut hatte. Zur zweiten Hauptfigur macht das Buch Rudolf Diels, in den Anfängen des Nazistaats Chef der Gestapo, auch er eine zwielichtige, aber eben nicht rein dunkle Figur. Dieses Nebeneinander zweier verschiedenartiger dubioser Charaktere, die in ihren jeweiligen Sphären agieren, ist originell. Es hat aber den praktischen Nachteil, dass die beiden sich nicht begegnen können und die Handlung bis zum Schluss in zwei fast überschneidungsfreien Bahnen läuft, wobei der eine Handlungsstrang (derjenige von Diels), sich immer mehr beschleunigt, der andere jedoch (derjenige Ciorans) allmählich bis fast zum Stillstand abbremst.
Man staunt über die Kühnheit der Autorin, die nicht nur lange Gesprächspartien mit Goebbels und Goering erfindet, sondern es sogar riskiert, Hitler, mit Diels an der Reling eines Rheinschiffs stehend, seitenlang über den Auftrag der Vorsehung sinnieren zu lassen. Dabei passiert etwas, was Kühsel-Hussaini sonst nie passiert: Sie verliert, wenn auch nur vorübergehend, die eigene Sprache.
Denn dass sie eine überaus eigene Sprache hat, werden selbst ihre schärfsten Kritiker nicht bestreiten. Ihre Sprache bewahrt die Autorin davor, in die klassischen Fallen des historischen Romans zu gehen, vor allem beim Dialog, dem sonst meistens nur die Wahl bleibt zwischen schnoddriger Modernität und willkürlicher Altertümelei wie bei der Frakturschrift auf einer Bierflasche. Kühsel-Hussaini begeht ihre Fehlgriffe sämtlich auf eigene Faust. Das hebt sie aus dem Genre heraus, auch wenn man öfters mit Bedauern feststellt, dass da etwas nicht funktioniert.
Im Ausland geborene Autorinnen, die auf Deutsch schreiben, haben die deutsche Gegenwartssprache in hohem Grad bereichert. Marica Bodrozic und Nino Haratischwili können mehr als perfekt Deutsch: Sie entdecken Möglichkeiten unserer Sprache, an die die Alteingesessenen nie gedacht hätten. Zu dieser Gruppe gehört auch Kühsel-Hussaini, die der deutschen Sprache auf ihre Weise noch viel mehr abgewinnt - um nicht zu sagen, mehr abzwingen will, als sie hergibt.
„Fahnen überall... überall, wohin das Lid nur reicht!“, so heißt es gleich zu Anfang. Aber so kann man das Auge nicht umschreiben, denn das Lid sieht nicht, im Gegenteil, es schließt den Blick. Eher gingen stattdessen noch die öfters erscheinenden „Linsen“, wenngleich auch sie unter der Nähe zur Hülsenfrucht leiden. Aber dann wieder, wenn eine Frau leidenschaftlich das Gesicht eines Mannes küsst, der von seiner Studentenzeit in einer schlagenden Verbindung eine ausgesprochene „Hackfresse“ zurückbehalten hat: „Im rechten und wirklich hauchzarten Mundwinkel verweilte sie besonders gern, um dann die wohl drastischste Narbe abzufahren, ihre Zunge spürte, wie sich die Wange hier vom Kinn fast schon trennte, und sie war ,in’ seinem Gesicht, zwischen dieser Kluft aus Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, so tief, dass es sie kribbelte, so tief, dass sie, während sie die letzten Narben, die genau das Kinn abschlossen, mitsamt seinem milden Rasierwassergeschmack einlutschte, sagte: ,Du... ich will schon wieder.’“ Das mag bizarr sein, aber man sieht es vor sich; man mag es für geschmacklos halten und schmeckt doch, was diese Zunge schmeckt.
