War das Glück immer nur eine Illusion? Johanna versucht ihren biografischen Standort zu bestimmen, rückblickend, vergleichend und ratlos.
"Monika Maron hat ein mutiges Buch geschrieben. Es trifft die Seelenlage der Nation wie kaum ein anderes in diesem Herbst." Tilman Krause, Die Welt
"Monika Maron hat ein mutiges Buch geschrieben. Es trifft die Seelenlage der Nation wie kaum ein anderes in diesem Herbst." Tilman Krause, Die Welt
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Sommerhaus, älter
Was nach dem Rückzug liegenbleibt: Monika Maron blickt Gletschern nach / Von Friedmar Apel
Nach Richard von Weizsäckers gutgemeinter Aufforderung hätten die Deutschen nach der Wende ein einig Volk von Erzählern werden sollen, die immerfort beieinander sitzen und von ihrem Erleben und Erleiden in Ost oder West berichten. Tatsächlich war in der Folge ein Anschwellen biographischer Mitteilungen zu verzeichnen, ob sie das Verständnis verbessert haben, wie es sich der Bundespräsident erhoffte, steht dahin. Es waren nicht nur die Stasi-Unterlagen, die eine Diskussion um geschönte, erfundene oder enteignete Biographien auslösten, sondern auch die Berichte der letzten Überlebenden der Nazi-Diktatur. Das Mißtrauen gegenüber all den Erzählungen von Opfern und Tätern, offenem oder subversivem Widerstand, von Bescheidung, Solidarität und menschlicher Wärme, scheint ebenso gewachsen zu sein wie die Abneigung gegen die gradlinigen Geschichten wohlstandsbürgerlicher Erfolgsmenschen. Manche, die sich gut verstanden, hätten vielleicht voneinander lieber weniger erfahren.
Auch die aus dem Mangel an Zukunftschancen erwachsene Idee der "Bastelidentität" zehrt noch vom stolzen Diktum der modernen Anthropologie, der Mensch als frei handelndes Wesen sei nur, was er aus sich mache. Biographie erscheint da rückblickend als Folge von Ereignissen, die auch anders hätten geschehen können. Die Propaganda der Individualisierung hält die Vorstellung eines in freier Wahl gestalteten Lebens aufrecht, während Naturwissenschaften und Psychologie den Einfluß, den genetische Ausstattung, frühe Prägung, gattungsspezifische Verhaltensweisen und Umweltbedingungen auf menschliches Handeln ausüben, immer höher veranschlagen.
Das alles könnte die Frage, wie denn ein Leben erzählt werden kann, als erledigt erscheinen lassen. Vielleicht ist es ja der menschlichen und natürlichen Gegenwart und Zukunft förderlicher, kurz abzutun wie und warum wir geworden sind, um sich dem zuzuwenden, was jetzt zu leisten ist. Die Natur scheint es zu lehren: Endmoränen sieht man in der blühenden Landschaft nicht mehr an, daß sie einmal das Geröll waren, daß der eiszeitliche Gletscher vor sich herwälzte, um es bei seinem Rückzug achtlos liegenzulassen. Monika Marons neuer Roman aber zeigt in ambivalenter Auslegung seines Titels, wie sehr uns bei allem Mißtrauen gegen die selektive Konstruktion an erzählter und nach dem Stand des menschlichen Wissens reflektierter Biographie gelegen sein muß. Denn nur in der Form der Erzählung kann ermessen werden, welcher Spielraum der Wahrnehmung und des Handelns bleibt, gerade weil das Wissen längst schon von keinem einzelnen mehr zu überschauen und überdies wankelmütiger ist denn je.
