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Über die "Endlösung" wurde viel geschrieben, aber die politischen Entscheidungsprozesse, die der Tat vorausgingen, liegen noch immer im dunkeln. Die Mörder hatten die Dokumente weitgehend verbrannt und logen später nach Kräften. Auch wenn das Wissen über den Holocaust fragmentarisch bleiben wird, so gelingt es Götz Aly doch, die Entscheidungsgeschichte in einer Gründlichkeit zu rekonstruieren, wie das bisher noch nicht versucht wurde. Sein Buch endet mit dem Konsenspapier der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. Es beginnt mit dem 1. September 1933. Denn so amoralisch und rassistisch die…mehr

Produktbeschreibung
Über die "Endlösung" wurde viel geschrieben, aber die politischen Entscheidungsprozesse, die der Tat vorausgingen, liegen noch immer im dunkeln. Die Mörder hatten die Dokumente weitgehend verbrannt und logen später nach Kräften. Auch wenn das Wissen über den Holocaust fragmentarisch bleiben wird, so gelingt es Götz Aly doch, die Entscheidungsgeschichte in einer Gründlichkeit zu rekonstruieren, wie das bisher noch nicht versucht wurde. Sein Buch endet mit dem Konsenspapier der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. Es beginnt mit dem 1. September 1933. Denn so amoralisch und rassistisch die antijüdische Politik in Deutschland schon seit 1933 angelegt war, so wurden die wichtigsten Bedingungen, die zur "Endlösung" führten, doch erst im Krieg geschaffen: "Jetzt", notierte Goebbels im März 1942 zur "Judenfrage", "haben wir eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die uns im Frieden verwehrt sind. Die müssen wir ausnützen." Die Dokumente, die der Autor in russischen, polnischen und deutschen Archiven neu erschlossen hat, lassen sichtbar werden, daß es den einen "Entschluß" nicht gab: Der Mord an den europäischen Juden wurde weder an einem Tag noch von einer Person noch für alle Juden gleichzeitig beschlossen. Vielmehr handelte es sich um einen für die Verhältnisse des "Führerstaates" ungewöhnlich langen und komplexen Entscheidungsprozeß.
Autorenporträt
Aly, Götz
Götz Aly ist Historiker und Journalist. Er arbeitete für die 'taz', die 'Berliner Zeitung' und als Gastprofessor. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt. 2002 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis, 2003 den Marion-Samuel-Preis, 2012 den Ludwig-Börne-Preis. Zuletzt veröffentlichte er bei S. Fischer 2011 'Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933' sowie 2013 'Die Belasteten. 'Euthanasie' 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte'. Im Februar 2017 erschien bei S. Fischer seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust 'Europa gegen die Juden 1880-1945'. Für dieses Buch erhält er im November 2018 den Geschwister-Scholl-Preis.Literaturpreise:Heinrich-Mann-Preis für Essayistik der Akademie der Künste Berlin 2002 Marion-Samuel-Preis 2003 Bundesverdienstkreuz am Bande 2007 National Jewish Book Award, USA 2007 Ludwig-Börne-Preis 2012
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.1995

Vernichtungswille und selbstgemachter Sachzwang
Götz Alys These über den Zusammenhang von Umsiedlungspolitik und Judenmord

Götz Aly: "Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1995. 446 Seiten, 48,- Mark.

Eine Debatte erregt seit mehr als einem Jahrzehnt die Gemüter der Zeithistoriker: Gab es einen ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers zum organisierten Massenmord an den europäischen Juden? Oder spielte das Prinzip des "vorauseilenden Gehorsams" die entscheidende Rolle? Alle Argumente sind ausgetauscht, alles ist gesagt. Jedenfalls scheint es so. Im Kern läßt sich die Debatte auf zwei Positionen reduzieren. Die einen sind davon überzeugt, nur Hitler habe im hierarchisch strukturierten NS-Staat die Macht und die Möglichkeit gehabt, den Massenmord zu bewirken. Die anderen bezweifeln, daß es einen solchen "Entschluß" gegeben habe, auch daß er überhaupt notwendig gewesen sei: Sie sprechen von einem schleichenden Prozeß der "kumulativen Radikalisierung" (Hans Mommsen), an dessen Ende, fast wie von selbst, die Vernichtungslager gestanden hätten. Ob ein Vernichtungsbefehl existiert hat, mag für die Historiker wichtig sein. Die interessierte Öffentlichkeit fragt eher nach dem Warum.