Hier ist der Punkt, an dem Emil und die Autorin sich berühren: „Was ist das, dieses offene Geheimnis, das ich hier einatme? Wo ist die Langeweile meines verfluchten Ursprungs, meines zappelnd besessenen Rumäniens, dessen Wollen kein eigenes Ziel, keine Überwältigung besitzt -“. Das klingt wie eine elend wörtliche Übersetzung. So schlecht mit Pauken und Trompeten muss man erst mal schreiben können. Es ist genau der Ton des sinistren Cioran selbst.
Mit anderen Worten, Kühsel-Hussaini trifft Cioran deswegen so gut, weil sie in ihm, wenn schon keinen Seelen-, so doch einen Sprachverwandten gefunden hat. Ihre Sprache redet Deutsch, denkt aber aus anderen Mustern, was abwechselnd entzückende und verwirrende Folgen hat: „Diese Berliner Wohnungen wiegen einen.“ Handelt es sich beim hier vorausgesetzten Gerät um eine Wiege oder eine Waage? Schwer zu sagen. Und nie hört diese Autorin auf, sich über das Berlinerische zu wundern. „Der Totenkopf, haik jehört, soll nu ümma stärka in die Uniformen einfließen“. Das “haik“ ist genau erfasst, das „ümma“ vielleicht nicht ganz so. „Hitler hat in ihr (der Deutschen) Herz hineingesprochen“: Das würde sich kein Einheimischer so zu sagen trauen; und doch ist es wahr.
Cioran gelangt letztlich mit all seiner theatralischen Verzweiflung und Eitelkeit nicht über sich selbst und die Seiten seines Journals hinaus, er kocht gewissermaßen ganz nach innen; das ermüdet auf die Dauer. Wer Kühsel-Hussaini dagegen wirklich fasziniert, das ist sein Gegenpol Rudolf Diels. (Er ist es auch, der so leidenschaftlich in seine Narben geküsst wird.) Ihn erklärt sie, mit einigem Trotz, zum „Widerständler“ gegen das neue Regime. Das lässt sich beim Chef der Gestapo wohl mit ziemlicher Sicherheit ausschließen.
Aber Diels gebot der SA und der SS in ihren Folterkellern Einhalt. Gerade weil er ein Nazi in führender Stellung war, konnte er die schlimmsten Exzesse abbiegen. War er darum ein Held? Kühsel-Hussaini will es so und wird damit auf Widerstand stoßen. Doch ist ein Held nur, wer das Böse eins zu eins bekämpft und dabei zugrundegeht – oder auch wer mitmacht und es von innen heraus abzumildern sucht?
Immer wieder wird Diels bei Hitler und Göring vorstellig und erreicht die Freilassung von KZ-Insassen, die beispielsweise auf dem Rücken keine Haut mehr haben, weil sie ihnen komplett abgepeitscht worden ist. Die sadistischen Ungeheuerlichkeiten gerade der NS-Anfangszeit breitet die Autorin in einem Detailreichtum aus, der in den Routinen unserer Gedächtniskultur nur selten zur Sprache kommt, denn so genau will man es dann doch nicht mehr wissen. Aber nur vor diesem absolut entsetzlichen Hintergrund kann das relative Verdienst eines Einzelnen, der ansonsten bis über beide Ohren verstrickt ist, im nötigen Kontrast erscheinen. Das ist ein Wagnis. Ein Wagnis wie auch die Sprache, in der wir das alles erfahren. Beides zusammen bewirkt, dass man, was sich wahrlich nicht von allen Büchern sagen lässt, dieses Buch mit keinem anderen verwechseln wird.
Man staunt über die Kühnheit
der Autorin, die ganze Gespräche
mit Goebbels erfindet
War Rudolf Diels,
der Chef der Gestapo,
ein verkannter Held?
Mariam Kühsel-Hussaini: Emil. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2022.
320 Seiten, 24 Euro.
In Emil Cioran hat sie keinen Seelen-, aber zumindest einen Sprachverwandten gefunden: die 1987 in Afghanistan geborene Schriftstellerin Mariam Kühsel-Hussaini.