Die Ich-Erzählerin Johanna hat einst das Erzählen als existentiell begriffen: "ich führte ein Doppelleben, ein wirkliches und ein erzähltes, wobei sich das eine vom anderen kaum unterschied, nur verstand ich, was ich erlebt hatte, erst indem ich es erzählte oder mir vorstellte, was geschehen wäre, hätte ich jeweils die andere Entscheidung getroffen". Zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik hat sie ihr Leben mit biographischen Vor- und Nachworten gefristet. Das war weder eine besonders einträgliche noch erfolgreiche Tätigkeit, aber eine sinnvolle. Denn Biographien eigneten sich damals besser noch als Romane dazu, geheime Botschaften der Widerständigkeit am Zensor vorbeizuschmuggeln, und den Aufmerkenden ein Bild der Selbstbehauptung des Individuums zu vermitteln. An ihrer Seite beugte sich ihr Mann Achim über die Werke Heinrich von Kleists und drehte der Wirklichkeit von Partei und Staat, freilich zunehmend auch Johanna, den Rücken zu. Die Wende aber hat sie als Wunder erlebt, belacht und gefeiert. "Daß ich endlich aufhören durfte zu kämpfen, gehörte zum Schönsten."
Aber nun vermißt sie eben das. "Früher war es wichtig Solschenizyn und Koestler zu lesen und weiterzugeben. Es war schon wichtig, einfach nur gegen den Staat zu sein, mehr mußte man gar nicht tun, um wichtig zu sein. Natürlich war das eine ganz idiotische Wichtigkeit, trotzdem fehlt sie mir." Während andere ein neues Leben angefangen haben, Bundestagspräsident geworden sind oder Redakteur bei der Zeitung, die sie vorher nie gedruckt hätte, erforscht Johanna immer noch anderer Leute Leben. Aber es erfüllt sie nicht mehr, "weil Biografien eben nur noch Biografien waren und niemand mehr auf die Idee kam, in ihnen nach geheimen Botschaften zu suchen". Trotzdem hat sie sich verpflichtet, die Lebensgeschichte Wilhelmine Enkes, der Geliebten Friedrich Wilhelms II., der späteren Gräfin Lichtenau zu schreiben.
Daran wird ihr der Bedeutungswandel erst recht deutlich. "Vor fünfzehn Jahren hätte allein der Hinweis auf das verschollene Grabmal der Gräfin Lichtenau eine simple Biografie in eine Protestschrift verwandelt, weil das Grab der Gräfin Lichtenau 1961 in den Todesstreifen zwischen Ost- und West-Berlin einplaniert worden war." Damals hätte die Biographie Gleichnis und Lehre sein können, nun ist sie nur noch undeutliche Spiegelung der Entbehrungen einer auf sich selbst zurückgeworfenen Individualität. Wilhelmine Enke erscheint der grübelnden Johanna in der Einsamkeit ihres Sommerhauses in der nordöstlichen Moränenlandschaft als eine, die noch wußte, wie man um sein Glück kämpft. Ihr aber scheint jeder Selbstbehauptungswille abhanden gekommen zu sein, und in liebevollem Neid blickt sie auf ihre Tochter Laura, die schnell amerikanisch geworden ist, den Erfolg will und bereit ist, auch die Niederlage auf sich zu nehmen und nicht den Verhältnissen anzulasten.
Derart beschreibt der Text einen Sommer wiederholter Spiegelungen, in denen Johanna aufgeht, was sie aus sich nicht gemacht hat. Dabei scheint ihr Selbstbild zunehmend zu verfallen. Noch der Gedanke an die Bewunderung, die ihre verwachsene Studienfreundin Irene, die sie vergessen hatte, ihr noch bei ihrem frühen Tod entgegengebracht haben könnte, verwandelt sich unversehens in Identitätszweifel: "Im warmen Licht der Eigenliebe aber wog meine Schuld umso schwerer und mein Versagen glich einem Selbstverrat, weil es bewies, daß ich nicht die Person war, die Irene in mir vermutlich gesehen hat." Im Vergleich der Zeiten wie der Konzentration auf sich selbst stechen ihr überdies die Zeichen des Alters, die "Gravur der Greisenhaftigkeit" immer stärker ins Auge, das im Gefühl versäumten Neuanfangs in eine monotone Zukunft blickt. Bei der Wende hatte sie gedacht, das wirkliche Leben fange jetzt an, nun aber fürchtet sie, "es könnte schon wieder vorbei sein mit dem eigentlichen Leben, weil es zu spät angefangen hat, weil wir gar nicht mehr dran sind mit dem richtigen Leben, sondern daß für uns bald diese öde lange Restzeit beginnt". Denn sie weigert sich, das Alter nach den medialen Wunschbildern als Stadium fortgeschrittener Erlebnisfähigkeit zu begreifen und liebäugelt sogar mit nonchalantem Starrsinn.
