Über die Macht der Erinnerung und das, was wir Familie nennen
Ein Zug, drei Menschen und ihre miteinander verwobenen Schicksale: Nach 'Die Überlebenden' und 'Verbrenn all meine Briefe' erzählt Alex Schulman hier erneut mit großer emotionaler Wucht.
Ein Zug fährt durch eine Sommerlandschaft. An Bord sind ein Ehepaar in der Krise, ein Vater mit seiner kleinen Tochter sowie eine Frau, die das Rätsel ihres Lebens lösen will. Sie alle fahren nach Malma, einen kleinen Ort, wenige Stunden von Stockholm entfernt, umgeben von Wäldern. Und keiner von ihnen weiß, wie ihre Schicksale verwoben sind und ob das, was sie in Malma erwartet, ihrem Leben nicht eine neue Wendung geben wird.
In bestechender Prosa baut Alex Schulman seine Erzählung auf: wie einen Zug, der durch die Zeit fährt und in dem jedes Kapitel ein eigener Waggon ist, der an den nächsten angehängt wird. Lässt sich die Zukunft frei gestalten, oder ist sie durch Vergangenes vorgezeichnet?
»Ein tief bewegender Roman, der zu Herzen geht. Ein großes Leseerlebnis.« Aftonbladet
»Mit 'Endstation Malma' bestätigt Alex Schulman, dass er einer der größten Erzähler unserer Zeit ist.« Ölandsbladet
Ebenfalls von Alex Schulman bei dtv erschienen sind:
'Die Überlebenden'
'Verbrenn all meine Briefe'
Ein Zug, drei Menschen und ihre miteinander verwobenen Schicksale: Nach 'Die Überlebenden' und 'Verbrenn all meine Briefe' erzählt Alex Schulman hier erneut mit großer emotionaler Wucht.
Ein Zug fährt durch eine Sommerlandschaft. An Bord sind ein Ehepaar in der Krise, ein Vater mit seiner kleinen Tochter sowie eine Frau, die das Rätsel ihres Lebens lösen will. Sie alle fahren nach Malma, einen kleinen Ort, wenige Stunden von Stockholm entfernt, umgeben von Wäldern. Und keiner von ihnen weiß, wie ihre Schicksale verwoben sind und ob das, was sie in Malma erwartet, ihrem Leben nicht eine neue Wendung geben wird.
In bestechender Prosa baut Alex Schulman seine Erzählung auf: wie einen Zug, der durch die Zeit fährt und in dem jedes Kapitel ein eigener Waggon ist, der an den nächsten angehängt wird. Lässt sich die Zukunft frei gestalten, oder ist sie durch Vergangenes vorgezeichnet?
»Ein tief bewegender Roman, der zu Herzen geht. Ein großes Leseerlebnis.« Aftonbladet
»Mit 'Endstation Malma' bestätigt Alex Schulman, dass er einer der größten Erzähler unserer Zeit ist.« Ölandsbladet
Ebenfalls von Alex Schulman bei dtv erschienen sind:
'Die Überlebenden'
'Verbrenn all meine Briefe'
So wenig braucht der schwedische Erfolgsautor Alex Schulmann um eine neue, emotional-packende und gut konstruierte (Familien-) Erzählung zu schreiben. Madame 20231101
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Katharina Granzin findet erschreckend und tröstlich zugleich, was Alex Schulman in seinem neuen Roman über den Egoismus und die Gedankenlosigkeit der Erwachsenen ihren Kindern gegenüber zu sagen hat. Schließlich sind die Elternfiguren in diesem Buch nicht gefühlskalt oder gleichgültig, sie können es nur nicht anders, stellt Granzin fest. Das Gerüst, auf das Schulman seine Mehrgenerationengeschichte aufzieht, die immer gleiche Zugfahrt in den fiktiven schwedischen Ort Malma, laut Granzin eine Art Fluchtpunkt und Sehnsuchtsort, überzeugt die Rezensentin ebenso wie die Schilderungen kindlicher Verletzlichkeit im Buch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.10.2023Ein Zug fährt durch die Zeit
Mit dem schwedischen Erfolgsautor Alex Schulman im „Chez Jolie“ in Stockholm,
wo er die Pause zwischen seinen Theaterproben verbringt –
und zwischen seinen Reisen in die schmerzhafte Vergangenheit seiner Familie
VON ALEX RÜHLE
Wir reden gerade mal zehn Minuten, da öffnet Alex Schulman die Tür in seine Kindheit und die chaotische Familienküche: Muttertag. Der Vater drängt die drei Söhne, einen Kuchen zu backen. Die Mutter schreit hinter der geschlossenen Schlafzimmertür, sie wolle kein Geschenk. Der Vater, der flüstert, doch doch, macht weiter. Die Mutter, die brüllt, sie sollten alle abhauen.