Foto: Patrick Bienert
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2023Lauter Fragen, die ihnen keiner beantwortete
Mariam Kühsel-Hussainis Roman "Emil" begibt sich in die Köpfe von Akteuren in der Anfangszeit des Nationalsozialismus.
Auf die Frage danach, in welcher Form das Grauen der NS-Zeit erzählt werden kann, finden Autoren ganz unterschiedliche Antworten. Sie wählen beispielsweise die Perspektive der Nachkriegsgeneration, die sich mit dem Verbrechen ihrer Eltern befasst, oder erzählen aus der Sicht der verfolgten Menschen, die der nationalsozialistischen Gewalt ausgesetzt waren. Mariam Kühsel-Hussaini wählt für ihren neuen Roman "Emil" allerdings einen anderen, etwas ungewöhnlichen Blickwinkel. Sie erzählt von zwei Menschen, die auf verschiedene Art Teil des NS-Regimes waren: einmal als junger glühender Hitler-Unterstützer und dann als eine der Vertrauenspersonen von Hitler.
Es geht um den rumänischen Philosophen Emil Cioran und den ersten Chef der Gestapo, Rudolf Diels. Für beide stellt die im Roman erzählte Zeit von 1933 bis 1935 einen wichtigen Lebensabschnitt dar: Cioran, der später in Paris für seine nihilistischen und kulturkritischen Schriften berühmt wird, kommt als Student und glühender Hitler-Verehrer nach Berlin. Und Diels versucht - mithilfe seiner machtvollen Position und eines direkten Drahts zu Hitler - gegen die aufkommende Willkür und Gewalt im Staatsapparat noch geltendes Recht durchzusetzen. Er verhaftet reihenweise SA- und SS-Männer und gilt daher als "der heimliche Reichsfeind Nummer 1".
Ob die beiden Protagonisten dabei als Gegensätze oder als Analogie angelegt sind, bleibt erzählerisch geschickt in der Schwebe. Bei seiner Intrige hat Diels es auf genau den Typus "Kinder des Schreckens" abgesehen, den Emil Cioran und seine Freunde verkörpern: "In ihren Augen stöhnt ein vollkommen hinfällig gewordener Wahnsinn. Es gilt ihrem Leben, ihrer verlorenen Jugend, einem Dasein zwischen den Fragen, die ihnen keiner beantwortet hat, bis Hitler kam." Und trotzdem lassen sich in dem Gestapo-Chef und dem Philosophiestudenten Ähnlichkeiten erkennen: in ihren Verzweiflungstaten und ihrer Einsamkeit.
Zudem erzählt Kühsel-Hussaini oft parallel von ihnen, die Erzählperspektiven wechseln sich ab, überlagern sich teilweise auch, manchmal kommt es sogar zu Beinahe-Begegnungen, die dann doch wieder nur eine elegante szenische Überleitung in die Innensicht der jeweils anderen Figur sind. Beispielsweise fährt Diels mehrere Male an dem gedankenverloren durch die Nacht spazierenden Cioran vorbei: "Ein gigantisch glänzendes Maul mit schmalen Vorderfenstern und immensen Lichtern glomm an Emil vorbei. Unverkennbar darin mit rabenschwarz-bläulich-metallischem Haar - Rudolf Diels, 33 Jahre, Chef von Hitlers Gestapo. Nimmt die Hände nicht aus den Hosentaschen, ganz gleich, wer vor ihm steht. Selbst wenn es Göring ist."
