Seit seinem Erscheinen 1998 hat dieses Buch wahrlich Furore gemacht.
Es ist eine zukunftsorientierte Handlungsanleitung der De-Institutionalisierung und gleichzeitig der Rechenschaftsbericht über die Entlassung von 435 Langzeitpatienten aus der Westfälischen Klinik Gütersloh in den Jahren zwischen 1981 und 1996.
Es ist eine zukunftsorientierte Handlungsanleitung der De-Institutionalisierung und gleichzeitig der Rechenschaftsbericht über die Entlassung von 435 Langzeitpatienten aus der Westfälischen Klinik Gütersloh in den Jahren zwischen 1981 und 1996.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.1999Betreutes Bretterbohren
Klaus Dörner weist Auswege aus der Psychiatrie als totaler Institution
Am 6. August 1928 schrieb die neunzehn Jahre alte Elisabeth H. aus der Provinzialheilanstalt Gütersloh an ihre Pflegeeltern: "Hier ist mein junges Leben hin. Ist das nicht traurig, qualvolles Dasein da immer in der Anstalt zu liegen." Ihr Hilferuf verhallte ungehört. 1993 verstarb Frau H. nach achtundsechzig Jahren ununterbrochenem Anstaltsaufenthalt. Sie wurde auf dem Friedhof der Westfälischen Klinik Gütersloh begraben.
Diese "Krankenkarriere" ist kein Einzelschicksal, auch wenn sich seit der Psychiatriereformbewegung der siebziger Jahre für viele Langzeitpatienten die Anstaltstore geöffnet haben. Damals wurde damit begonnen, die Bettenzahl in den psychiatrischen Großkliniken drastisch zu reduzieren. Die Mehrzahl der Patienten entließ man allerdings nicht in die - von den Betroffenen übrigens nicht immer ersehnte - "Freiheit", sondern brachte sie in Heimen unter.
Doch eine solche "Enthospitalisierung" ging manchen Reformern nicht weit genug. Zu ihnen gehört Klaus Dörner, ein vehementer Streiter für die Rechte psychisch kranker Menschen. Als Dörner 1980 Klinikleiter in Gütersloh wurde, setzte er alles daran, unter Beweis zu stellen, daß Menschen mit chronischen psychischen Störungen durchaus in der Lage sind, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und ein Leben außerhalb "totaler Institutionen" (Erving Goffman) zu führen.
Jetzt legen die beteiligten Mitarbeiter an diesem Projekt eine Art Rechenschaftsbericht über die Entlassung aller 435 Langzeitpatienten des Landeskrankenhauses Gütersloh im Zeitraum von 1981 bis 1996 vor. In der ersten Phase (1981 bis 1992) wurden noch 27 Prozent der Patienten in Wohn-, Alten- und Pflegeheime entlassen, in der zweiten waren es nur noch dreizehn Prozent. Diese Zahlen stehen im scharfen Kontrast zu dem Bild, das eine Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie aus dem Jahre 1996 zeichnet. Danach wurden in sechs Bundesländern (darunter sowohl alte als auch neue) in den Jahren 1992 bis 1995 etwa 2500 Langzeitpatienten entlassen, von denen allerdings drei Viertel weiterhin in Heimen untergebracht wurden.
Daß die Gütersloher Zahlen erheblich niedriger liegen, hat damit zu tun, daß Klaus Dörner und seine Mitarbeiter sich die Sache nicht so einfach machten und alles taten, um für die entlassungswilligen Langzeitpatienten eine individuelle Lösung und Unterbringung außerhalb eines Heimes (vor allem im Rahmen des "betreuten Wohnens") zu finden. Dabei wurde nicht etwa auf eine Modellfinanzierung zurückgegriffen, sondern man schöpfte einfach die Möglichkeiten aus, die das deutsche Sozialversicherungssystem bietet. Daß eine konsequente Deinstitutionalisierung auf Dauer zu erheblichen Einsparungen im Gesundheitssektor führen kann, belegen die Erfahrungen, die man in Gütersloh gesammelt hat. Danach belaufen sich die monatlichen Kosten für die Unterbringung einer Person im "betreuten Wohnen" auf zwischen 4160 Mark und 2086 Mark, während die vollstationäre Versorgung in einer psychiatrischen Klinik mit rund 8610 Mark pro Monat zu veranschlagen ist.