„Unser Vater zu mir: ,Mal ihr ein hübsches Bild.‘ Ich war 14. ,Papa, ich mal keine Bilder mehr.‘ Unser Vater war so alt, er wusste nichts über uns. ,Dann singt ihr wenigstens Mutter, liebe Mutter.‘ Wir kannten nur die erste Zeile. Also standen wir da mit unserem Kuchen, sangen immer wieder die erste Zeile, während unsere Mutter schrie: ,Verpisst euch.‘ Unser Vater hat die Tür mit einem Messer geöffnet und ist weggerannt, weil er sich so vor ihr fürchtete. Als wir über die Schwelle traten, fing sie an, mit Büchern nach uns zu werfen. Meine Brüder sind abgehauen, ich stand da mit dem Kuchen. Als sie mit einer Holzkatze nach mir warf, habe ich mich geduckt, und der Kuchen fiel zu Boden.“ Alex Schulman lacht. „Das totale Desaster.“
Schulman kann so eine Szene auch am akkurat eingedeckten Stockholmer Restauranttisch so skizzieren, dass man meint, mittendrin zu stehen in diesem Familientornado. Mit dem schmalschultrigen Jungen, der am Ende alles abkriegt.
Das „Chez Jolie“ liegt schräg gegenüber vom Dramaten, dem schwedischen Nationaltheater. Alex Schulman kommt direkt von der Probe seines neuen Stücks ohne Titel, das an jenem Muttertag spielt, eine Stunde aus dem Leben dieser dysfunktionalen Familie, um die sich immer schon all sein Schreiben dreht, aus der Sicht des verstrickten Kindes, immer wieder. Wobei es diesmal anders ist. Er sagt, er habe einen Ausweg gefunden, ausgerechnet in oder dank dieser ausweglosen Szene, aber jetzt kommt erst mal der Kellner. Der Schulman selbstverständlich mit Namen kennt, genauso wie der Koch, der extra aus der Küche vorbeischaut, schließlich ist Schulman in Schweden weltberühmt, erfolgreichster Podcaster des Landes, wöchentliche Kolumne in Dagens Nyheter. Aber vor allem die Bücher, die einen solchen Sog haben, in denen Lebensschmerz so raffiniert in Leselust verwandelt wird, dass sie jedes Mal auf dem ersten Platz der Bestenliste stehen.
Drei Romane wurden bisher ins Deutsche übersetzt, man kann sie als Trilogie der Einsamkeit und des Schweigens lesen. Die Kindheit erscheint als dunkler Ort des Schreckens, obwohl nach außen hin alles so schön wirkt: „Die Überlebenden“ spielt an einem einzigen Sommertag auf dem Ferienanwesen der Schulmans, Holzhaus am Seeufer, flirrende Birken, stille Natur. Aber dieser Inbegriff des Familienidylls wird zur Sackgasse und klaustrophoben Lebensfalle, sowie das Un-heimliche bei Freud eben gerade im eigentlich Vertrauten, Heimeligen nistet: Schulmans Mutter, eine berühmte Fernsehjournalistin, war schwere Alkoholikerin und ist hier so unberechenbar und gefährlich wie das Wetter in den Alpen. Der Vater versteckt seine Unsicherheit in herrischem Gebaren. Die Kinder leben in steter stiller Anpassungsangst, vor allem der mittlere Sohn versucht, permanent zu vermitteln und seinen jüngeren Bruder vor der Willkür zu schützen.
Dieser Junge namens Benjamin, das ist Schulman selber, daraus hat er nie ein Geheimnis gemacht. Im nächsten Buch „Verbrenn all meine Briefe“, hat er sogar mit Klarnamen gearbeitet, geht es doch um seinen Großvater, den berühmten Schriftsteller Sven Stolpe, der hier als derart zerstörerischer Familiendespot gezeichnet wird, dass es einen nach der Lektüre nicht mehr wundert, dass Schulmans Mutter eine beziehungsunfähige Alkoholikerin wurde.