Als wären zwei komplexe Figuren noch nicht genug, greift Kühsel-Hussaini noch ein ganzes Kaleidoskop an weiteren Zeitgenossen auf, die ebenfalls aus deren Innenperspektiven erzählt werden: Aus Emils wirren Gedankenzyklen springen wir unter anderem in den Kopf des jüdischen Kunstsammlers Max Böhm, des SS-Reichsführers Heinrich Himmler oder des Komponisten Carl Orff. Während einige Figuren dabei nur in einem oder zwei Sätzen auftauchen - "Carl Orff hätte sich auf der Stelle besaufen können, so überwältigt war er von seinen ersten Kompositionen der Carmina Burana" -, sind andere breiter ausgeführt. Exemplarisch erfahren wir neben Emil von einem weiteren jungen Menschen, der unter Hitler zum Gewalttäter wird: Otto Krause. Er studiert Medizin, lebt seine Homosexualität im Geheimen aus und ist überzeugter Nazi und Schläger für die SA. Als erster Anlaufpunkt in Berlin wird er schließlich Emils Freund, allerdings verlieren sich die beiden aus den Augen, als Otto seine Heroinabhängigkeit nicht länger verbergen kann. Er wird zur "Zwangsentziehung durch Dienst am Vaterland" als KZ-Aufseher nach Dachau geschickt.
Auch ohne die Bindung zu diesem Protagonisten erzählt der Roman weiterhin von Otto und schildert präzise die Gewalt und Foltermethoden, deren Ausübung er sich in Dachau hingibt. Kühsel-Hussainis Roman ist in dieser Hinsicht auch brutal, da er keine Grausamkeit unbeschrieben beziehungsweise unerzählt lässt. Zusammen mit den seitenfüllenden und verzweifelten Gedanken Emils, in denen der Nihilismus der späteren Werke des Philosophen schon allgegenwärtig ist, gibt "Emil" ein schonungslos-düsteres Zeitdokument ab. Die starke Psychologisierung ist dabei keine Schwäche des Buchs, da die Figuren trotzdem authentisch in ihrer Unberechenbarkeit sind. Wie auch schon in Kühsel-Hussainis Romanvorgänger "Tschudi" ist es der Autorin gelungen, eine Epoche aus der Innensicht ihrer Zeitgenossen nachzuerzählen. Und somit nachempfindbar zu machen. EMILIA KRÖGER
Mariam Kühsel-Hussaini: "Emil". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2022. 320 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mariam Kühsel-Hussainis Roman "Emil" begibt sich in die Köpfe von Akteuren in der Anfangszeit des Nationalsozialismus.
Auf die Frage danach, in welcher Form das Grauen der NS-Zeit erzählt werden kann, finden Autoren ganz unterschiedliche Antworten. Sie wählen beispielsweise die Perspektive der Nachkriegsgeneration, die sich mit dem Verbrechen ihrer Eltern befasst, oder erzählen aus der Sicht der verfolgten Menschen, die der nationalsozialistischen Gewalt ausgesetzt waren. Mariam Kühsel-Hussaini wählt für ihren neuen Roman "Emil" allerdings einen anderen, etwas ungewöhnlichen Blickwinkel. Sie erzählt von zwei Menschen, die auf verschiedene Art Teil des NS-Regimes waren: einmal als junger glühender Hitler-Unterstützer und dann als eine der Vertrauenspersonen von Hitler.
Es geht um den rumänischen Philosophen Emil Cioran und den ersten Chef der Gestapo, Rudolf Diels. Für beide stellt die im Roman erzählte Zeit von 1933 bis 1935 einen wichtigen Lebensabschnitt dar: Cioran, der später in Paris für seine nihilistischen und kulturkritischen Schriften berühmt wird, kommt als Student und glühender Hitler-Verehrer nach Berlin. Und Diels versucht - mithilfe seiner machtvollen Position und eines direkten Drahts zu Hitler - gegen die aufkommende Willkür und Gewalt im Staatsapparat noch geltendes Recht durchzusetzen. Er verhaftet reihenweise SA- und SS-Männer und gilt daher als "der heimliche Reichsfeind Nummer 1".