Daß das Gütersloher Modell bislang kaum Schule gemacht hat, hängt sicherlich damit zusammen, daß es nicht allen klinischen Psychiatern, Sozialarbeitern und Behörden leichtfällt, das zu praktizieren, was Klaus Dörner unter "Psychiatrie vom anderen her denken" versteht. Auch zu einer Psychiatriereform im kleinen bedarf es des sprichwörtlichen "Bohrens dicker Bretter" (Max Weber). In Gütersloh hat man aus Rückschlägen und Fehlern gelernt. Entscheidend für den Erfolg war nicht zuletzt, daß sich die Mitarbeiter an diesem Experiment in die Lage des anderen hineinversetzten, und zwar nicht nur in die des betreffenden Patienten. So ist zum Beispiel bemerkenswert, daß ungefähr die Hälfte der Gütersloher Expatienten bei der Nacherhebung die Meinung vertrat, daß ihre Angehörigen der Entlassung positiv gegenübergestanden und sie zu diesem Schritt ermutigt hätten.
Kritisch ist lediglich anzumerken, daß Dörner, der sich ja auch als Psychiatriehistoriker einen Namen gemacht hat, seine durchaus bedenkenswerten Überlegungen zur Zukunft der psychiatrischen Versorgung mit längst von der Forschung widerlegten geschichtlichen Mythen (so die angeblich seit 1800 zu beobachtende Auflösung der familiären Selbsthilfegemeinschaft) zu untermauern versucht. ROBERT JÜTTE
Klaus Dörner (Hrsg.): "Ende der Veranstaltung". Anfänge der Chronisch-Kranken-Psychiatrie. Verlag Jakob van Hoddis, Gütersloh 1998. 397 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klaus Dörner weist Auswege aus der Psychiatrie als totaler Institution
Am 6. August 1928 schrieb die neunzehn Jahre alte Elisabeth H. aus der Provinzialheilanstalt Gütersloh an ihre Pflegeeltern: "Hier ist mein junges Leben hin. Ist das nicht traurig, qualvolles Dasein da immer in der Anstalt zu liegen." Ihr Hilferuf verhallte ungehört. 1993 verstarb Frau H. nach achtundsechzig Jahren ununterbrochenem Anstaltsaufenthalt. Sie wurde auf dem Friedhof der Westfälischen Klinik Gütersloh begraben.
Diese "Krankenkarriere" ist kein Einzelschicksal, auch wenn sich seit der Psychiatriereformbewegung der siebziger Jahre für viele Langzeitpatienten die Anstaltstore geöffnet haben. Damals wurde damit begonnen, die Bettenzahl in den psychiatrischen Großkliniken drastisch zu reduzieren. Die Mehrzahl der Patienten entließ man allerdings nicht in die - von den Betroffenen übrigens nicht immer ersehnte - "Freiheit", sondern brachte sie in Heimen unter.
Doch eine solche "Enthospitalisierung" ging manchen Reformern nicht weit genug. Zu ihnen gehört Klaus Dörner, ein vehementer Streiter für die Rechte psychisch kranker Menschen. Als Dörner 1980 Klinikleiter in Gütersloh wurde, setzte er alles daran, unter Beweis zu stellen, daß Menschen mit chronischen psychischen Störungen durchaus in der Lage sind, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und ein Leben außerhalb "totaler Institutionen" (Erving Goffman) zu führen.
Jetzt legen die beteiligten Mitarbeiter an diesem Projekt eine Art Rechenschaftsbericht über die Entlassung aller 435 Langzeitpatienten des Landeskrankenhauses Gütersloh im Zeitraum von 1981 bis 1996 vor. In der ersten Phase (1981 bis 1992) wurden noch 27 Prozent der Patienten in Wohn-, Alten- und Pflegeheime entlassen, in der zweiten waren es nur noch dreizehn Prozent. Diese Zahlen stehen im scharfen Kontrast zu dem Bild, das eine Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie aus dem Jahre 1996 zeichnet. Danach wurden in sechs Bundesländern (darunter sowohl alte als auch neue) in den Jahren 1992 bis 1995 etwa 2500 Langzeitpatienten entlassen, von denen allerdings drei Viertel weiterhin in Heimen untergebracht wurden.