„Ich will die Dunkelheit in mir verstehen, die dabei ist, mein Verhältnis zu meiner Familie zu zerstören“, schreibt Schulman, der damals gerade selbst eine Familie gegründet hatte, am Anfang von „Verbrenn all meine Briefe“ und macht damit ganz offensichtlich, dass es ihm nicht nur um ein autobiografisches, sondern auch um ein psychotherapeutisches Schreibprojekt geht.
Schulman geht lange schon zu einem Hypnosetherapeuten, mit dem er versucht, seine Traumata aufzuarbeiten. Wenn er davon erzählt, klingt es nach Freud’schem Lehrbuch, „Schicht für Schicht“, „immer tiefer“, bis er irgendwann „an das eigentliche Trauma“ herankam, eine verdrängte Erinnerung: eine Autofahrt im Winter, zu fünft, Alex und einer der Brüder streiten sich auf der Rückbank. Der Vater, der irgendwann anhält, Alex aus dem Wagen reißt, in ein vereistes Feld wirft und zurück zum Auto geht. Alex, der panisch in den Wagen zurückspringt, weil er weiß, wenn die mich hier zurücklassen, erfriere ich. Der Vater, der ihn wortlos ins Feld zurückschleppt, gegen eine Mauer wirft und davonfährt.
Wieder fängt das Bild im Restaurant an zu flirren. Da sitzt der 47-jährige Autor mit den gegelten Haaren und den geschliffenen Manieren, im poshen Plüsch dieses Restaurants, und gleichzeitig kauert da dieser Junge im Winter an der Steinmauer, ein Häufchen Kind, das plötzlich einwilligt in die Grausamkeit: „Mein Gefühl war: ,Ich sterbe hier, aber das muss so sein, schließlich bin ich vollkommen wertlos.‘“
Sein Therapeut schickt Schulman seit Jahren wieder und wieder auf dieses Feld, um den übermächtigen Schrecken immer neu zur Sprache zu bringen, in der Wiederholung zu bannen und wenn nicht ganz aufzulösen, so doch abzumildern.
Etwas zur Sprache bringen – was für ein schönes Bild: Als warte die Sprache, dass man sie besucht mit seinem Anliegen. Egal, was es ist, die Sprache ist immer da, und man kann mit allem zu ihr kommen. „Ja“, sagt Schulman. „Und mit dem Schreiben mache ich nichts anderes. Wenn ich beschreibe, wie ich in den Keller gesperrt wurde, dann überarbeite ich diese Szene immer und immer wieder, um sie genauer zu fassen und immer noch genauer.“ So wird der Schrecken nach und nach in den Text abgestreift.
Von dort aus springt er einen beim Lesen umso heftiger an. Wobei ja kaum eine Textart ähnlich viel Peinlichkeitspotenzial hat wie der autobiografische Roman, narzisstische Jammermonologe, amorphe Entblößungsergüsse... Schulman aber findet jedes Mal einen neuen erzählerischen Trick, der die Texte in eine strenge Form bringt und ihnen dadurch einen Sog gibt, wie man das eher von Stephen-King-Büchern kennt.
„Endstation Malma“, der neue Roman, der zwar erstmals erfundene Figuren hat, aber doch wieder von denselben gestörten Kraftfeldern einer Familie erzählt, spielt in einem Zug, der unterwegs ist von Stockholm ins fiktive Malma. Darin drei Menschen: Harriet, ein etwa zehnjähriges Mädchen, fährt mit ihrem schweigsam kühlen Vater zu einer Beerdigung. Oskar, ein etwa 35-jähriger Mann und Vater, ist mit seiner Frau unterwegs, die beiden haben sich so erbittert gestritten, dass klar ist, sie werden sich trennen, sie will ihm nur noch einmal einen Ort ihrer Kindheit zeigen. Yana, eine junge Frau, hat ein Fotoalbum dabei und ist auf der Suche nach ihrer Mutter, die früh aus ihrem Leben verschwunden ist.
