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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.1998

Weder Hokuspokus noch Kunst
Erhellendes über Wahlforschung aus der Feder eines ihrer Meister

Dieter Roth: Empirische Wahlforschung. Verlag Leske + Budrich (= UTB 2045), 230 S., 24,80 Mark.

Wahlforschung ist weder Hokuspokus noch Kunst, sondern Handwerk und Wissenschaft. Allerdings gibt es Wahlforscher, die das schwierige Geschäft zu einer Handwerkskunst ausfeilen. Zu ihnen gehört Dieter Roth von der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen. Rechtzeitig vor der Bundestagswahl hat er ein Buch geschrieben, das Journalisten und deren Lesern helfen soll, zu durchschauen, was Wahlforscher leisten - und was nicht. Vor Wahlen tritt die Mannheimer Forschungsgruppe mit Umfragen für das "Politbarometer" des ZDF hervor, am Wahltag bestreitet sie Wahlnachfragen (exit polls), auf denen die Wahlprognose um 18.00 Uhr fußt, und nach 18.00 Uhr beeilt sie sich mit den Hochrechnungen. Für die bayerische Landtagswahl lieferte sie die erste schon elf Minuten nach Schließung der Wahllokale - ein Rekord.

Wahlforscher interessiert nicht nur, wer wen wählt, sondern auch: warum? Nach einem einleitenden Kapitel über die Anfänge empirischer Wahlforschung gibt Roth daher einen Überblick über theoretische Erklärungsmuster. Er beginnt mit dem Modell der Columbia School, das sich mit dem Namen des in Wien geborenen Soziologen Lazarsfeld verbindet. Danach ist das Wahlverhalten abhängig von der Gruppenzugehörigkeit: "Voting is essentially a group experience." Ausschlaggebend seien drei Merkmale: sozioökonomischer Status, Religion, Wohngegend. Entsprechend hoch sei der Prognosewert dieser Charakteristika.

Lazarsfelds Kollege Berelson hat nachgewiesen, daß die Menschen versuchen, ihr soziales Umfeld möglichst gleichförmig zu halten, um Konflikte zu vermeiden. Allerdings fällt das in modernen Gesellschaften schwerer, weil sich immer mehr Menschen in mehreren, teilweise entgegengesetzten Kräftefeldern bewegen: Sie geraten in "kognitive Dissonanz" (Festinger), unter Spannung ("cross pressure"). Lazarsfeld, Berelson und Festinger haben in Deutschland vor allem die Kommunikationsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann vom Institut für Demoskopie Allensbach beeinflußt, die sagt, jeder Mensch besitze eine "soziale Haut".

Cross pressure führt dazu, daß die Wählersockel der Parteien schmaler werden: Es gibt immer weniger Stammwähler, immer mehr Wechselwähler, was zu Stimmungsausschlägen zwischen den Wahlen führt und Prognosen erschwert. Daher muß man den Mannheimern für ihre unermüdliche Aufklärungsarbeit danken, bei der sie hervorheben, daß demoskopische Momentaufnahmen flüchtige Stimmungen wiedergeben, aber keine festen Stimmen markieren. Stimmungssprünge annoncieren vor allem Umfrageinstitute, die nur Rohdaten veröffentlichen. Aber viele Institute "gewichten" die Rohdaten, und dabei spielen gesellschaftliche Determinanten immer noch die Hauptrolle. Die Diskussion darüber zieht sich wie ein roter Faden bis in Roths erhellendes Schlußkapitel über Wahlforschung in anderen europäischen Staaten.

Am aufregendsten ist das Mittelstück über Instrumente und Methoden der Wahlforschung, also der Abschnitt über das wissenschaftlich verfeinerte Handwerk. Von der Stichprobe hängt es ab, ob die Auswahl der Befragten ein getreues Abbild der Gesamtheit liefert. Das Institut für Demoskopie Allensbach bevorzugt die Quotenstichprobe, bei der den Interviewern Quoten (Region, Geschlecht, Alter, sozialer Status) vorgegeben werden: Sie müssen also so und so viele Frauen, so und so viele Männer befragen, so und so viele Wähler aus verschiedenen Altersgruppen und so weiter. Dagegen verwenden die meisten Institute Zufallsstichproben (at random), bei denen jeder x-ste der Grundgesamtheit gefragt wird. Das ist vor allem bei Telefonumfragen praktischer. Man muß, neben den üblichen Fehlerspannen, mit typischen Verzerrungen rechnen - je nachdem, welche Stichprobenmethode man anwendet. Auch für die Hochrechnung der abgegebenen Stimmen wird aus der Gesamtheit der Stimm- oder Wahlbezirke eine Stichprobe gezogen: Anfangs ist sie noch nicht "voll", die Hochrechnung entsprechend ungenau.

Fehler können Demoskopen auch bei der Auswahl der Interviewer, bei der Formulierung einzelner Fragen und der Anordnung der Fragen im Fragebogen machen sowie bei der Datenerhebung und -analyse. Roth gibt Beispiele dafür, wie erfahrene Institute Fehler zu vermeiden und, wenn sie doch vorkommen, zu entdecken und zu korrigieren suchen. Erste Grundregel: Einfache Sprache; nur eine Bedingung pro Satz. So soll man nicht fragen: "Wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre und Sie zur Wahl gingen, was würden Sie wählen?" Sondern: "Wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre, würden Sie zur Wahl gehen?" und erst danach als neue Frage hinzufügen: "Welche Partei würden Sie wählen?" KURT REUMANN

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