Nicolas Michel, dem jungen französischen Schriftsteller, ist mit diesem Roman, für den er mehrfach ausgezeichnet wurde, ein spannendes Debut gelungen. Der kleine Inselkosmos Korsika bildet Anfang und Ende dieser atmosphärisch dichten Geschichtenkette, dieser Meeresreise ins Vergessen.
"Die Leiche treibt in einiger Tiefe im Wasser. Die langen schwarzen Haare, noch unversehrt, erinnern an Gorgonenarme. Das Gesicht ist dem Meeresgrund zugewandt ..."« So beginnt dieses Buch, in einer Nacht gegen Ende des Sommers. Wer ist die Tote?
Und wie kam sie ums Leben?
Datum für Datum schreitet diese abenteuerliche Geschichte rückwärts, denn sie wird von ihrem Ende her erzählt. Wir begegnen einer erstaunlichen, bunten Fülle an Personen, die alle mit der schönen Toten zu tun haben: Der junge Mann, der die nackte Unbekannte zwischen den Felsen am Strand findet. Albert, der Fischer, mit seiner Sehnsucht nach der Heimat Algerien. Die beiden leichtsinnigen Amateurbankräuber, die im Kofferraum des geklauten Fluchtwagens einen grausigen Fund machen. Und Dominique, der Inselboss und Zuhälter. Am Ende des Mittelmeer-Reigens Emilie selbst, mit Leo, dem Vertrauten aufregender Spiele: als Artisten unter der Zirkuskuppel, vom Tode schon gezeichnet...
"Die Leiche treibt in einiger Tiefe im Wasser. Die langen schwarzen Haare, noch unversehrt, erinnern an Gorgonenarme. Das Gesicht ist dem Meeresgrund zugewandt ..."« So beginnt dieses Buch, in einer Nacht gegen Ende des Sommers. Wer ist die Tote?
Und wie kam sie ums Leben?
Datum für Datum schreitet diese abenteuerliche Geschichte rückwärts, denn sie wird von ihrem Ende her erzählt. Wir begegnen einer erstaunlichen, bunten Fülle an Personen, die alle mit der schönen Toten zu tun haben: Der junge Mann, der die nackte Unbekannte zwischen den Felsen am Strand findet. Albert, der Fischer, mit seiner Sehnsucht nach der Heimat Algerien. Die beiden leichtsinnigen Amateurbankräuber, die im Kofferraum des geklauten Fluchtwagens einen grausigen Fund machen. Und Dominique, der Inselboss und Zuhälter. Am Ende des Mittelmeer-Reigens Emilie selbst, mit Leo, dem Vertrauten aufregender Spiele: als Artisten unter der Zirkuskuppel, vom Tode schon gezeichnet...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2004Die Leiche macht sich zum Clown
Zirkusreif: Nicolas Michel balanciert über den Erzählfaden
Wenn französische Romanciers ihre Heldinnen sterben lassen, sind sie dabei nicht unbedingt zimperlich: Nach ihrem Arsen-Suizid gleicht Emma Bovarys Mund einem schwarzen Loch; ihre Augen werden von einem weißlichen Film überzogen. Nana gar, deren Reize mehrere Männergenerationen in den Liebeswahn getrieben haben, ist von Pocken entstellt: Ihr Gesicht ist nur mehr "ein Haufen verfaulendes Fleisch", eine "grauenhafte, groteske Maske des Nichts" - die bleibende Schönheit ihres goldenen Haars scheint wie Hohn. Der Tod hat eine widerliche Fratze.
Ganz anders der junge Autor Nicolas Michel: Gleich zu Beginn seines Romans "Emilies letzte Reise" schickt er einen noch immer berückend schönen Leichnam zur letzten Ruhe in den Ozean vor Korsikas Küsten: "Die langen schwarzen Haare, noch unversehrt, erinnern an Gorgonenarme. Die fahle Haut wird fast durchsichtig und nimmt die verschiedenen Blautöne auf." Zwar haben Krebse und Garnelen sich bereits an Wangen, Brüsten und in den Körperwinkeln zu schaffen gemacht. "Und doch sieht es trotz alledem so aus, als ob sie lächelt." Der Tod scheint eine leichte, ja erotische Angelegenheit zu sein. Und damit ist der Ton gefunden, ein klarer, kräftiger und doch tänzelnder, ironischer Klang, den Michel seinem Text zu unterlegt.