Erst mit der Zeit merkt man, dass die drei Menschen zwar auf derselben Strecke unterwegs sind, aber in ganz unterschiedlichen Jahrzehnten, 1976, 2001 und heute. Und langsam versteht man auch, wie sie zusammenhängen. Die kleine Harriet wird später Oskar heiraten und sich am Ende dieser Fahrt endgültig von ihm trennen, Yana ist die Tochter der beiden. Vater, Mutter, Kind, die engste aller Konstellationen. Dazu dieser Zug, der auf den immergleichen Gleisen auf das immergleiche Ziel zusteuert. Und doch könnten die drei nicht weiter voneinander entfernt und jeweils einsamer sein.
Ein kleines Beispiel, wie elegant Schulman die Motive transgenerational weiterwebt: Vom ersten Satz an ist zu spüren, wie die kleine Harriet angstvoll nach ihrem Vater schielt. Sie hat das Trennungsgespräch ihrer Eltern mit angehört, in dem die beiden beschlossen haben, jeweils eine der Töchter zu sich zu nehmen. Beide wollen sie Harriets Schwester, beide finden sie Harriet „schwierig“. „Wir haben nicht dieselbe Wellenlänge“, sagt der Vater. Kurz danach sind die Mutter und die Schwester weg und Harriet sitzt da mit diesem dunklen Vaterklotz, versucht permanent die richtige Wellenlänge zu erwischen, aber wie soll das gehen, wenn der andere kaum Signale aussendet.
Dieses Bild der Wellenlänge taucht bei Harriets Tochter Yana wieder auf. Die kriegt eines Tages mit, wie ihre Mutter einen Satz vor sich hinmurmelt, mantragleich: „,Du bist nicht allein. Du bist nicht allein.‘ Immer und immer wieder. Es war das erste Mal, dass sie Mama so vor sich hinmurmeln hörte, aber anschließend kam es ihr vor, als höre sie es ständig. Als könne sie, nachdem sie einmal die Frequenz aufgefangen hatte, nicht mehr abschalten.“
Die eigentliche Hauptfigur aber ist hier, wie in den anderen Büchern von Schulman die Zeit. Ähnlich wie Christopher Nolan in seinen Filmen findet er jeweils neue Wege, die erzählte Zeit zu strukturieren: In den „Überlebenden“ wird die Schilderung des einen Kindheitssommerferientags verschaltet mit dem Tag, an dem die drei erwachsenen Brüder die Asche ihrer Mutter in ihr Sommerhaus bringen. Dabei rollt der Kindheitstag chronologisch ab, während der Tag in der Gegenwart rückwärts erzählt wird, wie in Nolans Film „Memento“, in dem jedes Kapitel das vorangehende Kapitel erklärt. Am Ende treffen sich beide Zeitebenen um Mitternacht.
„Endstation Malma“ erzählt drei Reisen durch Zeit und Raum, die formbar werden, wie in Träumen. Ein seltsamer Gleichzeitigkeitszustand entsteht. Vor allem aber dreht sich die gewohnte Kausalität um: Die Zukunft wirkt festgezurrt, die Vergangenheit wird zum offenen Raum. Für Harriet ist klar: Die Vergangenheit kann im Nachhinein, im Erinnern und Erzählen überprägt, neu geformt werden. Es ist die Zukunft, die unausweichlich ist wie der Endbahnhof einer Zugreise.
Aber wie soll man dann je rauskommen aus Schuldzuweisungen? „Indem man die Seite wechselt.“ Schulman hat bisher immer aus der Sicht des Kindes geschrieben, das seinen Eltern nicht vergeben kann. Sein neues Stück aber spielt nur den ersten Akt über in der Küche. Im zweiten Akt erlebt man dieselbe Stunde aus dem Schlafzimmer: Man hört draußen die Söhne den Kuchen backen und den überforderten Vater herumflüstern. „Drinnen aber habe ich meiner Mutter einen Monolog geschrieben. Und konnte ihr so endlich vergeben.“ Schulman wirkt glücklich. Und muss dann zurück. Zur Probe. In die eigene Vergangenheit. Und in die seiner Mutter, auf der anderen Seite der Tür.
Er geht lange zu
einem Therapeuten,
um seine Traumata
aufzuarbeiten
Ein Literaturstar in Schweden und nun zum dritten Mal ins Deutsche übersetzt: Alex Schulman.