Daß die Gütersloher Zahlen erheblich niedriger liegen, hat damit zu tun, daß Klaus Dörner und seine Mitarbeiter sich die Sache nicht so einfach machten und alles taten, um für die entlassungswilligen Langzeitpatienten eine individuelle Lösung und Unterbringung außerhalb eines Heimes (vor allem im Rahmen des "betreuten Wohnens") zu finden. Dabei wurde nicht etwa auf eine Modellfinanzierung zurückgegriffen, sondern man schöpfte einfach die Möglichkeiten aus, die das deutsche Sozialversicherungssystem bietet. Daß eine konsequente Deinstitutionalisierung auf Dauer zu erheblichen Einsparungen im Gesundheitssektor führen kann, belegen die Erfahrungen, die man in Gütersloh gesammelt hat. Danach belaufen sich die monatlichen Kosten für die Unterbringung einer Person im "betreuten Wohnen" auf zwischen 4160 Mark und 2086 Mark, während die vollstationäre Versorgung in einer psychiatrischen Klinik mit rund 8610 Mark pro Monat zu veranschlagen ist.
Daß das Gütersloher Modell bislang kaum Schule gemacht hat, hängt sicherlich damit zusammen, daß es nicht allen klinischen Psychiatern, Sozialarbeitern und Behörden leichtfällt, das zu praktizieren, was Klaus Dörner unter "Psychiatrie vom anderen her denken" versteht. Auch zu einer Psychiatriereform im kleinen bedarf es des sprichwörtlichen "Bohrens dicker Bretter" (Max Weber). In Gütersloh hat man aus Rückschlägen und Fehlern gelernt. Entscheidend für den Erfolg war nicht zuletzt, daß sich die Mitarbeiter an diesem Experiment in die Lage des anderen hineinversetzten, und zwar nicht nur in die des betreffenden Patienten. So ist zum Beispiel bemerkenswert, daß ungefähr die Hälfte der Gütersloher Expatienten bei der Nacherhebung die Meinung vertrat, daß ihre Angehörigen der Entlassung positiv gegenübergestanden und sie zu diesem Schritt ermutigt hätten.
Kritisch ist lediglich anzumerken, daß Dörner, der sich ja auch als Psychiatriehistoriker einen Namen gemacht hat, seine durchaus bedenkenswerten Überlegungen zur Zukunft der psychiatrischen Versorgung mit längst von der Forschung widerlegten geschichtlichen Mythen (so die angeblich seit 1800 zu beobachtende Auflösung der familiären Selbsthilfegemeinschaft) zu untermauern versucht. ROBERT JÜTTE
Klaus Dörner (Hrsg.): "Ende der Veranstaltung". Anfänge der Chronisch-Kranken-Psychiatrie. Verlag Jakob van Hoddis, Gütersloh 1998. 397 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Dieses ist ein außerordentlich wichtiges Buch! Es erzählt eine wahre Geschichte, die es so nie wieder geben wird, es dokumentiert Erfahrungen, die, wenn man so will, Epoche machen und historisch sind." (Ursula Plog in 'Dr. med. Mabuse')
"Allein in Gütersloh, mit einem Einzugsbereich von einer Million Menschen, konnten jedes Jahr 15 Millionen Mark Steuergelder gespart werden." (Michael Emmrich, Frankfurter Rundschau)
"Soll also zukünftig keine/r mehr behaupten, es ginge nicht". (Hartwig Hansen, Brückenschlag - Zeitschrift für Sozialpsychiatrie. Literatur. Kunst")
"Ende der Veranstaltung ist eines der wichtigsten Bücher, das ich in letzter Zeit gelesen habe. Es ist ein sehr notwendiges Buch." (Klaus Weise, Sozialpsychiatrische Informationen)
"Ein Buch voll spannender und zum Teil revolutionärer Ideen, das viele Mauern niederreißt, nicht nur die Klinikmauern für die Langzeitpatienten in Gütersloh." (Beatrix Brunelle, Psychosoziale Umschau)
"Allein in Gütersloh, mit einem Einzugsbereich von einer Million Menschen, konnten jedes Jahr 15 Millionen Mark Steuergelder gespart werden." (Michael Emmrich, Frankfurter Rundschau)
"Soll also zukünftig keine/r mehr behaupten, es ginge nicht". (Hartwig Hansen, Brückenschlag - Zeitschrift für Sozialpsychiatrie. Literatur. Kunst")
"Ende der Veranstaltung ist eines der wichtigsten Bücher, das ich in letzter Zeit gelesen habe. Es ist ein sehr notwendiges Buch." (Klaus Weise, Sozialpsychiatrische Informationen)
"Ein Buch voll spannender und zum Teil revolutionärer Ideen, das viele Mauern niederreißt, nicht nur die Klinikmauern für die Langzeitpatienten in Gütersloh." (Beatrix Brunelle, Psychosoziale Umschau)