Die Erinnerung an Christian P., den kultivierten Münchner Verlagslektor, mit dem sie sich vor der Wende gut verstand, dem sie aber später das Verständnis nicht mehr glaubte, weil sie sich ihres schäbigen Ostlebens schämte, läßt sie über die Mißverständnisse zwischen Ost und West nachdenken. "Es dauerte einige Zeit, ehe ich lernte, die Zeichen der Welt, der wir nun angehörten zu deuten, die Rituale der Einladungen, die Signale der Kleidung, der Sprache, der Bilder an den heimischen Wänden. Irgendwann begann ich zu ahnen, daß Christian P., als er uns glauben ließ, er lebe ähnlich wie wir, weniger an sein Porzellan gedacht hatte als an seine Bücher, an seine Freunde, und an seine Vorlieben und Abneigungen und daß wir, Achim und ich, die Idioten waren, die plötzlich, weil die Welt sich verändert hatte, ihren eigenen Maßstäben nicht mehr trauten, daß wir, weil uns ein ungewohnter Wohlstand erschreckt hatte, seinen Besitzer verdächtigten, ein anderer zu sein, als wir bis dahin geglaubt hatten." Im übrigen erfährt Johanna, daß der Geisteswissenschaftler Christian P. sich in München ebenfalls zu nichts mehr nütze fühlt, was die heutige Welt zu brauchen glaubt.
An ihrer Nachbarin Friedel Wolgast wird ihr deutlich, daß auch das einfache ländliche Leben keine Rettung ist, weil die alten Maßstäbe vielleicht tatsächlich nicht mehr taugen. Es genügt, daß ein unverschämter Wessie das Grundstück nebenan kauft, um die althergebrachten Grundsätze des Zusammenlebens und der Gemütlichkeit außer Kraft zu setzen und die scheinbar festgefügte Identität der Bodenständigen zu zerstören. Aber vielleicht war ja auch das Alte gar nicht gut, vielleicht war es nur nicht zu ändern. "Für Friedel, wie für die meisten Leute hier, galt die Ungerechtigkeit jedweder Obrigkeit als so naturgegeben wie die Abfolge der Jahreszeiten."
Igor, ein arroganter russischer Dandy und Kunsthändler in Majakowski-Tracht, sieht Johannas Schwierigkeiten schließlich im deutschen Wesen: "Man kann die Welt nicht verstehen. Und wer es versucht, wird depressiv oder verrückt. Die Deutschen wären wahrscheinlich ein ganz erträgliches Volk, wenn sie nicht immerzu die Welt verstehen wollten." Stil, ironische Haltung und der Reiz des frischen Handelns selbst sind für ihn die Maßstäbe, die das menschliche Weltverhältnis organisieren. Es dauert dann nur einige Gläser Wein, bis Johanna die beinahe vergessene Erfahrung macht, daß die Natur ein sinnliches Verstehen jenseits der Interpretationen, der politischen Überzeugung, der nationalen Stereotypen und sogar des Altersunterschieds vorgesehen hat.
Am Ende gewinnt der versäumte Anfang als Zuwendung zum Lebendigen schemenhaft neue Kontur. Das ist tröstlich, fast ein wenig kitschig, aber es macht nicht vergessen, was dieses kluge Buch bis dahin schon gelehrt hat: daß nichts gewonnen werden kann, wenn man es sich mit der Biographie, der Handlungsfreiheit und der Wahrnehmung der anderen zu einfach macht. Die Fragmente erfahrenen und erzählten Lebens aber, die Monika Maron auslegt, haben weder einen Zusammenhalt in den äußeren Verhältnissen noch im bewährten Muster, sondern werden bei aller gelegentlichen Larmoyanz von einer eleganten Sprachhaltung und souveräner intellektueller Disposition getragen. Ein der Welt ihren Lauf lassender abgeklärter Altersstil, den Johanna sich gelegentlich wünscht, aber ist das nicht. Allenfalls in den feinen und spitzen Bemerkungen, die den heutigen Jugendlichkeitswahn aufspießen, deutet er sich an. Für Johannas Freundin Elli ist es schon Glück, wenn sie den Zug nicht verpaßt, die Erzählerin aber und ihre Autorin haben das Hadern längst noch nicht verlernt.