Eine neue Sicht

Mit den politischen Entscheidungsprozessen, die der "Tat" vorausgingen, befaßt sich auch die Studie des Zeithistorikers Götz Aly, der in den letzten Jahren bereits mit einer Reihe wichtiger Arbeiten zur Geschichte des Nationalsozialismus hervorgetreten ist. Seine neue Studie birgt Sprengstoff. Aly beginnt zwar konventionell mit der Erörterung des Entscheidungsprozesses, von dem er meint, er sei für die Verhältnisse des "Führerstaates" ungewöhnlich lang und komplex gewesen. Doch bemerkt man bald, daß es Aly darum geht, traditionelle Interpretationen in Frage zu stellen. Das Erklärungsmodell, das er für die sogenannte "Endlösung" vorstellt, ist brisant. Sollte es sich in allen Punkten als zutreffend erweisen, wird es nicht nur in der Zeitgeschichtsschreibung neue Fragen aufwerfen, sondern auch eine neue Sicht des NS-Judenmordes zur Folge haben.

Nach Aly haben Himmler, Heydrich, Eichmann und die anderen "Vordenker der Vernichtung" die biologische "Endlösung" der "Judenfrage" erst im Frühjahr 1941 ernsthaft ins Auge gefaßt. Bis zu diesem Zeitpunkt hätten sie nur in den Kategorien des "Abschiebens" oder "Deportierens" gedacht. Zwischen 1939 und 1941 habe es verschiedene Vorschläge gegeben, die eindeutig nicht auf "Vernichtung", sondern, wie es in der einschlägigen Terminologie heißt, auf "ethnische Flurbereinigung" abzielten. Aly erhebt in diesem Zusammenhang gegenüber renommierten Wissenschaftlern, so etwa gegenüber dem Historiker Theodor Schieder, damals einunddreißig Jahre alter Assistent, schwere Beschuldigungen. Sie hätten, so behauptet Aly, mit Denkschriften tatkräftig mitgeholfen, die Grundlagen für die Siedlungs-und Deportationspolitik des NS-Regimes zu formulieren.

Daß bei den Überlegungen der Wissenschaftler und der Umsiedlungsbürokraten der Tod Hunderttausender in Kauf genommen wurde, steht für Aly außer Frage. Die Verantwortlichen hätten keinerlei Gewissensbisse, nur ihren Auftrag im Kopf gehabt - und kühl kalkuliert. Es stehe fest, daß sie gewußt hätten, daß die Zahl der Deportierten allein schon durch Hunger, Zwangsarbeit und mangelnde medizinische Versorgung erheblich vermindert werden würde. Bis heute werde dieser Sachverhalt mit einem Mantel des Schweigens umhüllt.

Typisch für dieses zielgerichtete Denken sind von Aly zitierte Äußerungen von hohen Funktionsträgern des NS-Regimes. Am 20. November 1939 zum Beispiel vertrat der SS-Brigadeführer Schmidt gelegentlich einer Inspektionsreise des stellvertretenden Generalgouverneurs Arthur Seyß-Inquart die Meinung, das Gebiet am San eigne sich "mit seinem stark sumpfigen Charakter" als Judenreservat, weil man dort "womöglich eine starke Dezimierung der Juden herbeiführen könnte". Heinrich Himmler bemerkte etwa zur selben Zeit über die polnischen Juden: "Es wird höchste Zeit, daß dieses Gesindel zusammengetrieben wird, in Ghettos, und dann schleppt Seuchen hinein und laßt sie krepieren."

Das sind Äußerungen aus dem Herbst 1939. Sie zeigen, daß bereits zu diesem Zeitpunkt spezielle Anweisungen nicht nötig waren. Der spätere organisierte Judenmord war bereits so weit "verinnerlicht", daß es zu dessen Durchführung nur noch kleiner, fast unbemerkbar vor sich gehender Schritte bedurfte. Das sah so aus, daß am Anfang die Überzeugung stand, daß etwas geschehen müsse, dann kam die politische Willensbildung und schließlich die Praxis.

Der seit dem Mittelalter tief verwurzelte Glaube, daß man sich der Juden handgreiflich erwehren müsse, hatte nach 1933 in breiten Schichten der Bevölkerung geradezu die Form des kollektiv-religiösen Wahns angenommen, der dadurch noch verstärkt wurde, daß Juden nicht der Gattung Mensch zugerechnet, sondern mit Ungeziefer gleichgesetzt wurden. Die Idee, sie zu "vernichten", hatte denn auch die Konsequenz, daß man sich ihrer mit dem gleichen Mittel entledigen wollte, mit dem üblicherweise in deutschen Häusern gegen Ungeziefer vorgegangen wird - nämlich Giftgas.