Foto: Henrik Montgomery/IMAGO/TT
Alex Schulman: Endstation Malma. Roman. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. dtv, München 2023. 320 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mit dem schwedischen Erfolgsautor Alex Schulman im „Chez Jolie“ in Stockholm,
wo er die Pause zwischen seinen Theaterproben verbringt –
und zwischen seinen Reisen in die schmerzhafte Vergangenheit seiner Familie
VON ALEX RÜHLE
Wir reden gerade mal zehn Minuten, da öffnet Alex Schulman die Tür in seine Kindheit und die chaotische Familienküche: Muttertag. Der Vater drängt die drei Söhne, einen Kuchen zu backen. Die Mutter schreit hinter der geschlossenen Schlafzimmertür, sie wolle kein Geschenk. Der Vater, der flüstert, doch doch, macht weiter. Die Mutter, die brüllt, sie sollten alle abhauen.
„Unser Vater zu mir: ,Mal ihr ein hübsches Bild.‘ Ich war 14. ,Papa, ich mal keine Bilder mehr.‘ Unser Vater war so alt, er wusste nichts über uns. ,Dann singt ihr wenigstens Mutter, liebe Mutter.‘ Wir kannten nur die erste Zeile. Also standen wir da mit unserem Kuchen, sangen immer wieder die erste Zeile, während unsere Mutter schrie: ,Verpisst euch.‘ Unser Vater hat die Tür mit einem Messer geöffnet und ist weggerannt, weil er sich so vor ihr fürchtete. Als wir über die Schwelle traten, fing sie an, mit Büchern nach uns zu werfen. Meine Brüder sind abgehauen, ich stand da mit dem Kuchen. Als sie mit einer Holzkatze nach mir warf, habe ich mich geduckt, und der Kuchen fiel zu Boden.“ Alex Schulman lacht. „Das totale Desaster.“
Schulman kann so eine Szene auch am akkurat eingedeckten Stockholmer Restauranttisch so skizzieren, dass man meint, mittendrin zu stehen in diesem Familientornado. Mit dem schmalschultrigen Jungen, der am Ende alles abkriegt.
Das „Chez Jolie“ liegt schräg gegenüber vom Dramaten, dem schwedischen Nationaltheater. Alex Schulman kommt direkt von der Probe seines neuen Stücks ohne Titel, das an jenem Muttertag spielt, eine Stunde aus dem Leben dieser dysfunktionalen Familie, um die sich immer schon all sein Schreiben dreht, aus der Sicht des verstrickten Kindes, immer wieder. Wobei es diesmal anders ist. Er sagt, er habe einen Ausweg gefunden, ausgerechnet in oder dank dieser ausweglosen Szene, aber jetzt kommt erst mal der Kellner. Der Schulman selbstverständlich mit Namen kennt, genauso wie der Koch, der extra aus der Küche vorbeischaut, schließlich ist Schulman in Schweden weltberühmt, erfolgreichster Podcaster des Landes, wöchentliche Kolumne in Dagens Nyheter. Aber vor allem die Bücher, die einen solchen Sog haben, in denen Lebensschmerz so raffiniert in Leselust verwandelt wird, dass sie jedes Mal auf dem ersten Platz der Bestenliste stehen.
Drei Romane wurden bisher ins Deutsche übersetzt, man kann sie als Trilogie der Einsamkeit und des Schweigens lesen. Die Kindheit erscheint als dunkler Ort des Schreckens, obwohl nach außen hin alles so schön wirkt: „Die Überlebenden“ spielt an einem einzigen Sommertag auf dem Ferienanwesen der Schulmans, Holzhaus am Seeufer, flirrende Birken, stille Natur. Aber dieser Inbegriff des Familienidylls wird zur Sackgasse und klaustrophoben Lebensfalle, sowie das Un-heimliche bei Freud eben gerade im eigentlich Vertrauten, Heimeligen nistet: Schulmans Mutter, eine berühmte Fernsehjournalistin, war schwere Alkoholikerin und ist hier so unberechenbar und gefährlich wie das Wetter in den Alpen. Der Vater versteckt seine Unsicherheit in herrischem Gebaren. Die Kinder leben in steter stiller Anpassungsangst, vor allem der mittlere Sohn versucht, permanent zu vermitteln und seinen jüngeren Bruder vor der Willkür zu schützen.
Dieser Junge namens Benjamin, das ist Schulman selber, daraus hat er nie ein Geheimnis gemacht. Im nächsten Buch „Verbrenn all meine Briefe“, hat er sogar mit Klarnamen gearbeitet, geht es doch um seinen Großvater, den berühmten Schriftsteller Sven Stolpe, der hier als derart zerstörerischer Familiendespot gezeichnet wird, dass es einen nach der Lektüre nicht mehr wundert, dass Schulmans Mutter eine beziehungsunfähige Alkoholikerin wurde.