Monika Maron: "Endmoränen". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 253 S., geb., 19,90 [Euro].
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Was nach dem Rückzug liegenbleibt: Monika Maron blickt Gletschern nach / Von Friedmar Apel
Nach Richard von Weizsäckers gutgemeinter Aufforderung hätten die Deutschen nach der Wende ein einig Volk von Erzählern werden sollen, die immerfort beieinander sitzen und von ihrem Erleben und Erleiden in Ost oder West berichten. Tatsächlich war in der Folge ein Anschwellen biographischer Mitteilungen zu verzeichnen, ob sie das Verständnis verbessert haben, wie es sich der Bundespräsident erhoffte, steht dahin. Es waren nicht nur die Stasi-Unterlagen, die eine Diskussion um geschönte, erfundene oder enteignete Biographien auslösten, sondern auch die Berichte der letzten Überlebenden der Nazi-Diktatur. Das Mißtrauen gegenüber all den Erzählungen von Opfern und Tätern, offenem oder subversivem Widerstand, von Bescheidung, Solidarität und menschlicher Wärme, scheint ebenso gewachsen zu sein wie die Abneigung gegen die gradlinigen Geschichten wohlstandsbürgerlicher Erfolgsmenschen. Manche, die sich gut verstanden, hätten vielleicht voneinander lieber weniger erfahren.
Auch die aus dem Mangel an Zukunftschancen erwachsene Idee der "Bastelidentität" zehrt noch vom stolzen Diktum der modernen Anthropologie, der Mensch als frei handelndes Wesen sei nur, was er aus sich mache. Biographie erscheint da rückblickend als Folge von Ereignissen, die auch anders hätten geschehen können. Die Propaganda der Individualisierung hält die Vorstellung eines in freier Wahl gestalteten Lebens aufrecht, während Naturwissenschaften und Psychologie den Einfluß, den genetische Ausstattung, frühe Prägung, gattungsspezifische Verhaltensweisen und Umweltbedingungen auf menschliches Handeln ausüben, immer höher veranschlagen.
Das alles könnte die Frage, wie denn ein Leben erzählt werden kann, als erledigt erscheinen lassen. Vielleicht ist es ja der menschlichen und natürlichen Gegenwart und Zukunft förderlicher, kurz abzutun wie und warum wir geworden sind, um sich dem zuzuwenden, was jetzt zu leisten ist. Die Natur scheint es zu lehren: Endmoränen sieht man in der blühenden Landschaft nicht mehr an, daß sie einmal das Geröll waren, daß der eiszeitliche Gletscher vor sich herwälzte, um es bei seinem Rückzug achtlos liegenzulassen. Monika Marons neuer Roman aber zeigt in ambivalenter Auslegung seines Titels, wie sehr uns bei allem Mißtrauen gegen die selektive Konstruktion an erzählter und nach dem Stand des menschlichen Wissens reflektierter Biographie gelegen sein muß. Denn nur in der Form der Erzählung kann ermessen werden, welcher Spielraum der Wahrnehmung und des Handelns bleibt, gerade weil das Wissen längst schon von keinem einzelnen mehr zu überschauen und überdies wankelmütiger ist denn je.
Die Ich-Erzählerin Johanna hat einst das Erzählen als existentiell begriffen: "ich führte ein Doppelleben, ein wirkliches und ein erzähltes, wobei sich das eine vom anderen kaum unterschied, nur verstand ich, was ich erlebt hatte, erst indem ich es erzählte oder mir vorstellte, was geschehen wäre, hätte ich jeweils die andere Entscheidung getroffen". Zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik hat sie ihr Leben mit biographischen Vor- und Nachworten gefristet. Das war weder eine besonders einträgliche noch erfolgreiche Tätigkeit, aber eine sinnvolle. Denn Biographien eigneten sich damals besser noch als Romane dazu, geheime Botschaften der Widerständigkeit am Zensor vorbeizuschmuggeln, und den Aufmerkenden ein Bild der Selbstbehauptung des Individuums zu vermitteln. An ihrer Seite beugte sich ihr Mann Achim über die Werke Heinrich von Kleists und drehte der Wirklichkeit von Partei und Staat, freilich zunehmend auch Johanna, den Rücken zu. Die Wende aber hat sie als Wunder erlebt, belacht und gefeiert. "Daß ich endlich aufhören durfte zu kämpfen, gehörte zum Schönsten."