Der Roman verfolgt den Weg der Leiche in umgekehrter Richtung, eine Reise zurück in der Zeit und ins Innere der Insel hinein. Es stellt sich heraus, daß sie einige Stationen durchlaufen hat, bevor sie auf dem Meeresgrund und in Makrelenbäuchen gelandet ist. In acht Kapiteln streift Emilies sterbliche Hülle das Leben der unterschiedlichsten Personen und verändert es mitunter nachhaltig. Jules etwa, der sie am Strand entdeckt und wieder ins Meer schiebt, landet endlich in Karins Armen zum Liebesakt in den Dünen. Albert, der verträumte Matrose, der nie auf den Horizont schaut, sieht in den Gesichtszügen des treibenden Kadavers den Süden und macht sich daraufhin auf den Weg in die algerische Heimat.
Melancholisch ist auch Julies Entschluß, ihren Ehemann zu verlassen, nachdem sie den endgültigen Tod seiner Gefühle festgestellt hat. Unsentimental und doch einfühlsam zeichnet Michel eine Szene von arktischer Kälte im morgendlichen Ehebett. Nicht ohne Humor hingegen wird die Geschichte von Dominique ausgebreitet, einem alternden, fetten Mafioso, der dank der Leiche unterm Bett, hinter der er eine Falle der Konkurrenz wittert, ins operative Geschäft zurückkehrt: Er will "einen Gegenangriff planen, der an seine besten Zeiten erinnern wird. Vielleicht sogar seine Neunmillimeter überprüfen und wohl auch eine Partie Tennis spielen."
Schon diese Wiederbelebung krimineller Energie stellt klar, daß Michel die Falle wohlfeiler Gefühlsduselei meidet. Der Roman ist keine moralische Besserungsanstalt. Den Figuren wird durch die Anwesenheit der Leiche nur ein vitaler Stoß gegeben - das genügt meist schon. Die tote Venus ist roter Faden der Handlung und Katalysator der Schicksale zugleich. Daß der Tod das Leben befördert, diese Erkenntnis steht einfach und kraftvoll zwischen den Zeilen und drückt sich im feinen Humor des Erzählers aus, für den die ganze Ereignisserie nichts ist als "eine letzte Clownerie" der frechen Emilie, die noch im Tode ihren Schabernack treibt.
Der Schauplatz Korsika erweist sich dabei als eigentlicher Protagonist: See und Sand, Macchia und Myrtenschnaps, Geckos und Gauner, alle Ingredienzen der Inselromantik werden kunstvoll gemischt. Langsam aus dem Hintergrund hervor tritt hingegen der rätselhafte "Zirkus Bumerang", mit dem Emilies Schicksal eng verbunden ist. Hier zeigt sich erneut das erzählerische Geschick des Autors: Aus einem scheinbar beiläufig eingewobenen Motiv wird fast unmerklich ein zentrales Element der Handlung.
Im letzten und längsten Kapitel schließlich werden die Fäden verknüpft und wird die unausgesprochene Frage geklärt: Warum ist Emilie eigentlich gestorben? Dazu wird weiter ausgeholt und von ihrem Leben mit dem Geliebten Léo erzählt - als begabte Akrobaten, die nur in den Lüften glücklich sind. Ob auf Häuserdächern, unter den Decken hoher Lagerhallen am Hafen oder am Trapez eines Zirkuszelts, sie suchen immer den größtmöglichen Abstand zum Boden und landen schließlich im Künstlerzirkus Bumerang. Emilies Körper war schon gezeichnet, einmal schon war sie gestürzt, das Ende deutete sich an: Nun reist der Zirkus zu einer letzten Vorstellung nach Bastia - die ausgerechnet der sonst wenig kunstsinnige Mafioso sieht -, und das Paar fliegt in einem letzten Glücks- und Liebesrausch davon.