Umsiedlung und Mord

Für einige Aufregung wird die zentrale These des Buches sorgen, die besagt, daß es einen direkten Zusammenhang zwischen der Ermordung der Juden und der Umsiedlung der Volksdeutschen gab. Aly weist darauf hin, daß zahllose Dokumente diesen Sachverhalt eindeutig untermauerten. Insbesondere sind es Aktenvermerke, Fernschreiben und Protokolle Eichmanns und seiner Mitarbeiter, die für jedermann zugänglich seit Jahrzehnten im Warschauer Archiv der Hauptkommission zur Verfolgung der Hitlerverbrechen lagern. Die Holocaust-Historiker haben diese und andere Akten aus unerfindlichen Gründen bisher nicht für ihre Studien herangezogen, vermutlich weil sie die Rassen- und Umsiedlungspolitik isoliert betrachteten und nicht im Zusammenhang mit der Judenpolitik des NS-Regimes analysierten. Nach Aly hätten sie nicht erkannt, daß die Projekte "Siedlungspolitik/Lebensraum" und "Lösung der Judenfrage" zusammengehörten, was nach seiner Ansicht schon dadurch belegt werden könnte, daß diese Projekte institutionell zusammengefaßt von ein und derselben Person - Himmler - verantwortet wurden.

Es ist kaum glaubhaft, aber es scheint so, als ob der "Lösung der Judenfrage" anfänglich ein rational durchdachtes Konzept zur "Neuordnung Europas" zugrunde lag. Himmler, der "Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei", hatte unmittelbar nach Kriegsausbruch 1939 die bisher wenig bekannte Aufgabe des "Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums" (RKF) erhalten. In dieser Funktion war er mit mehreren tausend Mitarbeitern und einem Dutzend neugeschaffener Institutionen bemüht, rund 500000 Volksdeutsche aus dem Baltikum, aus Südtirol, aus Wolhynien und Bessarabien, aus der Bukowina und der Dobrudscha "heim ins Reich" zu führen.

Die Umsiedlungspläne zielten anfänglich nur auf das besetzte Polen. In den eingegliederten polnischen Ostgebieten, dem sogenannten Reichsgau Wartheland, wo bis zur Besetzung durch die Wehrmacht rund acht Millionen Menschen gelebt hatten, darunter 550000 Juden, sollten nun Volksdeutsche angesiedelt werden. Vorgesehen war, die bis dahin dort lebenden "Fremdvölkischen", Polen und Juden also, in großen Zahlen ins östliche Generalgouvernement abzuschieben und die "heimkehrenden" Volksdeutschen in den "freigemachten" Wohnungen und Häusern unterzubringen. Im Vollzug der Umsiedlungspläne geschah das dann auch. Nicht ohne Stolz berichtete das Stabshauptamt des RKF Ende 1942: "Im wesentlichen wurde die Wiederansiedlung der Umsiedler durch entschädigungslose Verwertung früheren fremdvölkischen Vermögens - also ohne Inanspruchnahme von Reichsmitteln - finanziert."

Die Nah-, Fern- und Generalpläne konnten jedoch nicht so umgesetzt werden, wie sich das Himmler, Eichmann und die Heim-ins-Reich-Mitarbeiter wohl anfangs dachten. Das Scheitern von Abschiebungs- beziehungsweise Deportationsprojekten wie das "Judenreservat Lublin" oder der "Madagaskar-Plan" legitimierten statt dessen weitere, immer radikalere Schritte ethnischer Segregation. Sach- und Handlungszwänge entstanden, die wiederum entsprechende "judenpolitische" Entscheidungen zur Folge hatten. Aly nennt insbesondere den Plan Heydrichs vom Frühjahr 1941, den Hitler, Göring und Himmler kannten und vermutlich gebilligt hatten, der vorsah, die Juden mit den "natürlichen" Mitteln Hunger, Kälte und Zwangsarbeit zu vernichten - und zwar in den nordöstlichen Regionen der zu erobernden Sowjetunion.

Alys empirischer Befund kommt zu dem Schluß, daß das Konzept der "Endlösung" nicht auf einen eindeutigen Vernichtungsbefehl Hitlers zurückgeht, sondern sich sukzessiv in den Köpfen festsetzte und dann verselbständigte. Die Zwänge, die sich aus der deutschen Kriegsführung und der Heim-ins-Reich-Politik ergaben, beeinflußten zunehmend die jeweils gedachte Form des Projekts der "Lösung der Judenfrage" und führten zu immer radikaleren Entwürfen.

Der selbstauferlegte Druck, der durch die Undurchführbarkeit der Deportationsprojekte, durch die Probleme der Ansiedlung der Volksdeutschen, vor allem aber durch das Scheitern der Kriegsziele im Osten verstärkt wurde, führte schließlich dazu, daß Hitler, die Führungsspitzen des Reiches und die ihnen zuarbeitenden Beamten und Berater die physische Vernichtung der Juden als die einfachste Art der Realisierung ihrer Pläne ansahen. Der Massenmord wurde zum allseits akzeptierten Kalkül. JULIUS H. SCHOEPS

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