Aber nun vermißt sie eben das. "Früher war es wichtig Solschenizyn und Koestler zu lesen und weiterzugeben. Es war schon wichtig, einfach nur gegen den Staat zu sein, mehr mußte man gar nicht tun, um wichtig zu sein. Natürlich war das eine ganz idiotische Wichtigkeit, trotzdem fehlt sie mir." Während andere ein neues Leben angefangen haben, Bundestagspräsident geworden sind oder Redakteur bei der Zeitung, die sie vorher nie gedruckt hätte, erforscht Johanna immer noch anderer Leute Leben. Aber es erfüllt sie nicht mehr, "weil Biografien eben nur noch Biografien waren und niemand mehr auf die Idee kam, in ihnen nach geheimen Botschaften zu suchen". Trotzdem hat sie sich verpflichtet, die Lebensgeschichte Wilhelmine Enkes, der Geliebten Friedrich Wilhelms II., der späteren Gräfin Lichtenau zu schreiben.
Daran wird ihr der Bedeutungswandel erst recht deutlich. "Vor fünfzehn Jahren hätte allein der Hinweis auf das verschollene Grabmal der Gräfin Lichtenau eine simple Biografie in eine Protestschrift verwandelt, weil das Grab der Gräfin Lichtenau 1961 in den Todesstreifen zwischen Ost- und West-Berlin einplaniert worden war." Damals hätte die Biographie Gleichnis und Lehre sein können, nun ist sie nur noch undeutliche Spiegelung der Entbehrungen einer auf sich selbst zurückgeworfenen Individualität. Wilhelmine Enke erscheint der grübelnden Johanna in der Einsamkeit ihres Sommerhauses in der nordöstlichen Moränenlandschaft als eine, die noch wußte, wie man um sein Glück kämpft. Ihr aber scheint jeder Selbstbehauptungswille abhanden gekommen zu sein, und in liebevollem Neid blickt sie auf ihre Tochter Laura, die schnell amerikanisch geworden ist, den Erfolg will und bereit ist, auch die Niederlage auf sich zu nehmen und nicht den Verhältnissen anzulasten.
Derart beschreibt der Text einen Sommer wiederholter Spiegelungen, in denen Johanna aufgeht, was sie aus sich nicht gemacht hat. Dabei scheint ihr Selbstbild zunehmend zu verfallen. Noch der Gedanke an die Bewunderung, die ihre verwachsene Studienfreundin Irene, die sie vergessen hatte, ihr noch bei ihrem frühen Tod entgegengebracht haben könnte, verwandelt sich unversehens in Identitätszweifel: "Im warmen Licht der Eigenliebe aber wog meine Schuld umso schwerer und mein Versagen glich einem Selbstverrat, weil es bewies, daß ich nicht die Person war, die Irene in mir vermutlich gesehen hat." Im Vergleich der Zeiten wie der Konzentration auf sich selbst stechen ihr überdies die Zeichen des Alters, die "Gravur der Greisenhaftigkeit" immer stärker ins Auge, das im Gefühl versäumten Neuanfangs in eine monotone Zukunft blickt. Bei der Wende hatte sie gedacht, das wirkliche Leben fange jetzt an, nun aber fürchtet sie, "es könnte schon wieder vorbei sein mit dem eigentlichen Leben, weil es zu spät angefangen hat, weil wir gar nicht mehr dran sind mit dem richtigen Leben, sondern daß für uns bald diese öde lange Restzeit beginnt". Denn sie weigert sich, das Alter nach den medialen Wunschbildern als Stadium fortgeschrittener Erlebnisfähigkeit zu begreifen und liebäugelt sogar mit nonchalantem Starrsinn.