Dem Leser sei gegönnt, die Details der Auflösung selbst zu entdecken; die elegante Übertragung von Renate Nentwig macht es zu einem Vergnügen. Nicolas Michel, in Frankreich für seinen Erstling "Un revenant" bereits mit dem Prix Goncourt du Premier Roman ausgezeichnet, hat mit seinem zweiten Roman einen sinnlich berückenden, komischen, hintergründigen Text geschaffen, der in vieler Hinsicht an die griechische Leichtfüßigkeit Raymond Queneaus erinnert. So einem Romancier folgt man gerne, und wenn sein Weg auch über Leichen geht.
NIKLAS BENDER
Nicolas Michel: "Emilies letzte Reise". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Renate Nentwig. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2003. 159 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zirkusreif: Nicolas Michel balanciert über den Erzählfaden
Wenn französische Romanciers ihre Heldinnen sterben lassen, sind sie dabei nicht unbedingt zimperlich: Nach ihrem Arsen-Suizid gleicht Emma Bovarys Mund einem schwarzen Loch; ihre Augen werden von einem weißlichen Film überzogen. Nana gar, deren Reize mehrere Männergenerationen in den Liebeswahn getrieben haben, ist von Pocken entstellt: Ihr Gesicht ist nur mehr "ein Haufen verfaulendes Fleisch", eine "grauenhafte, groteske Maske des Nichts" - die bleibende Schönheit ihres goldenen Haars scheint wie Hohn. Der Tod hat eine widerliche Fratze.
Ganz anders der junge Autor Nicolas Michel: Gleich zu Beginn seines Romans "Emilies letzte Reise" schickt er einen noch immer berückend schönen Leichnam zur letzten Ruhe in den Ozean vor Korsikas Küsten: "Die langen schwarzen Haare, noch unversehrt, erinnern an Gorgonenarme. Die fahle Haut wird fast durchsichtig und nimmt die verschiedenen Blautöne auf." Zwar haben Krebse und Garnelen sich bereits an Wangen, Brüsten und in den Körperwinkeln zu schaffen gemacht. "Und doch sieht es trotz alledem so aus, als ob sie lächelt." Der Tod scheint eine leichte, ja erotische Angelegenheit zu sein. Und damit ist der Ton gefunden, ein klarer, kräftiger und doch tänzelnder, ironischer Klang, den Michel seinem Text zu unterlegt.
Der Roman verfolgt den Weg der Leiche in umgekehrter Richtung, eine Reise zurück in der Zeit und ins Innere der Insel hinein. Es stellt sich heraus, daß sie einige Stationen durchlaufen hat, bevor sie auf dem Meeresgrund und in Makrelenbäuchen gelandet ist. In acht Kapiteln streift Emilies sterbliche Hülle das Leben der unterschiedlichsten Personen und verändert es mitunter nachhaltig. Jules etwa, der sie am Strand entdeckt und wieder ins Meer schiebt, landet endlich in Karins Armen zum Liebesakt in den Dünen. Albert, der verträumte Matrose, der nie auf den Horizont schaut, sieht in den Gesichtszügen des treibenden Kadavers den Süden und macht sich daraufhin auf den Weg in die algerische Heimat.
Melancholisch ist auch Julies Entschluß, ihren Ehemann zu verlassen, nachdem sie den endgültigen Tod seiner Gefühle festgestellt hat. Unsentimental und doch einfühlsam zeichnet Michel eine Szene von arktischer Kälte im morgendlichen Ehebett. Nicht ohne Humor hingegen wird die Geschichte von Dominique ausgebreitet, einem alternden, fetten Mafioso, der dank der Leiche unterm Bett, hinter der er eine Falle der Konkurrenz wittert, ins operative Geschäft zurückkehrt: Er will "einen Gegenangriff planen, der an seine besten Zeiten erinnern wird. Vielleicht sogar seine Neunmillimeter überprüfen und wohl auch eine Partie Tennis spielen."