„Ich will die Dunkelheit in mir verstehen, die dabei ist, mein Verhältnis zu meiner Familie zu zerstören“, schreibt Schulman, der damals gerade selbst eine Familie gegründet hatte, am Anfang von „Verbrenn all meine Briefe“ und macht damit ganz offensichtlich, dass es ihm nicht nur um ein autobiografisches, sondern auch um ein psychotherapeutisches Schreibprojekt geht.
Schulman geht lange schon zu einem Hypnosetherapeuten, mit dem er versucht, seine Traumata aufzuarbeiten. Wenn er davon erzählt, klingt es nach Freud’schem Lehrbuch, „Schicht für Schicht“, „immer tiefer“, bis er irgendwann „an das eigentliche Trauma“ herankam, eine verdrängte Erinnerung: eine Autofahrt im Winter, zu fünft, Alex und einer der Brüder streiten sich auf der Rückbank. Der Vater, der irgendwann anhält, Alex aus dem Wagen reißt, in ein vereistes Feld wirft und zurück zum Auto geht. Alex, der panisch in den Wagen zurückspringt, weil er weiß, wenn die mich hier zurücklassen, erfriere ich. Der Vater, der ihn wortlos ins Feld zurückschleppt, gegen eine Mauer wirft und davonfährt.
Wieder fängt das Bild im Restaurant an zu flirren. Da sitzt der 47-jährige Autor mit den gegelten Haaren und den geschliffenen Manieren, im poshen Plüsch dieses Restaurants, und gleichzeitig kauert da dieser Junge im Winter an der Steinmauer, ein Häufchen Kind, das plötzlich einwilligt in die Grausamkeit: „Mein Gefühl war: ,Ich sterbe hier, aber das muss so sein, schließlich bin ich vollkommen wertlos.‘“
Sein Therapeut schickt Schulman seit Jahren wieder und wieder auf dieses Feld, um den übermächtigen Schrecken immer neu zur Sprache zu bringen, in der Wiederholung zu bannen und wenn nicht ganz aufzulösen, so doch abzumildern.
Etwas zur Sprache bringen – was für ein schönes Bild: Als warte die Sprache, dass man sie besucht mit seinem Anliegen. Egal, was es ist, die Sprache ist immer da, und man kann mit allem zu ihr kommen. „Ja“, sagt Schulman. „Und mit dem Schreiben mache ich nichts anderes. Wenn ich beschreibe, wie ich in den Keller gesperrt wurde, dann überarbeite ich diese Szene immer und immer wieder, um sie genauer zu fassen und immer noch genauer.“ So wird der Schrecken nach und nach in den Text abgestreift.
Von dort aus springt er einen beim Lesen umso heftiger an. Wobei ja kaum eine Textart ähnlich viel Peinlichkeitspotenzial hat wie der autobiografische Roman, narzisstische Jammermonologe, amorphe Entblößungsergüsse... Schulman aber findet jedes Mal einen neuen erzählerischen Trick, der die Texte in eine strenge Form bringt und ihnen dadurch einen Sog gibt, wie man das eher von Stephen-King-Büchern kennt.
„Endstation Malma“, der neue Roman, der zwar erstmals erfundene Figuren hat, aber doch wieder von denselben gestörten Kraftfeldern einer Familie erzählt, spielt in einem Zug, der unterwegs ist von Stockholm ins fiktive Malma. Darin drei Menschen: Harriet, ein etwa zehnjähriges Mädchen, fährt mit ihrem schweigsam kühlen Vater zu einer Beerdigung. Oskar, ein etwa 35-jähriger Mann und Vater, ist mit seiner Frau unterwegs, die beiden haben sich so erbittert gestritten, dass klar ist, sie werden sich trennen, sie will ihm nur noch einmal einen Ort ihrer Kindheit zeigen. Yana, eine junge Frau, hat ein Fotoalbum dabei und ist auf der Suche nach ihrer Mutter, die früh aus ihrem Leben verschwunden ist.