Ob die beiden Protagonisten dabei als Gegensätze oder als Analogie angelegt sind, bleibt erzählerisch geschickt in der Schwebe. Bei seiner Intrige hat Diels es auf genau den Typus "Kinder des Schreckens" abgesehen, den Emil Cioran und seine Freunde verkörpern: "In ihren Augen stöhnt ein vollkommen hinfällig gewordener Wahnsinn. Es gilt ihrem Leben, ihrer verlorenen Jugend, einem Dasein zwischen den Fragen, die ihnen keiner beantwortet hat, bis Hitler kam." Und trotzdem lassen sich in dem Gestapo-Chef und dem Philosophiestudenten Ähnlichkeiten erkennen: in ihren Verzweiflungstaten und ihrer Einsamkeit.
Zudem erzählt Kühsel-Hussaini oft parallel von ihnen, die Erzählperspektiven wechseln sich ab, überlagern sich teilweise auch, manchmal kommt es sogar zu Beinahe-Begegnungen, die dann doch wieder nur eine elegante szenische Überleitung in die Innensicht der jeweils anderen Figur sind. Beispielsweise fährt Diels mehrere Male an dem gedankenverloren durch die Nacht spazierenden Cioran vorbei: "Ein gigantisch glänzendes Maul mit schmalen Vorderfenstern und immensen Lichtern glomm an Emil vorbei. Unverkennbar darin mit rabenschwarz-bläulich-metallischem Haar - Rudolf Diels, 33 Jahre, Chef von Hitlers Gestapo. Nimmt die Hände nicht aus den Hosentaschen, ganz gleich, wer vor ihm steht. Selbst wenn es Göring ist."
Als wären zwei komplexe Figuren noch nicht genug, greift Kühsel-Hussaini noch ein ganzes Kaleidoskop an weiteren Zeitgenossen auf, die ebenfalls aus deren Innenperspektiven erzählt werden: Aus Emils wirren Gedankenzyklen springen wir unter anderem in den Kopf des jüdischen Kunstsammlers Max Böhm, des SS-Reichsführers Heinrich Himmler oder des Komponisten Carl Orff. Während einige Figuren dabei nur in einem oder zwei Sätzen auftauchen - "Carl Orff hätte sich auf der Stelle besaufen können, so überwältigt war er von seinen ersten Kompositionen der Carmina Burana" -, sind andere breiter ausgeführt. Exemplarisch erfahren wir neben Emil von einem weiteren jungen Menschen, der unter Hitler zum Gewalttäter wird: Otto Krause. Er studiert Medizin, lebt seine Homosexualität im Geheimen aus und ist überzeugter Nazi und Schläger für die SA. Als erster Anlaufpunkt in Berlin wird er schließlich Emils Freund, allerdings verlieren sich die beiden aus den Augen, als Otto seine Heroinabhängigkeit nicht länger verbergen kann. Er wird zur "Zwangsentziehung durch Dienst am Vaterland" als KZ-Aufseher nach Dachau geschickt.
Auch ohne die Bindung zu diesem Protagonisten erzählt der Roman weiterhin von Otto und schildert präzise die Gewalt und Foltermethoden, deren Ausübung er sich in Dachau hingibt. Kühsel-Hussainis Roman ist in dieser Hinsicht auch brutal, da er keine Grausamkeit unbeschrieben beziehungsweise unerzählt lässt. Zusammen mit den seitenfüllenden und verzweifelten Gedanken Emils, in denen der Nihilismus der späteren Werke des Philosophen schon allgegenwärtig ist, gibt "Emil" ein schonungslos-düsteres Zeitdokument ab. Die starke Psychologisierung ist dabei keine Schwäche des Buchs, da die Figuren trotzdem authentisch in ihrer Unberechenbarkeit sind. Wie auch schon in Kühsel-Hussainis Romanvorgänger "Tschudi" ist es der Autorin gelungen, eine Epoche aus der Innensicht ihrer Zeitgenossen nachzuerzählen. Und somit nachempfindbar zu machen. EMILIA KRÖGER
Mariam Kühsel-Hussaini: "Emil". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2022. 320 S., geb., 24,- Euro.
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