Die Erinnerung an Christian P., den kultivierten Münchner Verlagslektor, mit dem sie sich vor der Wende gut verstand, dem sie aber später das Verständnis nicht mehr glaubte, weil sie sich ihres schäbigen Ostlebens schämte, läßt sie über die Mißverständnisse zwischen Ost und West nachdenken. "Es dauerte einige Zeit, ehe ich lernte, die Zeichen der Welt, der wir nun angehörten zu deuten, die Rituale der Einladungen, die Signale der Kleidung, der Sprache, der Bilder an den heimischen Wänden. Irgendwann begann ich zu ahnen, daß Christian P., als er uns glauben ließ, er lebe ähnlich wie wir, weniger an sein Porzellan gedacht hatte als an seine Bücher, an seine Freunde, und an seine Vorlieben und Abneigungen und daß wir, Achim und ich, die Idioten waren, die plötzlich, weil die Welt sich verändert hatte, ihren eigenen Maßstäben nicht mehr trauten, daß wir, weil uns ein ungewohnter Wohlstand erschreckt hatte, seinen Besitzer verdächtigten, ein anderer zu sein, als wir bis dahin geglaubt hatten." Im übrigen erfährt Johanna, daß der Geisteswissenschaftler Christian P. sich in München ebenfalls zu nichts mehr nütze fühlt, was die heutige Welt zu brauchen glaubt.
An ihrer Nachbarin Friedel Wolgast wird ihr deutlich, daß auch das einfache ländliche Leben keine Rettung ist, weil die alten Maßstäbe vielleicht tatsächlich nicht mehr taugen. Es genügt, daß ein unverschämter Wessie das Grundstück nebenan kauft, um die althergebrachten Grundsätze des Zusammenlebens und der Gemütlichkeit außer Kraft zu setzen und die scheinbar festgefügte Identität der Bodenständigen zu zerstören. Aber vielleicht war ja auch das Alte gar nicht gut, vielleicht war es nur nicht zu ändern. "Für Friedel, wie für die meisten Leute hier, galt die Ungerechtigkeit jedweder Obrigkeit als so naturgegeben wie die Abfolge der Jahreszeiten."
Igor, ein arroganter russischer Dandy und Kunsthändler in Majakowski-Tracht, sieht Johannas Schwierigkeiten schließlich im deutschen Wesen: "Man kann die Welt nicht verstehen. Und wer es versucht, wird depressiv oder verrückt. Die Deutschen wären wahrscheinlich ein ganz erträgliches Volk, wenn sie nicht immerzu die Welt verstehen wollten." Stil, ironische Haltung und der Reiz des frischen Handelns selbst sind für ihn die Maßstäbe, die das menschliche Weltverhältnis organisieren. Es dauert dann nur einige Gläser Wein, bis Johanna die beinahe vergessene Erfahrung macht, daß die Natur ein sinnliches Verstehen jenseits der Interpretationen, der politischen Überzeugung, der nationalen Stereotypen und sogar des Altersunterschieds vorgesehen hat.
Am Ende gewinnt der versäumte Anfang als Zuwendung zum Lebendigen schemenhaft neue Kontur. Das ist tröstlich, fast ein wenig kitschig, aber es macht nicht vergessen, was dieses kluge Buch bis dahin schon gelehrt hat: daß nichts gewonnen werden kann, wenn man es sich mit der Biographie, der Handlungsfreiheit und der Wahrnehmung der anderen zu einfach macht. Die Fragmente erfahrenen und erzählten Lebens aber, die Monika Maron auslegt, haben weder einen Zusammenhalt in den äußeren Verhältnissen noch im bewährten Muster, sondern werden bei aller gelegentlichen Larmoyanz von einer eleganten Sprachhaltung und souveräner intellektueller Disposition getragen. Ein der Welt ihren Lauf lassender abgeklärter Altersstil, den Johanna sich gelegentlich wünscht, aber ist das nicht. Allenfalls in den feinen und spitzen Bemerkungen, die den heutigen Jugendlichkeitswahn aufspießen, deutet er sich an. Für Johannas Freundin Elli ist es schon Glück, wenn sie den Zug nicht verpaßt, die Erzählerin aber und ihre Autorin haben das Hadern längst noch nicht verlernt.
Monika Maron: "Endmoränen". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 253 S., geb., 19,90 [Euro].
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