Erst mit der Zeit merkt man, dass die drei Menschen zwar auf derselben Strecke unterwegs sind, aber in ganz unterschiedlichen Jahrzehnten, 1976, 2001 und heute. Und langsam versteht man auch, wie sie zusammenhängen. Die kleine Harriet wird später Oskar heiraten und sich am Ende dieser Fahrt endgültig von ihm trennen, Yana ist die Tochter der beiden. Vater, Mutter, Kind, die engste aller Konstellationen. Dazu dieser Zug, der auf den immergleichen Gleisen auf das immergleiche Ziel zusteuert. Und doch könnten die drei nicht weiter voneinander entfernt und jeweils einsamer sein.
Ein kleines Beispiel, wie elegant Schulman die Motive transgenerational weiterwebt: Vom ersten Satz an ist zu spüren, wie die kleine Harriet angstvoll nach ihrem Vater schielt. Sie hat das Trennungsgespräch ihrer Eltern mit angehört, in dem die beiden beschlossen haben, jeweils eine der Töchter zu sich zu nehmen. Beide wollen sie Harriets Schwester, beide finden sie Harriet „schwierig“. „Wir haben nicht dieselbe Wellenlänge“, sagt der Vater. Kurz danach sind die Mutter und die Schwester weg und Harriet sitzt da mit diesem dunklen Vaterklotz, versucht permanent die richtige Wellenlänge zu erwischen, aber wie soll das gehen, wenn der andere kaum Signale aussendet.
Dieses Bild der Wellenlänge taucht bei Harriets Tochter Yana wieder auf. Die kriegt eines Tages mit, wie ihre Mutter einen Satz vor sich hinmurmelt, mantragleich: „,Du bist nicht allein. Du bist nicht allein.‘ Immer und immer wieder. Es war das erste Mal, dass sie Mama so vor sich hinmurmeln hörte, aber anschließend kam es ihr vor, als höre sie es ständig. Als könne sie, nachdem sie einmal die Frequenz aufgefangen hatte, nicht mehr abschalten.“
Die eigentliche Hauptfigur aber ist hier, wie in den anderen Büchern von Schulman die Zeit. Ähnlich wie Christopher Nolan in seinen Filmen findet er jeweils neue Wege, die erzählte Zeit zu strukturieren: In den „Überlebenden“ wird die Schilderung des einen Kindheitssommerferientags verschaltet mit dem Tag, an dem die drei erwachsenen Brüder die Asche ihrer Mutter in ihr Sommerhaus bringen. Dabei rollt der Kindheitstag chronologisch ab, während der Tag in der Gegenwart rückwärts erzählt wird, wie in Nolans Film „Memento“, in dem jedes Kapitel das vorangehende Kapitel erklärt. Am Ende treffen sich beide Zeitebenen um Mitternacht.
„Endstation Malma“ erzählt drei Reisen durch Zeit und Raum, die formbar werden, wie in Träumen. Ein seltsamer Gleichzeitigkeitszustand entsteht. Vor allem aber dreht sich die gewohnte Kausalität um: Die Zukunft wirkt festgezurrt, die Vergangenheit wird zum offenen Raum. Für Harriet ist klar: Die Vergangenheit kann im Nachhinein, im Erinnern und Erzählen überprägt, neu geformt werden. Es ist die Zukunft, die unausweichlich ist wie der Endbahnhof einer Zugreise.
Aber wie soll man dann je rauskommen aus Schuldzuweisungen? „Indem man die Seite wechselt.“ Schulman hat bisher immer aus der Sicht des Kindes geschrieben, das seinen Eltern nicht vergeben kann. Sein neues Stück aber spielt nur den ersten Akt über in der Küche. Im zweiten Akt erlebt man dieselbe Stunde aus dem Schlafzimmer: Man hört draußen die Söhne den Kuchen backen und den überforderten Vater herumflüstern. „Drinnen aber habe ich meiner Mutter einen Monolog geschrieben. Und konnte ihr so endlich vergeben.“ Schulman wirkt glücklich. Und muss dann zurück. Zur Probe. In die eigene Vergangenheit. Und in die seiner Mutter, auf der anderen Seite der Tür.
Er geht lange zu
einem Therapeuten,
um seine Traumata
aufzuarbeiten
Ein Literaturstar in Schweden und nun zum dritten Mal ins Deutsche übersetzt: Alex Schulman.
Foto: Henrik Montgomery/IMAGO/TT
Alex Schulman: Endstation Malma. Roman. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. dtv, München 2023. 320 Seiten, 23 Euro.
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