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Ende der Saison in einem kleinen toskanischen Ort: Dagmar Leupolds neuer Roman erzählt flüchtige Geschichten, in denen die Figuren wie in einem Mobile vor der Landschaft tanzen. Und der Leser reibt sich wie nach einem seltsamen Traum verwundert die Augen.

Produktbeschreibung
Ende der Saison in einem kleinen toskanischen Ort: Dagmar Leupolds neuer Roman erzählt flüchtige Geschichten, in denen die Figuren wie in einem Mobile vor der Landschaft tanzen. Und der Leser reibt sich wie nach einem seltsamen Traum verwundert die Augen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999

Die Verbohrten von San Galgano
Dagmar Leupold macht Ferien im Zeichenwald/Von Alexander Honold

Wenn der Sommer geht, bleiben die Zeichen. Gaia, das kleine Mädchen aus der Espressobar, sieht sie am deutlichsten. Müsste man "Santo" schreiben, denkt sie, "dann wäre er ein Ausrufezeichen". In Dagmar Leupolds "Ende der Saison" ist Santo der Hauptdarsteller, Gaia seine Beobachterin. Santo verdient keinen Heiligenschein, denn er stiehlt Milchkännchen aus der Bar, riecht so ungewaschen, wie er aussieht, und hat sein schmuddeliges Zelt ausgerechnet vis-à-vis der einzigen Sehenswürdigkeit der kleinen toskanischen Ortschaft aufgeschlagen.

In Wirklichkeit heißt er Hannes und kommt aus Berlin. Den Spitznamen gibt ihm das Dorf wohl, weil er schwer einzuordnen ist. Ein Aussteiger, ein nichtzahlender Dauergast, bald ein Störenfried. Vor allem ein Rattenfänger, dem die Frauen nachlaufen, angezogen von seinem Lebensstil oder dem leuchtenden Rotschopf, der an den alten San Galgano erinnert, wie ihn die Fresken in der Kirche am Monte Siepi darstellen, neben der "Santo" kampiert. Zu seiner Lagerstelle schlängelt sich der Bergpfad hoch, so denkt er, wie auf den Punkt eines umgedrehten spanischen Fragezeichens. So hat fast alles sein Gegenstück und seine Widerrede in Dagmar Leupolds Zeichenwald. Dass der seltsame Heilige drei Jahre in Folge aufkreuzt, wie auf den ersten Seiten zu lesen ist, scheint später vergessen; jedenfalls ist es nur ein Saisonende, welches hier zählt. Die Handlungszeit lässt sich nur indirekt, aber präzise verorten: es ist die zweite Septemberhälfte des Jahres 1997. Die Chronik dieser Wochen gerinnt für Santo zu einer Reihe von Frauennamen. Zuerst trennt er sich von Sara, der Kindergärtnerin, die darauf einen Hautausschlag bekommt und von ihren Brüdern zurück nach Kalabrien geholt wird. Als Nächste wird Cinzia ausrangiert, die Frau des Fernfahrers. Santo hatte sie, zum Erstaunen Gaias, auf der Straße in die Brust gebissen. Küsse und Bisse, da hält er es mit Kleist, den die kleine Gaia nicht kennen kann. Auch sonst gerät für sie einiges in Verwirrung, jetzt, da sie anfängt, Santo genauer zu beobachten.

Der scheint die Espressobar zu seinem neuen Arbeitsfeld erkoren zu haben. Wenn Santo aufkreuzt, schenkt niemand mehr den Fußballspielen und Autorennen Beachtung. Dass Donatella, die siebzehn ist, heimliche Briefe mit Santo wechselt, entgeht ihrer kleinen Schwester nicht. Gaia folgt den beiden in die Kapelle, und was sie sieht, setzt für eine Weile das Gerücht in die Welt, Santo habe Donatella vergewaltigt.

Ganz unbeachtet von den Töchtern und ihrem Mann hat sich die Wirtin Anna Lippi in Santos Lotterlager geschlichen, um jenseits der Vierzig ihrem Kinderwunsch eine letzte Chance zu geben. Santo betrügt, bestiehlt und verletzt sie alle, aber mit einer unbekümmerten Offenheit. Er ist die Summe jener Enttäuschungen, die sie sich selbst bereiten. Zum großem Drama reicht das nicht, lediglich ab und an zu heftigen Regengüssen.