Schon diese Wiederbelebung krimineller Energie stellt klar, daß Michel die Falle wohlfeiler Gefühlsduselei meidet. Der Roman ist keine moralische Besserungsanstalt. Den Figuren wird durch die Anwesenheit der Leiche nur ein vitaler Stoß gegeben - das genügt meist schon. Die tote Venus ist roter Faden der Handlung und Katalysator der Schicksale zugleich. Daß der Tod das Leben befördert, diese Erkenntnis steht einfach und kraftvoll zwischen den Zeilen und drückt sich im feinen Humor des Erzählers aus, für den die ganze Ereignisserie nichts ist als "eine letzte Clownerie" der frechen Emilie, die noch im Tode ihren Schabernack treibt.
Der Schauplatz Korsika erweist sich dabei als eigentlicher Protagonist: See und Sand, Macchia und Myrtenschnaps, Geckos und Gauner, alle Ingredienzen der Inselromantik werden kunstvoll gemischt. Langsam aus dem Hintergrund hervor tritt hingegen der rätselhafte "Zirkus Bumerang", mit dem Emilies Schicksal eng verbunden ist. Hier zeigt sich erneut das erzählerische Geschick des Autors: Aus einem scheinbar beiläufig eingewobenen Motiv wird fast unmerklich ein zentrales Element der Handlung.
Im letzten und längsten Kapitel schließlich werden die Fäden verknüpft und wird die unausgesprochene Frage geklärt: Warum ist Emilie eigentlich gestorben? Dazu wird weiter ausgeholt und von ihrem Leben mit dem Geliebten Léo erzählt - als begabte Akrobaten, die nur in den Lüften glücklich sind. Ob auf Häuserdächern, unter den Decken hoher Lagerhallen am Hafen oder am Trapez eines Zirkuszelts, sie suchen immer den größtmöglichen Abstand zum Boden und landen schließlich im Künstlerzirkus Bumerang. Emilies Körper war schon gezeichnet, einmal schon war sie gestürzt, das Ende deutete sich an: Nun reist der Zirkus zu einer letzten Vorstellung nach Bastia - die ausgerechnet der sonst wenig kunstsinnige Mafioso sieht -, und das Paar fliegt in einem letzten Glücks- und Liebesrausch davon.
Dem Leser sei gegönnt, die Details der Auflösung selbst zu entdecken; die elegante Übertragung von Renate Nentwig macht es zu einem Vergnügen. Nicolas Michel, in Frankreich für seinen Erstling "Un revenant" bereits mit dem Prix Goncourt du Premier Roman ausgezeichnet, hat mit seinem zweiten Roman einen sinnlich berückenden, komischen, hintergründigen Text geschaffen, der in vieler Hinsicht an die griechische Leichtfüßigkeit Raymond Queneaus erinnert. So einem Romancier folgt man gerne, und wenn sein Weg auch über Leichen geht.
NIKLAS BENDER
Nicolas Michel: "Emilies letzte Reise". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Renate Nentwig. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2003. 159 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr angetan äußert sich Niklas Bender über "Emilies letzte Reise", den zweiten Roman des französischen Autors Nicolas Michel. Schauplatz und eigentlicher Protagonist des neuen Romans ist Korsika, an dessen Strände ein weiblicher Leichnam angespült wird. Michels Romans verfolgt nun den Weg der Leiche in umgekehrter Richtung, eine Reise zurück in die Vergangenheit und ins Innere der Insel, wobei sich der Leichnam Emilies, verrät Bender, als Katalysator der verschiedensten Schicksale erweist. Dass der Tod gelegentlich das Leben befördere, sei unmissverständlich die Philosophie dieses Romans, so der Rezensent. Nicht etwa sentimental sei das Buch, sondern kräftig, aber mit leicht ironischem Beiklang. Renate Nentwigs elegante Übersetzung, lobt Bender, werde diesem Ton allemal gerecht und mache die Lektüre zu einem großen Vergnügen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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