Der toskanische Herbst ist wie geschaffen für einen Gesellschaftsroman der kleinen Form, mit mancherlei Spiegelungen und episodischen Verzweigungen. Ein wenig von Heinrich Manns "Kleiner Stadt" schwingt mit: Szenen von operettenhafter Milde, in denen niemand ernstlich zu Schaden kommt. So weit, so gut, aber nicht für Dagmar Leupold. Es muss sie gereizt haben, ihr eigenes Spiel zu durchkreuzen und auf die Schelmengeschichte des heiligen Freaks anderthalb zu setzen. Sie torpediert den Erzählduktus immer wieder mit frotzelnden Zwischenbemerkungen und mit Sonderzeichen, wie sie den Benutzern elektronischer Schreibprogramme manchmal unfreiwillig unterkommen. Wenn die Geschichte erzählt ist, rebellieren die Zeichen. Diese allerdings haben bei allem Jokus doch ein präzises "Epizentrum", wie man es nennen muss, denn sie spielen an auf das Erdbeben, das vor zwei Jahren Ende September die Fresken von Assisi weitgehend zerstörte. Nur in Andeutungen und der Skandierung ikonischer Zeichenketten verrät sich die unerhörte Begebenheit; das Beben findet zwischen den Zeilen statt.

Ausführlich entwickelt wird dagegen eine zweite große Handlungslinie, die ebenfalls von Berlin aus in die Toskana führt. Es ist die Geschichte vom Wiedersehen unter Schulfreunden. Die Freundin aus Santos Schule heißt Irene Sanft und bezahlt für ihren Namen mit einer zielbewussten Karriere, für diese wiederum mit einer rasch und schmerzlos gescheiterten Ehe. Irene also gönnt sich zwei Wochen Pauschal-Toskana im Reisebus. Zuvor lernt sie eifrig Vokabeln, deren Aussprache sie vom Pizzaausträger überprüfen lässt - und wieder fallen die Sprachzeichen auf sich selbst zurück, denn der Mann ist aus Albanien und grinst verständnislos.

In kontrapunktischem Wechsel zur Entfaltung der Dorfgeschichten steuert Irene stetig und unwissentlich auf die Wiederbegegnung mit dem roten Hannes aus ihrer Klasse zu, als sei da noch etwas anderes unerledigt geblieben als nur die Schularbeiten. In Florenz erwartet ihr Reiseziel sie zunächst mit dem bildungsbürgerlichen Pflichtpensum. Das heitere, elegante Panorama ist allerdings getrübt durch einen kräftigen Schuss Öko-Realismus. "Ein grandios pastellfarbener Himmel spannte sich zu den Hügeln am gegenüberliegenden Ufer. Gelbgrau, Zartlila, Blassrosa - Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid, Ozon."

Selbstverständlich ist es Hannes, der Irenes Reisegruppe am Monte Siepi durch die Kirche führt und sie mit Selbsterfundenem unterhält; die Bustouristen nur für zwei Stunden, Irene etwas länger. Allzu bereitwillig lässt sie die Gruppe ziehen und verlängert den Urlaub eigenmächtig um eine Woche, obwohl aus Berlin zu hören ist, dass ihre Wohnung von Einbrechern verwüstet wurde. Irenes Bleiben erweist sich als Fehler, denn mit ihrem Interesse wächst Santos Gleichgültigkeit. Vor dem verabredeten Essen an ihrem letzten Abend ist Santo verschwunden, und mit ihm Irenes Wertsachen und Kamera. Die kleinen Widerwärtigkeiten haben freilich ihre Funktion in der erzählerischen Ökonomie, denn die sanfte Irene betätigt sich zuweilen als miese und nur mäßig erfolgreiche Versicherungsbetrügerin. Genommen also wird ihr wahrscheinlich nur, was sie längst als gestohlen deklarierte und ersetzt bekam.

Frau Sanft und ihr Santo sind Komplementärfiguren, spiegelbildlich scheiternde Helden der Anpassung. Die Autorin denkt nicht daran, sie dafür zu bedauern oder zu verurteilen. Sie verschwenden ihre Zeit, sie verbringen ihren Urlaub, aber höchstens bis zum Ende der Saison. "Dann kam der Abend und mit ihm eine Ahnung von Irrtum oder einfach nur Müdigkeit." Die kleine Gaia wendet sich wichtigeren Fragen zu. Sie hat ein krankes Hündchen aufgelesen und mit nach Hause genommen; mit ihrer Schwester streitet sie sich, ob der Welpe nun "Maldini" heißen soll oder doch lieber "Baggio" und wer wohl im kommenden Jahr Fußballweltmeister wird. Nachdem Santo verschwunden ist, beschließt man im Ort, einen Nachfolger für den Heiligendarsteller zu heuern, denn mit Reisebussen ist auch in der nächsten Saison zu rechnen.

Dagmar Leupold: "Ende der Saison". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. 224 S., geb., 36,- DM.

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"Ein Buch wie ein Urlaub... Dagmar Leupolds ebenso kunstvoller wie unterhaltsamer Toskana-Roman ist ein Reigen feinfühlig beobachteter, scharf konturierter Figuren - ein Karussell menschlicher Wünsche, Hoffnungen und Enttäuschungen." (tz)